Sonntag, 30. Dezember 2007

Missverständnisse am Jahresende

Heute habe ich meine weiße Jeans gewaschen, denn es ist ausnahmsweise mal tagsüber reichlich Wasser aus der Leitung gesprudelt – nachdem es in den letzten Wochen immer nur nachts oder morgens bis maximal 5 Uhr und meist nur spärlich getröpfelt hatte. Der Wassermangel ist hier jeden Sommer ein Problem, obwohl doch angeblich auf das brasilianische Amazonasgebiet als der größte Wasserlieferant des Planeten die meisten anderen Ländern der Welt begehrlich schauen. Die würden das Amazonaswasser – wenn sie es denn hätten - vermutlich problemlos in ihre entfernten Heimatländer schaffen, während es hier quasi um die Ecke dauernd nicht ankommt. Aber es geht mir mehr um die Hose. Denn morgen ist der letzte Tag des Jahres: Silvesternacht, in der jeder angemessen angezogen sein will, und das bedeutet in Brasilien weiße Kleidung.

Im ersten Jahr hier habe ich das nicht gewußt, und damit ging ein denkwürdiger Abend los. Weil mein damaliger Freund ein eher schweigsamer Typ war, rückte er mit der Info der weißen Klamotten erst am Abend des 31. heraus, nachdem er selbst sich in seine weiße Jeans und ein ebensolches Hemd gewandet hatte – die er beide sonst nie trug. Leider war es da zu spät, noch ein kleines Weißes für mich einzukaufen. „Schwarz geht auch“, sagte der Mann. Dass das eine Trost-Lüge war, merkte ich wenig später auf der Straße, auf dem Weg zu Bekannten, die uns eingeladen hatten. Niemand trug Schwarz. Niemand trug irgendwelche dunklen Farben. Nur ich.

Bei den Bekannten handelte es sich um ein trinkfreudiges Pärchen um die 45 mit zwei Kindern im Teenie-Alter. Sie wohnten in einem Haus in Klotzform mit Gittern vor den großen Terrassen und Balkonen. Die Dame des Hauses bat uns an einen niedrigen Tisch im ansonsten übersichtlich möblierten Wohnzimmer: ein Regal mit TV und Stereoanlage, ein anderes mit einer Sammlung alkoholischer Getränke. Es lief eine Silvestershow ohne Ton und eine Platte mit Brasil-Pop. Der Herr des Hauses bot mir entweder Whisky oder Cola-Zuckerrohrschnaps an, und da ich von Whisky Kopfschmerzen bekomme, wählte ich die zweite Möglichkeit.

Auf dem Tisch standen auch diverse Platten mit kaltem Truthahn, diversen Salaten, Früchten, Linsengerichten und anderem. Aber davon rührte niemand etwas an. Die Bekanntschaft war eher flüchtig, mein Portugiesisch eher dürftig, und mein Begleiter wie gesagt eher schweigsam. Also nippte ich an meinem Getränk und versuchte den Ausführungen der Dame des Hauses über Kindererziehung zu folgen. Besonders viele eigene Ideen zu dem Thema habe ich nicht eingebracht. Zum einen, weil ich keine Kinder habe, zum anderen, weil mein ohnehin karges Portugiesisch durch den Genuß mehrerer großzügig gemixter Longdrinks nicht gerade flüssiger wurde. Irgendwann rauschte die Stimme der Bekannten für mich nur noch als ein weiteres Hintergrundgeräusch neben der Musik und ich konzentrierte mich vor allem darauf, ein lautes Knurren meines Magens zu unterdrücken und nicht allzu begehrlich auf die Speisen zu starren. Warum zum Teufel bot mir hier niemand etwas zu essen an? Es ging langsam auf Mitternacht zu, ich war halb verhungert und mehr als halb betrunken. Waren die ganzen Leckerein nur zu Dekozwecken angerichtet und würden hinterher kollektiv in den Müll wandern?

Um kurz nach Mitternacht, als wir auch noch mit Sekt angestoßen und vom Dach aus einige wenige Leuchtraketen und ganz viele Böller bestaunt hatten schnitt der Hausherr endlich den Truthahn auf. Für mich war da alles schon zu spät, ich traute mich längst nicht mehr, in meinen mißhandelten Magen feste Nahrung zu verfügen. An alle Details der restlichen Nacht kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, dass dieses Silvester erst in der schon heißen Sonne am nächsten Morgen endete, weil wir am Strand eingeschlafen sind. Irgendjemand hatte uns eine Flasche Rum in die Hand gedrückt mit den Worten: Nehmt, ich kann nicht mehr. Wir konnten auch nicht mehr, tranken trotzdem willenlos weiter und deswegen habe ich sogar darauf verzichtet, das neue Jahr mit dem ebenfalls traditionellen Bad im Meer zu beginnen. Bei jemandem, der Schwarz trug, kam es darauf vermutlich auch nicht mehr an.

Das ist ein paar Jahre her und inzwischen weiß ich, dass die Unterschiede zwischen brasilianischer und europäischer Kultur viel vielfältiger sind, als ich damals auch nur geahnt habe. Zum Beispiel: Während wir an Silvester gerne über die Zukunft orakeln, Blei gießen und Karten legen, versuchen die Brasilianer lieber, gleich positiv Einfluß auf die Zukunft zu nehmen. Dafür gibt es reichlich Möglichkeiten – von denen nicht mal das einladende Pärchen von damals alle kannte. Denn das Mitternachtsmahl, das weniger der materiellen Ernährung als der spirituellen Glücksbeschwörung just zum Zeitpunkt des Jahreswechsels dient, sollte nicht unbedingt Geflügel enthalten: Hühner, Truthähne und Co scharren nämlich rückwärts und können so Rezessionen verursachen. Empfehlenswerter sind Fische oder Schweine - die nach vorne schwimmen oder rüsseln. Linsen bringen Wohlstand, wer Trauben ißt und deren Kerne hinter sich wirft, darf sich etwas wünschen, Granatäpfel garantieren Geld und Glück, und das Bad im Meer reinigt von allem Dreck des vergangenen Jahres.

Diesmal stimmt bei mir wenigstens die Kleiderfarbe. Ob ich die anderen Glücksbringer alle auf die Reihe bekomme, weiß ich nicht. Ich werde weit weg von zuhause und meiner eigenen Glücksküche sein. Weil am Strand von Boa Viagem Marina Lima singt. Kostenlos. In Boa Viagem, dem Strandviertel von Recife, soll das Silvester ansonsten ganz besonders spießbürgerlich sein, mit geschmückten und bespaßten abgeschlossenen Feierabteilen für die Wohlhabenden und ambulanten Grillspießstationen für die weniger Wohlhabenden – getrennt durch Kordeln und Sicherheitsbeamte und vollkommen anders als die berühmte klassen- und religionsübergreifende Feier am Strand von Rio. Um eine Einladung in eine der schicken Feierzonen haben wir uns nicht gekümmert. Bleibt: Sekt mitnehmen, warm trinken, Snacks knuspern, Marina Lima hören und auf den garantiert gräßlichen Kater am Neujahrstag pfeifen. Wenn ich den überwunden habe, melde ich mich wieder. Bis dahin Prosit Neujahr!

Mittwoch, 26. Dezember 2007

Pfeif' doch woanders!

Die Deutschen haben wohl mehr Patente angemeldet, dafür haben die Brasilianer womöglich mehr Berufe erfunden. Erfindungsreichtum hat hier schon so manchen über Wasser gehalten. Von der in „Central do Brasil“ dokumentierten Briefeschreiberin über Stehgreif-Bänkelsänger (ok, die gab es auch schon im Mittelalter bei uns) bis zum Briefumschlagzukleber reichen die Professionen, mehr oder weniger legal und meistens an der Steuerbehörde vorbei – aber jede mit Sinn und Zweck und einem Einkommen zum Auskommen.

Hier im Dorf-Grossraum gibt es außerdem den Mann mit der Trillerpfeife. Der hat sich mit einer Minimal-Investition einen Lebensunterhalt geschaffen. Geschäftsgüter sind: eine Trillerpfeife und eine schwarze Weste mit gelber Aufschrift: Wachmann. Auftraggeber: Niemand. Der Mann mit der Trillerpfeife erfüllt einen Auftrag, den er selbst sich gegeben hat. Nacht für Nacht läuft er durch Gassen und Strassen, über Wege und Pfade, schaut nach Dieben und deckt dabei einen Radius von geschätzten drei bis vier Quadratkilometern ab. Damit seine Nachtaktivität nicht unbemerkt bleibt, bläst er ab und an heftig in seine Trillerpfeife. Wo es Hunde gibt – und das ist hier beinahe in jedem Haus der Fall -, fühlen die sich in ihrer Aufgabe als Wachhunde beleidigt und lassen dementsprechend ein wütendes Gebell los, wenn die Pfeife vorbei kommt. Letztens hat das Gebell eine gute halbe Stunde gedauert, bevor ich wieder einschlafen konnte.

Was das Trillern sonst noch bringt? Vielleicht treibt es Diebe in Flagranti zur Eile an, damit sie sich den Wachmann nicht zum Zeugen machen, den sie sonst womöglich vorsichtshalber wegpusten müssen. Dass so ein Trillern und ein einsamer Mann in der Nacht tatsächlich irgendeinen Einbrecher vom Einbrechen abhalten kann, ist wohl eher unwahrscheinlich. Ich bin nicht mal sicher, ob er wirklich jede Nacht unterwegs ist – meistens schlafe ich durch und höre sein Trillern gar nicht. Der Job mag einer der wenigen ohne Sinn und Zweck sein – lukrativ ist er trotzdem.

Jeden Sonntag – wenn die meisten Menschen zuhause gemütlich beim Grillen und Biertrinken beisammen sitzen – macht der selbsternannte Wachmann eine Zusatzrunde zum Geldeintreiben. Dabei klopft er sicher bei mehr als 100 Häusern an – wenn er in jedem einen Mindestspendenbetrag von nur einem Real einsackt, schafft er es auf mehr als einen Mindestlohn im Monat. Bei manchen scheint er allerdings eher Sachspenden in Form von Bier zu bekommen, denn wenn er hier auftaucht, ist er meist schon nicht mehr ganz sicher auf den Beinen.

Macht nichts, denn ich drücke ohnehin nur den Durchschnitt. Monatelang habe ich sein: „Ich bitte um einen kleinen Unkostenbeitrag für die Sicherheit“ mit den gleichen Worten abgeschmettert: „Die Hausbesitzerin wohnt oben!“ Letztens machte mich wütendes Hundegebell darauf aufmerksam, dass der motorisch etwas eingeschränkte Mann bis auf meine Terrasse getorkelt war, ohne dabei gleichzeitiges Artikulieren von Worten auf die Reihe zu bekommen. Besoffenen Überraschungsbesuch fanden weder die Hunde noch ich besonders schön. Während sie den Mann langsam aber sicher in den Rückwärtsgang zwangen, bellte ich ihm leicht genervt entgegen: „Ich pfeif’ auf deine Sicherheit! Ich schlafe lieber! Pfeif’ doch woanders!“

Dann fiel mir auf: Dafür würden womöglich viel mehr Leute gerne viel mehr zahlen - dass er woanders pfeift als vor ihrem Haus. Darauf muß er aber selbst kommen, das verrat ich ihm nicht.

Sonntag, 23. Dezember 2007

Helft den Notleidenden!

Nein, dies ist kein Spendenaufruf für das „Null-Hunger“-Programm. Armut bedeutet ja nicht ausschliesslich: nichts zu essen haben, und notleidend sind nicht nur Menschen.

Seit Donnerstag wissen wir, wer ganz besonders hilfebedürftig ist in diesem Land: das MASP, Kunstmuseum in Sao Paulo, das die größte und wichtigste Sammlung von ganz Lateinamerika beherbergt. Seit Donnerstag beherbergt es zwei Kunstwerke im Wert von zusammen rund 100 Millionen Reais weniger. Nach mehreren mißglückten Anläufen - einmal versuchten Räuber, die Sicherheitsbeamten zu überwältigen, ergriffen dann aber die Flucht, zuletzt im Oktober fanden Reinigungskräfte einen Brenner, der vermutlich bei einem weiteren mißglückten Einbruchversuch zurückgeblieben war – brauchten drei maskierte Männer am Donnerstag nur drei Minuten, um aus verschiedenen Sälen im zweiten Stock des Museums einen Picasso und einen Portinari zu entwenden.

Natürlich hat das MASP ein Sicherheitssystem – auch wenn Gitter vor den Fenstern aus Gründen des Denkmalschutzes nicht gestattet sind. Allein, das System ist ein eher prekäres. Und in den Sälen, in denen die Meisterwerke hingen, war zudem aus Gründen der Sparsamkeit das Licht ausgeschaltet. So blieben vom Raub des Picasso und des Portinari nur lückenhafte Filmsequenzen, in denen die Diebe als Schemen erscheinen. Bislang ist der Fall ungelöst. Die Polizei vermutete zunächst, es könne sich um eine Art Entführung handeln, doch Lösegeldforderungen blieben aus. Vermutlich legt sich einfach morgen ein wohlbetuchter Sammler zwei ganz besondere Weihnachtsgeschenke unter seinen Baum.

Mit einem Sammler hat das MASP auch einmal angefangen, vor mehr als 50 Jahren. Kunstförderer Assis Chateaubriand hat das Museum zusammen mit dem Kritiker Pietro Maria Bardi damals gegründet – mit mühsam gesammeltem Spendengeld haben sie die bedeutendste Sammlung des Kontinents zusammengetragen. Das MASP ist nämlich keine staatliche, sondern eine private Sammlung. Der seit vielen Jahren die Geldgeber fehlen. Deswegen wird es nach Weihnachten auch seine Türen wieder öffnen, ohne das Sicherheitssystem irgendwie verbessert zu haben.

Zum einen gibt es in Brasilien weder eine Tradition, noch eine neue Tendenz der großen Spender – wie etwa in Europa und den USA (man denke an Reemtsma, Gates und andere). Zum anderen interessiert sich kaum jemand für notleidende Kulturinstitute – frei nach Brecht: Erst kommt das Fressen.

Dafür ist in diesen Tagen allerdings gesorgt: Im Programm „Weihnachten für alle“ – werden jetzt ganz besonders viele Lebensmittel an die Armen verteilt. Sie müssen ja nicht unbedingt auch noch wissen, wer Picasso und Portinari sind. Oder?

* Candido Portinari ist einer der berühmtesten brasilianischen Maler der Moderne (er starb 1962), zu seinen Motiven gehörten soziale Themen wie die vor der Dürre fliehenden Landbewohner des Nordostens, er selbst kam aus einer einfachen Familie und besuchte nur die Grundschule.

Mittwoch, 19. Dezember 2007

Frohe Botschaften für den Adventskalender

Erinnert sich noch jemand an Adventskalender? Die mit den kleinen Türchen zum Aufmachen? Manche hatten dahinter nur bunte Bildchen zu bieten, andere immerhin Milchschokolade –die besten waren eindeutig die mit dem Säckchen für jeden Tag, mit Marzipankartoffeln, Lebkuchenherzen, Mandelplätzchen und anderen Leckereien. Hier bekommt man im Advent bestenfalls trockene Panettone geschenkt. Deswegen stecken in meinem brasilianischen Adventskalender statt Süßigkeiten frohe Botschaften: für jede Woche eine.

Die erste frohe Botschaft ist ganz offiziell und kommt von der UNO. Im diesjährigen Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen ist Brasilien zum ersten Mal unter der Gruppe der „entwickelten Länder“ aufgeführt – zwar auf einem der hintersten Plätze, aber immerhin. Die Vereinten Nationen messen die „menschliche Entwicklung“ anhand von Lebenserwartung, Schulbildung und Wohlstand. Die Erhöhung der Lebenserwartung von 70,8 auf 71,7 Jahre hat der Präsident nicht als persönlichen Erfolg verbucht. Der Wohlstand hat sich dank Lula mindestens für die mehr als 11 Millionen Familien verbessert, die staatliche Sozialhilfe in Form der „Bolsa Familia“ beziehen – auch wenn das für manche weniger als 10 Euro im Monat sind. Die Schulpflicht erfüllen seit Lula auch mehr Kinder als vorher – nicht zuletzt, weil die Bolsa Familia nur ausgezahlt wird, wenn alle Kinder regelmäßig zur Schule gehen. Zusammengefaßt ließe sich also sagen, dass die Bolsa Familia Brasilien zu einem menschlich entwickelten Land gemacht hat.

Die zweite frohe Botschaft ist ebenfalls offiziell und lautet, dass alle brasilianischen Haushalte an das öffentliche Abwassernetz angeschlossen werden sollen. Bislang sind das nämlich nur knapp über die Hälfte – die anderen nutzen hausgemachte Sickergruben oder Improvisationslösungen. Das Programm zur flächendeckenden Abwassernetz-Einführung gehört nicht zu den dringendsten Prioritäten der Regierung (so wie etwa die Bekämpfung des Hungers). Gehen die Arbeiten im Abwasserbereich im bisherigen Tempo weiter, werden im Jahr 2122 alle Brasilianer angeschlossen sein. Die menschliche Entwicklung soll das aber nicht stören.

Die dritte frohe Botschaft sind eigentlich zwei - aus verschiedenen Bundesstaaten, die in letzter Zeit Schmach und Scham erleiden mußten. Im Pará blieb die Minderjährige L. wochenlang in einer Zelle mit 30 Männern eingesperrt – als der Fall bekannt wurde, gab das häßliche Schlagzeilen und Schelte für die Gouverneurin. Es gebe kein Frauengefängnis vor Ort, hieß die offizielle Erklärung. So etwas wird nicht mehr vorkommen. Nicht in dem Gefängnis von Abaetetuba jedenfalls. Denn das wird abgerissen. Frei nach dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn. Das Motto scheint auch den Regierenden von Bahia zu gefallen. Dort ist kürzlich – just nachdem Brasilien als Austragungsland der WM 2014 bestätigt wurde – eine Tribüne des vollbesetzten Stadions Fonte Nova bei einem Endspiel eingestürzt: sieben Tote, dreißig Verletzte. Passiert ist passiert, also nicht lange nach Schuldigen suchen, sondern: Weg damit! Auch das Stadion Fonte Nova soll abgerissen werden. Schnell, konsequent effizient.

"Weg damit“ ist selbst ein schönes Motto und könnte glatt über der vierten und schönsten frohen Botschaft stehen. Die kommt aus dem Senat und lautet: Die CPMF wird nicht verlängert. Die seit beinahe 15 Jahren immer wieder verlängerte „vorläufige“ Steuer auf den Geldverkehr hat seitdem wiederholt für Streit, Intrigen und Polarisierung gesorgt: Das Volk wollte sie nicht mehr zahlen, die Politiker wollten nicht ohne die genehmen Zusatzeinnahmen leben. Angeblich hat sogar der vielfach krimineller Taten beschuldigte Senatspräsident sich nur deswegen so lange im Amt halten können, weil er versprochen hatte. Stimmen für eine weitere Verlängerung der Lieblingssteuer der Regierung zu besorgen. Hat alles nicht geklappt Leute. Keine CPMF in 2008. 40 Milliarden Reais weniger in der Staatskasse. Das heißt: 40 Milliarden Reais mehr in unseren Kassen – solange keinem Schlaumeier einfällt, eine andere Steuer zu erfinden. Dafür lassen sich Unmengen Marzipankartoffeln, Lebkuchenherzen und Plätzchen kaufen! Besser als jeder Adventskalender. Sogar besser als der mit den Säckchen.

Freitag, 14. Dezember 2007

Brutale Gewalt gegen selige Sängerinnen

Die Gläubigen hier sind eine Plage. Jeder kann glauben, was er will, keine Frage. Und dass hier im armen Nordosten Glauben besonders Not tut, ist leicht verständlich. Warum aber können die Priester der diversen religiös inspirierten Gemeinschaften von den Pfingstkirchen bis zu den Zeugen Jehovas sich nicht in einem geschlossenen Raum treffen, wie andere Religionsgemeinschaften auch? Oder ihren Open-Air-Gottesdienst wenigstens in menschenverlassenen Gegenden abhalten?

Tatsache ist, dass jedes noch so kleine Dorf zwar deutlich mehr Kirchengebäude als Schulen besitzt (letztens schallte mir lautstarkes „Hallelujah!“ sogar aus einer palmwedelgedeckten Lehmhütte mitten im Wald entgegen – die Hütte war eine Baptistenkirche), die Schafe Gottes sich aber trotzdem gerne irgendwo auf dem Bürgersteig zusammenfinden, um ausgiebig und zu bester Sendezeit zu loben und zu preisen und zu schimpfen. Üblicherweise bewaffnet sich der Priester mit einem Megafon und schmettert seine Überzeugungen jedem ungefragt ins Wohn- oder Schlafzimmer, der im Umkreis von 200 Metern wohnt. Dabei wird hart umgesprungen mit allen, die ihr Leben nicht augenblicklich unserem Herrn Jesus Christus überantworten, und jede Aussage bekräftigt durch ein gebrülltes Glória Deus.

Der andere Teil der wenig besinnlichen Andacht ist womöglich noch schlimmer. Er besteht aus Gesang. Der Herr ist offensichtlich deutlich großmütiger als ich: Er stört sich nicht daran, dass die berufenen Sänger jeden Ton umso lauter in die Nacht schreien, je weniger sie ihn treffen.
Vielleicht sind die Gläubigen ja auch alle ein wenig taub. Oder sie brauchen reichlich Lautstärke zur Befestigung ihrer noch wackeligen Überzeugungen.

Letztens zogen zwei religiöse Damen in die Nebenwohnung ein. Das erfuhr ich um halb sechs Uhr morgens, als in Partylautstärke eine christliche Wecksendung die Töpfe in meiner Küche zum Singen und mich in meinem Bett zum Kochen brachte. Wenig später wechselte das Programm von Erwachet! auf ein Kinder-ABC-Lied. Bis zum fünften „Piu-Piu-Piu“-Refrain hielt ich still. Dann malte ich mir mein weiteres Leben mit diesen Nachbarinnen aus und ging zu meiner Vermieterin, um ihr vorsichtig zu erklären, dass ich am Schreibtisch mein Geld (und ihre Miete) verdiene, was bei Piu-Piu-Beschallung ab halb sechs Uhr morgens eindeutig gefährdet sei. Fátima ist eine freundliche und verständnisvolle Person. Sie erklärte den Neu-Mieterinnen höflich und bestimmt die Lage, und fünf Minuten später war Ruhe. Zwei Minuten lang. Dann hub eine der Religiösen an, im Vorgarten Wäsche zu waschen und dabei zu singen. Ganz in der Tradition der schallend schiefen Töne und kein bißchen leiser als vorher das Radio gedröhnt hatte. Ich gebe zu, dass ich in den nächsten Minuten an allerlei Unchristliches dachte, von Ich-brauche-dringend-eine-Stinkbombe über Woher-bekomme-ich-eine-CD-von-Black-Sabbath bis zu Wenn-das-so-weitergeht-werde-ich-zur-Amokläuferin.

So weit kam es Gott-sei-Dank nicht. Kurz bevor ich der seligen Sängerin ins Gesicht sprang, erhob sich eine Männer-Stimme aus dem Nachbarhaus. „Schluss!“ donnerte die Stimme. „Und zwar sofort! Wenn diese Verrückte noch eine Minute länger die Welt mit ihrem Gejaule stört, komm ich rüber und regele die Sache!“ Augenblicklich trat Stille ein. Wenig später hörte ich die Damen sich bei Fátima beschweren. Noch ein wenig später trugen sie ihre Siebensachen an meinem Fenster vorbei – sie zogen wieder aus.

Nicht dass ich es befürworte, wenn Männer brutal ihre Stimme erheben, um gegen Frauen vorzugehen. Grundsätzlich bin vollkommen gegen ein solches Verhalten. In diesem Fall war ich allerdings geradezu dankbar für die Brutalität. Eine echte Plage läßt sich eben nicht durch höfliche Bitten vertreiben.

Samstag, 8. Dezember 2007

Jo Soares und die dummen Zossen

Man muß Jô Soares nicht mögen. Er läßt die Leute oft nicht zu Wort kommen vor lauter Selbstverliebtheit, ist übergewichtig bis weit über die Grenzen des guten Geschmacks, und hat schon so oft seine Show gemacht, dass er Vorbereitung auf seine Late-Night-Interviews vermutlich für Schwachsinn hält. Erst recht, wenn er dumme Zossen einlädt.

Aber es geht hier erst mal nicht um die Vorurteile des brasilianischen Möchtegern-Letterman. Wer sich dumm nennt, sind nämlich in diesem Fall die Frauen selbst. Angekündigt als die Vertreterinnen des Sites www.muleburra.com* betreten vier attraktive Frauen um die 30 die Szene. Eine der Burras ist immerhin blond, wozu Jô gerade noch ein schwächeren Blondinnenwitz einfällt. Wenig später schneidet er seinen Besucherinnen endgültig das Wort ab. Vielleicht sind sie ihm nicht dumm genug.

Immerhin hat er ihren Site genannt. Den gibt es seit 2004 – besucht haben ihn seitdem mehr als eine halbe Millionen Eselinnen und andere. Genau darum geht es den erklärten Dummerchen, als sie ihr Forum geschaffen haben: Den anderen Frauen zu zeigen, wie sehr wir alle Eselinnen sind. Ihr Motto ist der Machospruch: „Frauen sind dumm“. Nicht so dumm allerdings, wie Jô vielleicht erwartet hatte. Sondern dämlich, weil wir Frauen sind.

Muléburra.com zeigt, dass wir damit nicht allein sind. Quasi als Trost. Weil wir nicht ganz so dämlich sind, wie die 82jährige Argentinierin, die im Oktober einen 24jährigen heiratetet. Aus Liebe. Dafür wird sie bei Muléburra zur Eselin des Monats gekürt. (Der 24jährige ist übrigens inzwischen verwitwet und schreibt den Medien die Schuld für das plötzliche Ableben seiner Frau zu – sie hatten das Paar selbst in den Flitterwochen in Rio nicht in Ruhe gelassen) Oder weil wir irgendwann alle schon mal genauso dämlich waren, wie Bucéfala - eine der vier Macherinnen – die sich als Teenie von einem Angeber zu großer und bald nur noch schmerzlich enttäuschter Liebe beschwatzen ließ. Eselin eben.

Darin unterscheiden sich offensichtlich Brasilianerinnen im Nordosten nicht von denen in Sao Paulo oder von ihren europäischen Esels-Kolleginnen: Unter dem Titel Liebe begehen sie die größten Absurditäten – wie die regen Kommentare zu den Beiträgen des Sites zeigen. Nur: Bucéfala, Idiotilde, Jujumenta und Antania stehen zu dem, was sie ihre Dämlichkeit nennen. Und lachen darüber.

Da hätte der große Jô glatt noch was lernen können, von den dummen Zossen.

* Frau heißt auf Portugiesisch „Mulher“ – im schwach schulgebildeten Volksmund auch „mulé“ - und schwach schulgebildete Männermünder sind hier keine Seltenheit. Burra heißt dumm, aber auch Eselin.

Montag, 3. Dezember 2007

Lidiane, das rechtlose Luder

Haben Frauen Rechte? Sind Luder Frauen? Können Justizangestellte im Staatsdienst machen, was sie wollen, solange keiner zusieht?

Manche haben die Geschichte auf die Tränendrüsenschiene erzählt. Das Bild der Fünfzehnjährigen von eineinhalb Metern Größe und 35 Kilo Gewicht beschworen, deren Kinderkörper wiederholt brutal vergewaltigt wird. Andere haben die Kleine als Luder hingestellt. Eine Fünfzehnjährige, die schon seit Jahren auf den Strassen der Kleinstadt herumlungert, sich prostituiert und Drogen nimmt – stadtweit bekannt und überhaupt keine 15 sondern schon 20 Jahre alt. Wieder andere haben sich auf ihre Herkunft konzentriert: Eltern getrennt, Vater Kleinbauer, Mutter Hausfrau, die Tochter muß bei einem Onkel unterkommen, um eine weiterführende Schule besuchen zu können

Stimmt fast alles. Die 15jährige Lidiane ist zwar noch keine 20, aber sie ist kein braves Mächen und längst keine Jungfrau mehr. Sie treibt sich herum, anstatt in die Schule zu gehen und ist mit 15 nicht über die fünfte Klasse hinausgekommen. Alles richtig. Und offensichtlich Grund genug für die Beteiligten, Lidiane als rechtloses Luder anzusehen. Beteiligte, die Lidiane festnahmen, weil sie angeblich ein Handy gestohlen hatte. Obwohl sie bei ihr weder ein Handy fanden, noch jemand den Diebstahl eines solchen gemeldet hatte. Beteiligte, die Lidiane ins Gefängnis brachten, obwohl sie betonte, sie sei minderjährig. Und obwohl jeder der Beteiligten wusste, das es in Abaetetuba kein Frauengefängnis gibt

Das Ergebnis: Lidiane, 1,50 Meter, 35 Kilo, Gelegenheitsprostituierte, landete in einer Gemeinschaftszelle mit 30 Männern. Das fand wohl niemand weiter schlimm. Den Antrag auf ihre Verlegung in die Bundeshauptstadt – wo es ein Frauengefängnis gibt – stellte die Gefängnisleitung von Abaetetube jedenfalls erst zwei Wochen später, am 5. November.

Wer meint, dies sei das Werk gefühlloser Machos, irrt. Es waren Frauen, die Lidiane verhaftet und eingesperrt haben: Eine Polizistin und eine Richterin, die das Mädchen nach einer Befragung sogar wieder zurück schickte, in die gleiche Zelle.

Allerdings ist diese Zelle nicht nur von den Wächtern, sondern auch von der Strasse aus einzusehen. So kam es, dass Passanten und Anwohner zugucken konnten, wie die Männer Lidiane zum Sex zwangen. Es war für 30 erwachsene Männer nicht weiter schwierig, dem Mächen das Essen vorzuenthalten, wenn sie nicht mitmachte. Trotzdem schrie und wehrte sich das Luder. Bat Passanten um Essen und um Hilfe.Und mußte schließlich doch mit sich machen lassen. Weil die Männer ihr Zigaretten auf den Armen ausdrückten, Papierschnipsel zwischen den Zehen verbrannten, mit Schlimmerem drohten.

Der Onkel scheint sie in dieser Zeit nicht vermißt zu haben. Der Richterin scheint es nichts ausgemacht zu haben, was passierte. Die Polizistin scheint kein schlechtes Gewissen bekommen zu haben. Und die Angestellten des Gefängnisses scheinen kein Interesse oder keine Macht gehabt zu haben, etwas zu ändern. Drei Wochen dauerte es, bis die Passanten an dem Schauspiel satt gesehen hatten: Irgend jemand erstattete anonym Anzeige bei der Staatsanwaltschaft und beim Jugendschutz.

Lidiane wurde freigelassen. Und die Presse fing an, Fragen zu stellen. Ana Júlia Carepa, seit elf Monaten Gouverneurin des Pará, erklärte die Vorkommnisse zunächst damit, dass es ganz normal sei in den Gefängnissen ihres Bundesstaates, Frauen und Männer zusammen zu legen. Dann fiel ihr verspätet auf, wie wenig elegant das klang, und sie schob eine Presseerklärung nach: Sie lehne jede Form der Gewalt ab und konnte nur deswegen die Praxis der gemischten Zellen nicht abschaffen, weil der Pará so gross sei. Hat sie nicht daran gedacht, dass der Rückschluß lautet, an den Zuständen wird sich auch künftig nichts ändern, weil der Pará ja auch in Zukunft nicht kleiner wird?

Inzwischen wurde die Polizistin vom Dienst suspendiert, die Lidiane eingesperrt hatte. Wie ihre Bestrafung aussehen wird, weiß noch niemand. Das Mädchen und ihr Vater mussten derweil anonym in einen anderen Bundesstaat gebracht werden, weil Polizisten den Kleinbauern so massiv bedroht hatten, daß er um sein Leben fürchtete. Nach vierzig Tagen wird geprüft, ob eine Rückkehr in ihre Heimat möglich ist. Was dann aus Lidiane wird? Zurück zum Onkel, auf die Strasse?

Lidiane hat es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Vielleicht bringt ihr das eine Sonderbehandlung sogar nach ihrer Rückkehr. Aber Lidiane ist nicht allein. Ähnliche Fälle, so die Staatssekretärin für Öffentliche Sicherheit, kommen sogar im Süden des Landes vor, wo die Gefängnisse deutlich besser ausgestattet sind. Die werden sicher nicht alle Schlagzeilen machen.

Mittwoch, 28. November 2007

Der Vollmond über der Wüste

Wir sitzen erschöpft am Fuß einer Düne und stellen uns allmählich darauf ein, an exakt dieser Stelle zu übernachten. Laken haben wir immerhin dabei. Nur das Wasser ist etwas knapp. „Ich geh’ welches besorgen“, sagt César unser Guide – ganz Herr der Lage – und verschwindet in der Nacht.

Wir sind dabei, die Lencois Maranhenses zu Fuß zu durchqueren, Brasiliens einzige Wüste, im nördlichen Nordosten direkt am Meer gelegen, gut 155 Hektar gross und voller Sanddünen, cremeweiß wie Sahnehäubchen und erstaunlich fest unter unseren nackten Füssen. Heute haben wir beschlossen, bis in die Nacht zu wandern, weil der Vollmond so unwiderstehlich scheint. Er taucht die Dünen in sein milchiges Licht, bis die Landschaft aussieht wie auf einem anderen Stern.

Der Haken dabei: Im Vollmond werden die Sandformationen auf rätselhafte Weise nahezu zweidimensional: es ist nicht mehr erkennbar, wo es abwärts geht und wo eine Sandmauer droht, wie weit eine Kluft entfernt ist oder ob sie nur eine Luftspiegelung ist. So kommt es, dass wir hier an der Düne gelandet sind, anstatt uns wie geplant in einem Dorf am Fluß in Hängematten in den Schlaf zu schaukeln. Es ist nicht kalt, der Wind übt noch für die eisigen Songs, die er später pfeifen wird. Aus dem weichen Sand krabbelt schon mal ein freches Insekt und beisst mich als Kostprobe ins nackte Bein.

Ob César gerade in einer Niederung im Sand buddelt, bis er auf Wasser stösst? Sandiges gelbliches Moderwasser womöglich? Klappe halten, Gedanken. Auf die positive Seite der Lage konzentrieren: Den Vollmond zum Beispiel. Die wunderbare Stille, Die ersten Sterne da oben. Na also, geht doch. Nahezu meditative Stimmung breitet sich aus, und eine Nacht im Sand scheint immer weniger schlimm – bis irgendwo eine Meute wütender Hunde anfängt zu bellen.

Moment mal, Hunde? Wo es Hunde gibt, leben Menschen. Optimistisch schütten wir verschwenderisch unsere letzten Schlucke Trinkwasser in die Kehlen und warten auf Césars Rückkehr. Triumphierend zwei frisch gefüllte Wasserflaschen schwenkend taucht er irgendwann auf und macht sich daran, sein Nachtlager mit Sand zu polstern. „Der Typ hatte mindestens 500 Hunde!“, erklärt er grosspurig, und erwähnt nur beiläufig: „Der Besitzer war da allein mit ’nem kleinen Mädchen, er hätte uns sogar eingeladen, dort zu übernachten.“

Hätte? Und wo liegt das Hindernis? Vermutlich hat er keine vier zusätzlichen Hängematten für uns Überfallgäste? „Doch, doch, hat er“, sagt César. Worauf warten wir dann noch? Drei Minuten später sind wir im Paradies. Vorbei an Bananenstauden und Tomatenpflanzungen auf Stelzen gelangen wir in ein geräumiges Haus, dessen Dach und Wände aus den fächerförmigen Wedeln der Buriti-Palme bestehen. Seu Nemézio leuchtet uns mit seiner Kerosinlampe den Weg bis ins Wohnzimmer, das wir mit einem Haufen struppiger Kokosnüsse teilen. Er stellt die Lampe auf dem buckeligen Zemenfussboden ab und sucht im dunklen Rest des Hauses alle Hängematten zusammen. Entschuldigt sich, weil eine davon nicht aus Stoff, sondern aus den Fasern der Buriti-Palme gemacht ist. Sie mag vielleicht weniger angesagt sein, hier in den Lencois, aber die Buriti-Matte schmiegt sich beim Probeliegen ganz besonders kuschelig an meinen müden Körper.

Geschäftig pumpt Seu Nemézio schon im Vorraum eimerweise Wasser für unser Bad aus dem Brunnen hoch und schleppt den vollen Bottich nach draußen auf die Lichtung vor seinem Haus mitten ins Mondlicht. Die beiden Männer bleiben diskret im Haus, während wie drei Mädels unsere Klamotten von uns werfen und Schöpfbecher um Schöpfbecher frisches kühles Wasser über unsere Köpfe ausleeren. Nach dem Bad bleiben wir einfach stehen und lassen uns vom Wind trocknen. Danach schaukeln wir im Wohnzimmer leise in unseren Hängematten, und ich kann mir nicht vorstellen, dass irgend jemand in diesem Moment glücklicher ist als wir.

César und der Hausherr plaudern noch ein Weilchen im goldenen Licht der Kerosinlampe, bis Seu Nemézio sich verabschiedet, weil „die jungen Leute sicher müde sind vom Wandern“. Er verzieht sich in sein durch Palmwedelwände abgetrenntes Schlafzimmer und dreht das batteriebetriebene Kofferradio leiser, um die Gäste nicht zu stören. Nichts weist darauf hin, dass er sich gestört fühlen könnte, von diesem nächtlichen Überfallkommando. Kopfzerbrechen scheint ihm nur zu bereiten, dass er keinen Kaffee da hat – für das Frühstück. Wie lebt wohl einer hier, am Rand der Dünen. Ohne Strom und fließendes Wasser, ohne Kramladen und Telefon? Wie sieht wohl einer aus, der Fremden mitten in der Nacht bereitwillig seine Tür aus Buriti-Stäben öffnet? Erst morgen früh werden wir unseren Wohltäter bei Tageslicht sehen können.

Montag, 12. November 2007

Rechtschreibung für Räuber

Eigentlich konnte gar nichts schief gehen. Schliesslich waren die Männer Profis. Hatten kürzlich einer Sicherheitsfirma flott mal zehn Millionen abgenommen, und davor den Geldtransporter einer Bank um eine noch höhere Summe erleichtert - noch bevor das Geld überhaupt in den Transporter gelangen konnte. Die gesammelte Beute hätte locker für eine Rente auf Lebenszeit gereicht. Für alle. Doch da gab es noch diese unfehlbare Idee.

Am letzten Donnerstag sollte der neue Coup laufen. Alles war akribisch geplant. Die Männer hatten bei einem der edelsten Feinkostläden von Sao Paulo Weihnachts-Geschenkkörbe bestellt, ordentlich bezahlt und abgeholt. Dann hatten sie sich einen weißen Fiat-Kastenwagen gekauft – genau so einen, wie der Lieferservice der Edelnahrungsmittel ihn benutzte. Schliesslich hatten sie einen Aufkleber mit dem Firmenschriftzug auf den Wagen geklebt und sich selbst T-Shirts mit der gleichen Aufschrift bedrucken lassen. Im exakt richtigen Grün-Ton, in exakt der richtigen Größe und Schrift und überhaupt sehr professionell gemacht.

Damit wollten sie sich Zugang zu einem der wie Hochsicherheitszonen geschützten Wohnblock der besseren Sorte verschaffen: Als harmlose Lieferanten von Panettone und Co. Sie waren überzeugt, dass die Investition in die italienischen Kuchen sich lohnen würde, um an die Safes der wohlhabenden Wohnblockbewohner heran zu kommen.

Bis vor den Wohnblock kamen die Männer. Dann hielt sie eine Polizeistreife an. Verlangte, das Wageninnere zu sehen. Und fand dort neben Panettone und anderen Leckereien zwei Gewehre, ein MG, zwei Pistolen, Werkzeug zum Safe-Aufbrechen, zwei schußsichere Westen, zwei nachgeahmte Polizei-T-Shirts, sechs Funkgeräte, eine extrem leistungsstarke Taschenlampe und acht Handys.

Das waren Beweismittel genug: Statt in die Luxussuite kamen die Männer allesamt in den Knast. Mehreren von ihnen war die Polizei schon länger auf der Spur gewesen. Ein einziger Buchstabe hat ihnen letzte Woche den Coup und die Zukunft verpatzt. Beim Klonen des Lieferwagens war ihnen ein Fehler unterlaufen. Statt „Emporio“ – wie der Original-Firmenname lautet, hatten sie „Imporio“ auf ihrem Wagen stehen. Und wie um zu beweisen, dass es sich nicht um einen Flüchtigkeitsfehler handelt, sondern um echtes Unwissen, steht konsequent auch auf T-Shirts und in der Internetadresse das verflixte I. Der Polizeichef meint dazu: „Operational sind die Jungs wirklich gut. Aber grammatikalisch dafür entsetzlich schlecht.“

Steuern für die WM?

An dem Abend, nachdem die Fifa verkündet hatte, dass Brasilien der Austragungsort der WM 2014 sein wird, sass ich mit Freunden in einer Pizzeria. Obwohl kein ausgesprochener Fußballfreund dabei war, verbreitete sich eine kleine Euphorie, die nur leicht von Skepsis getrübt war. „Stell Dir vor, sogar hier in Recife wird WM sein, was da für Leute herkommen werden!“, sagte einer. „Ich finde es nur schade, dass Lula garantiert auch die WM an sich reißen wird, nach dem Motto: Ich bin der erste Präsident, der eine WM ins Land gebracht hat“, sagte ein zweiter. „Es ist schon toll, so internationaler Austragungsort zu sein, aber die 4 Milliarden Reais, die da investiert werden sollen, werden eben wieder nicht in Bildung und Infrastruktur und Gesundheitswesen fließen“, sagte ein dritter. Und ein vierter meinte trocken: „Na immerhin werden sie jetzt ganz bestimmt die CPMF durchbringen.“

Die CPMF mag in Deutschland kein bekannter Begriff sein – hier in Brasilien kennt sie jeder, der ein Konto hat, und wie die Regierung ohne sie da stünde, mögen sich die Politiker gar nicht vorstellen. Im Jahr 2005 hat sie 29 Milliarden Reais eingebracht, 2006 waren es 32 Milliarden, und allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres bereits um die 10 Milliarden. CPMF heißt „Contribuição Provisória sobre Movimentação Financeira”, auf deutsch: Provisorische Steuer auf Finanzbewegungen. Das bedeutet: Wenn jemand eine Geldsumme auf sein Konto überwiesen bekommt, zahlt er darauf CPMF – der Überweisende hat für die Überweisung vorher allerdings auch schon CPMF gezahlt, und überweist jetzt der Empfänger seine Miete von diesem Geld, ist wieder CPMF fällig, ebenso wie für die überwiesenen Ratenzahlungen und für bar abgehobenes Haushaltsgeld. Nur wer seine Rente abhebt, sein Gehalt oder Arbeitslosengeld empfängt oder wer Aktiengeschäfte tätigt, muß dafür keine CPMF zahlen.

Mit der CPMF haben die Brasilianer etwas in mehrfacher Hinsicht Einmaliges geschaffen. Zum Einen ist die Steuer akkumulativ, das heißt, sie wird auf das gleiche Geld immer wieder fällig, etwa so, als müssten neben dem Endverbraucher auch der Produzent und sämtliche Zwischenhändler einer mehrwertsteuerpflichtigen Ware jeder einzeln immer wieder Mehrwertsteuer dafür bezahlen. Und außerdem ist die CPMF zwar dem Namen nach ein Provisorium, aber seit sie 1993 unter dem Namen IPMF (Imposto Provisório sobre Movimentação Financeira) erfunden wurde, ist sie so erfolgreich, dass sie zwar wie geplant, im Jahr 1994 abgeschafft wurde, aber schon 1997 unter dem neuen Namen auferstanden war.

Seitdem starren die Politiker gegen Ende einer jeden Melkperiode so lange begehrlich auf die provisorische Milliardenkuh, bis ihnen wieder ein guter Grund eingefallen ist, um sie weiter zu melken. Auferstanden ist die CPMF 1997 als Finanzspritze für das Gesundheitswesen. Dem ging es zwar 1999 noch nicht richtig gut, dennoch wurde als Grund für die nächste CPMF-Verlängerung die Füllung der Rentenkassen angegeben. Die Verlängerungsspannen werden immer großzügiger angesetzt, und das Thema CPMF-Verlängerung zu einem Machtkampf ohnegleichen.

Seit Monaten verhandeln die Mitglieder des Senats heftig über eine erneute Verlängerung – diesmal gleich bis 2011. Böse Zungen behaupten, der eindeutig illegaler Machenschaften überführte Senatschef Renan Calheiros sei nur deshalb nicht des Amts enthoben worden, weil Lula dessen Einfluss braucht, um seine Lieblingssteuer auch im Senat durchzubringen. (Die Abgeordnetenkammer hat schon zugestimmt). Die Abstimmung im Senat ist für den 9. November angesetzt.

Ich wage die Prognose, dass die Steuerverlängerung durchkommt. Die Stimmung ist einfach gerade so optimistisch. So: „Wir sind nach vierzig Jahren wieder WM, jetzt wird alles gut“. Als ich an dem entscheidenden Abend nach Hause kam, hatte mir jedenfalls das Fremdenverkehrsamt bereits eine Pressemitteilung geschickt, in der zu lesen ist, dass Brasilien allein wegen der WM mit mindestens einer halben Million zusätzlicher Besucher rechnen kann. Na also. Nur schade, dass die nicht alle brasilianische Konten eröffnen.

Samstag, 10. November 2007

Von der Rolle

Die USA und Brasilien haben wieder etwas gemeinsam. Nicht nur die Unkenntnis darüber, wo Brasilien geographisch anzusiedeln ist. In beiden wurden kürzlich Klopapier-Diebstähle publik.

In Rio ließ ein Mann gleich mehrere Rollen Toilettenpapier aus dem öffentlichen WC eines Sopping-Centers mitgehen. Der Mann war früher bei einer Reinigungsfirma angestellt gewesen – und wußte vielleicht deswegen, wo die Nachschubrollen aufbewahrt werden. Inzwischen war er arbeitslos, aber keineswegs zum geübten Dieb geworden. Anstatt die Diebesware ordentlich zu verstecken, lief er mit einem Karton unter dem Arm herum und verhielt sich dabei so auffällig, dass ein Wachmann des Einkaufszentrums ihn aufhielt.

Es half dem brasilianischen Dieb nichts, dass er den Wachmann von früher kannte. Es half ihm auch nichts, dass die paar Rollen Klopapier viel weniger wert sind, als allein der Polizeieinsatz kostet, um den Dieb abzuführen. Es half ihm erst recht nichts, dass der Arbeitslose erklärte, er hätte – bei gelungenem Raub – das Toilettenpapier verkaufen wollen, um Nahrungsmittel zu erwerben.

Ismael sitzt in Untersuchungshaft, bis sein Fall verhandelt wird. Die brasilianische Justiz gehört nicht zu den Schnellsten. Wenn jeder Klopapierdieb einsitzen muß, wird sich das auch kaum ändern. Andererseits gehen bekannterweise Politiker, denen weit schwerwiegende Taten nachgewiesen werden, gerne straffrei aus.

Im Regierungssitz von Fond du Lac in Wisconsin verschwindet seit einiger Zeit immer wieder Klopapier aus der Herrentoilette. Dies fiel einem der Regierungsmitglieder auf: Der aufmerksame Allen Buechel vertritt die These, dass der Papierdieb zweimal wöchentlich seine Raubzüge unternimmt. Irgendwann werde jemand den Mann in flagranti erwischen, hofft Buechel. Alle Kabinettsmitglieder sind aufgerufen, auf Verdächtige zu achten, auch wenn der Verlust gering sei, wie Buechel anmerkt: „Wir kaufen nicht die beste Qualität“.

Die zuständige Polizei wollte sich zu dem Fall nicht äußern, aber es muß angenommen werden, dass es sich bei dem US-Dieb um einen Politiker oder Angestellten im Regierungssitz handelt. Ob der, sobald er gefaßt ist, auch abgeführt und in den Knast gesteckt wird, wie sein Kollege in Rio?

Donnerstag, 8. November 2007

Mitten in Afrika

Ich lebe mitten in Afrika. Glauben jedenfalls zwei Prozent der Brasilianer. Vier bundesweite Bildungstests verursachen hierzulande jedes Jahr Schmach und Scham und Pein und große Diskussionen um eine Bildungsreform – so unterirdisch sind jedes Mal die Ergebnisse.

Kürzlich kam es noch schlimmer. Und schuld war nicht mal einer der üblichen Bildungstest, sondern die Untersuchung „Pulso Brasil“ (der Pulsschlag Brasiliens). Im Laufe des Puls-Tests sollten die Befragten ihr eigenes Land auf einer Weltkarte zeigen.

Jeder Dritte gab auf, ohne überhaupt zu versuchen, Brasilien zu lokalisieren – das größte Land Südamerikas, in das Deutschland locker 24mal hinein passen würde. Die Mutigeren aber ebenso Ahnungslosen rieten einfach drauflos. Zwei Prozent siedelten Brasilien im Kongo an, ein Prozent sah das Land des Samba und Fussball gar im Tschad.

Von denen, die immerhin in Südamerika suchten, lagen auch noch viele falsch: Sie verwechselten Brasilien mit dem kleineren Nachbarn im Süden: Argentinien. Man kann ihnen vielleicht zugute halten, dass die Formen der beiden Länder sich entfernt ähneln – auch wenn Argentinien nicht annähernd so viel Küste vorzuweisen hat. Ausserdem befinden sich die Irrenden in illustrer Gesellschaft: US-Präsident Reagan teilte einst bei einem Besuch in Brasília fröhlich mit, wie erfreut er sei, sich in Buenos Aires zu befinden.

Vermutlich kann auch das die Bildungsplaner nicht trösten, aber als ich vor Jahren beschloß, von Brasilien aus zu arbeiten, fragten viele deutsche Journalisten-Kollegen mich bewundernd, ob ich denn schon gut genug Spanisch könne. Für Journalisten ist es demnächst ohnehin egal, wo sie leben: Chicagoer Lokalnachrichten werden längst ebenso von Billigschreibern in Indien verfaßt wie Teile der Wirtschaftsnews von Reuters. Ich könnte vermutlich ebensogut mitten in Afrika leben, und hätte ganz ähnliche Geschichten zu erzählen. Könnte nur sein, dass die Leute im Kongo und im Tschad besser wissen, wo ihr eigenes Land liegt.

Dienstag, 30. Oktober 2007

Pobreme mit den Konsonanten

Letzte Woche haben mich meine beiden Beinahe-Söhne besucht. Sie sind zehn und acht Jahre alt, waren lange Jahre meine Nachbarn und haben damals oft mehr Zeit bei mir verbracht als bei ihrer Tante, bei der sie seit dem Tod ihrer Mutter leben. Jetzt dauert es vier Stunden Busfahrt, wenn sie mich besuchen wollen, und wenn sie hier sind, komme ich zu nichts, weil wir dauernd reiten gehen müssen, und Pizza backen und an den Strand zum Surfen.

Wie einer typischen Teilzeitmutter fallen mir erst mal alle Veränderungen an den beiden auf: Italo ist endlich der zweite Schneidezahn nachgewachsen. Polho wächst nur langsam, wird aber immer kräftiger, fast könnte man schon sagen pummelig. Und was mich tatsächlich etwas beunruhigt: Die beiden lernen offensichtlich gerade eine spezielle Version des Brasilianischen, die am ehesten vielleicht mit „Ultra-Brasilianish“ zu bezeichnen ist. So wie der Brasilianer Zé do Rock in den 90ern das „Ultra-Doitsh“ erfunden hat – eine in Grammatik und Rechtschreibung stark vereinfachte, aber in sich logische Version unserer ehrwürdigen aber furchtbar komplizierten deutschen Sprache.

Die beiden Knirpse stellen Ähnliches mit dem ebenfalls recht komplizierten portugiesischen Brasilianisch an. Für besser sagen sie „mehr gut“ und für größer folgerichtig „mehr groß“. Die Mehrzahl eliminieren sie völlig, die Verben verwenden sie weitestgehend in der dritten Person Singular. Überflüssige Silben lassen sie einfach weg, so wird aus liquidificador für Mixer „lificador“ - scheint ihnen wohl immer noch lang genug.

Da hört die Logik leider auf, und es folgt das komplizierte Kapitel der Konsonanten – die tanzen so wild, dass kaum ein R an seiner vom Wörterbuch vorgegebenen Stelle stehen bleibt. Ein Problem wird zum Pobrem, ein Fahrrad, bicicleta, zu briciqueta und so fort. Die R-Verschiebung ist mir hier im Nordosten schon vorher aufgefallen – nur passen bei den Knirpsen meine bisherigen Erklärungsversuche nicht ganz. Bisher hatte ich gerätselt: Hängen die Wort-Neubildungen mit den ähnlich weit verbreiteten Zahnlücken zusammen? Oder kommen die ungelenken Artikulationen vom ebenfalls reichlichen Zuckerrohrschnaps-Genuss hier im Nordosten? Spricht sich zahnlos oder betrunken leichter „Pordo“ für Fohlen als „Potro“ – die korrekte Variante? Aber wie steht es dann mit „Drobar“ für Abbiegen – wenn es korrekt viel einfacher „Dobrar“ heißen würde?

Hinzu kommt: Die Jungs haben weder Zahnlücken, noch trinken sie Alkohol. Damit scheint bewiesen, das Neu-Brasilianish - woher es auch kommen mag - wird an die Jugend weiter gegeben und verbreitet sich. Unklar bleibt: Ist dieses Wörter-Umbauen nun der kreative Beitrag des Volks zur Sprachentwicklung oder doch eher ein echtes Pobrem?

Sonntag, 21. Oktober 2007

Ein richtig prominenter Überfall

"Brasilien ist genau das, was Sie sehen!“, sagte kürzlich der ehemalige Präsident Fernando Henrique Cardoso – und wehrte sich damit dagegen, ein geschöntes Bild des Landes zu zeichnen. Natürlich sieht in Brasilien jeder etwas anderes, der eine lobt positive Wirtschaftsdaten, der andere kritisiert immer reichlicher vergebene Hilfen zum Lebensunterhalt und der dritte zitiert vielleicht unvermindert erschreckende Kriminalitätsraten.

In Sao Paulo etwa gab es in den ersten neun Monaten dieses Jahres 235.028 Raubüberfälle, das heißt, im reichsten Bundesstaat des Landes wurde etwa alle zwei Minuten jemand überfallen (dazu kommen ausserdem knapp eine halbe Million einfache Diebstähle). Einzelne Überfälle machen deswegen keine Schlagzeilen.

Es sei denn, es handelt sich um einen prominenten Überfall. Der kann es bis auf die Seite Drei einer der grössten brasilianischen Tageszeitungen schaffen. Etwa so, als würde Günter Jauch auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung ausführlich unter dem Titel schreiben: „Ich wurde überfallen!“ Luciano Huck, vermutlich der bestbezahlte brasilianische TV-Moderator, wählte für seine Offenbarungen in der Folha de Sao Paulo eine etwas dramatischere Überschrift. „Beinahe postume Gedanken“ nannte er die Überlegungen, die er anstellte, nachdem ihm ein bewaffneter Strassenräuber in Sao Paulo seine Rolex abgenommen hatte.

Um es gleich zu sagen: Sonderlich geistreich sind die Überlegungen des Publikumslieblings nicht. Hier ein paar Auszüge: Wo er doch alle seine Steuern zahle, habe er etwa anderes verdient. Wo er doch jeden Tag darüber nachdenke, wie er das Volk glücklicher machen könne, habe er so etwas nicht erwartet. Er hätte auch tot sein können, stellt sich der Mann vor und beklagt schon mal die trauernde Witwe, das trauernde TV-Publkum, die dann vaterlosen Kinder. Zwischendurch betont er, es gehe ihm nicht um die Rolex. Er beklagt also quasi selbstlos die absurde Kriminalität in dieser Stadt, ruft nach einem „Retter des Vaterlandes“ und behauptet schliesslich, ein fähiger Chef einer Sondereinheit der Polizei könne das Problem der Strassenräuber in einem Monat lösen.

Bei dem Überfall wurde Luciano Huck kein Haar gekrümmt - die auf seinen Artikel folgende Leserbrieflawine hätte den Mann fast erschlagen. Die gestohlene Rolex, deren Wert auf zwischen 10.000 und 50.000 Reais* beziffert wird – stellt viele Leser vor ein Moralproblem: Darf ein Rolexbesitzer sich beschweren, wenn er überfallen wird? Oder: Darf der Moderator einer der beliebtesten Jugendsendungen des Landes, in denen er seine meist mehr oder weniger bedürftigen Kandidaten auch mal fies bloß stellt, so tun, als sei er ein makelloser Gutmensch? Darf so ein Promi erst merken, dass Kriminalität existiert, wenn sie ihm selbst passiert? Oder noch drastischer: Lebt der überhaupt im gleichen Land wie wir?

Vielleicht war es Huck tatsächlich nicht klar, dass auch er mal überfallen werden könnte. Brasilien ist schließlich weltweit eines der Länder mit der größten sozialen Ungerechtigkeit, und in Hucks Kreisen verbringt man seine Freizeit auf der eigenen Insel in der Bucht von Angra oder im eigenen Hotel auf der Ökoinsel Noronha: da kommen keine Strassenräuber hin. Huck hätte tatsächlich bei dem Überfall erschossen werden können, wie er schreibt. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres ist das in Sao Paulo 67 Personen passiert – manchen sicher für weniger als eine Rolex. Und es gibt noch einen Unterscheid: Keines der Raubüberfallopfer in Sao Paulo oder sonstwo im Land hat sich bisher auf der Seite Drei der Folha de Sao Paulo ausweinen dürfen.

Anstatt diese Chance zu nutzen, um der Obrigkeit zum Beispiel zu erklären, wie sie die Kriminalität in Sao Paulos Strassen in 30 Tagen beenden könnte, hat Luciano Huck leider nur betont, wie schlecht die Welt und was für ein guter Mensch er selbst ist.

Der Polizeibeamte Roger Franchini schrieb als Antwort auf Hucks Artikel: „Ich verdiene 568,29 Reais** im Monat – dafür lasse ich mich nicht auf eine Schießerei mit Banditen ein, um Hucks Rolex wieder zu besschaffen.“

Ich glaube gar nicht mal, dass Huck seine Rolex so unbedingt wieder haben will. Ehefrau Angelica schenkt ihm sicher gerne eine neue. Nein, eher scheint es, als beschwere der Fernseh-Mann sich in seinem Artikel darüber, dass Gewalt nicht nur in TV-Spielfimen vorkommt. Und dass die Super-Helden der Polizei dagegen nur im Kino Wunder schaffen. Das eigentliche Problem ist: Brasilien ist kein Kino. Brasilien ist genau das, was Sie hier sehen. Jetzt auch Sie, Herr Huck.

* umgerechnet ca. 3800 bis knapp 20.000 Euro

** ca. 218 Euro

Donnerstag, 18. Oktober 2007

Ein richtig schöner Überfall

Hier im Großraum Recife wird man bei geschätzten 90 Prozent aller längeren Busfahrten überfallen. Von Rentnern, Behinderten, Geschäftsleuten und sogar von Kindern. Es kann ja niemand weg: Alle müssen dringend irgendwohin und können nicht einfach so aussteigen und fliehen. Das nutzen die Banditen.

Die Kinder sind wahrscheinlich am schlimmsten. Klein, dünn, armselig gekleidet und meist mit einem grenzenlos müden Gesicht, schleichen sie von einem Fahrgast zum nächsten, gucken keinem in die Augen und drücken jedem einen Zettel, manchmal auch einen Zettel und ein Bonbon in die Hand. Wer abwehrend den Kopf schüttelt, dem legen sie den Zettel und das Bonbon einfach in den Schoß. Die Papierschnipsel sind Teile von billigen Fotokopien, deren Texte vom vielen Anfassen kaum noch zu entziffern sind, obwohl sie irgendwer – wahrscheinlich kostenpflichtig – am PC getippt hat. Sie lauten meistens etwa so: „Ich habe sieben Geschwister, mein Vater ist arbeitslos und meine Mutter bei der letzten Geburt gestorben. Wenn Sie das Bonbon behalten, helfen Sie mir und meinen Geschwistern, damit wir heute abend etwas zu essen bekommen. Es kostet Sie nur 1 Real.“

Meistens tun mir die Kinder mehr leid, weil ihnen Mutter, Vater oder große Geschwister diese grauenhafte Betteltour aufgedrückt haben, als weil sie womöglich wirklich nicht immer genug zu essen haben. Vermutlich werden sie das ohnehin nie haben, wenn sie statt zur Schule zu gehen, nur lernen, fremden Leuten Bonbons in den Schoß zu werfen.

Beinahe ebenso unerträglich sind die Gläubigen. Es gibt ja in Brasilien unzählige Pfingstgemeinden und pseudo-christliche Halunken, die den Armen vom letzten Centavo noch den Zehnten abzocken wollen. Irgendwie sind viele Armen in Glaubensdingen von jeder Kritikfähigkeit befreit und kreischen glücklich jeden Schwachsinn nach. Aber dazu ein anderes Mal mehr. Die gläubigen Überfallkommandos fangen gleich schreiend an, Gott zu danken, bevor sie überhaupt erklären, worum es geht. Nachdem sie gebührend ihrem Schöpfer dafür gedankt haben, dass sie am Leben sind, dass sie heute hier in diesem Bus sein dürfen und so nette Leute treffen wie uns Mitfahrende, kommen sie endlich zur Sache. Dass sie nämlich arbeitslos sind und die Frau schwanger und die zehn Kinder beinahe verhungert und so weiter. Vergelt’s Gott, sagen sie jedem, der nach seinem Portemonnaie kramt.

Die Behinderten stellen einen vor ein besonders schwieriges Moralproblem: sie können ja nichts dafür, jedenfalls die mit den Klumpfüssen – so was läßt sich nicht mal eben als Bettelgrund herstellen und macht es nun wirklich nicht leichter, im Großraum Recife eine bezahlte Beschäftigung zu finden. Ausserdem brauchen die Behinderten immer furchtbar lange, bis sie an einem vorbei sind, und wenn es nicht gelingt, die ganze Zeit die Augen gesenkt zu halten, während sie einen angucken, dann kann schnell mal das ganze Kleingeld im plötzlich flutenden Mitleidkanal zu so einem Behinderten fliessen.

Ein nicht behindertes Unfallopfer lieferte übrigens den perfektesten Auftritt, den ich bislang in einem Bus erlebt habe, zu übertreffen eigentlich nur noch durch eine ambulante Multimedia-Präsentation. Der Mann war Ex-Busfahrer und allein dadurch schon so eine Art Kumpel von uns allen. Während er erklärte, wie ein Berufsunfall ihn berufsunfähig gemacht hatte, entrollte er ein professionell designtes Anschauungsposter in Farbe und auf abwaschbarem Material gedruckt. Er bat um Unterstützung für eine laut Anschauungsposter rettende Operation. Die Investition in das Poster dürfte sich schon im ersten überfallenen Bus rentiert haben.

„Guten Morgen“, sagte letztens einer mit auffallend neuem Plastikgürtel und der für Gläubige typischen Kleidung: Anzughose mit weißem Hemd dazu. Er schrie nicht, sondern blieb erst mal still. Dann beschimpfte er uns. Er habe uns aufrichtig einen guten Morgen gewünscht und da verdiene er ja wohl eine ebenso ehrlich gemeinte Antwort. Er würde jetzt noch einmal „Guten Morgen“ sagen und diesmal erwarte er eine lautstarke Reaktion, sonst würde er gar nicht erst anfangen mit seiner Arbeit.

Das wäre ja nun die perfekte Gelegenheit gewesen, auch ohne Flucht einen solchen Busüberfall zu verhindern. Leider verstrich sie ungenutzt, weil die halb ausgeschlafenen Fahrgäste brav laut „Guten Morgen“ riefen – vielleicht hat sie die Schimpfrede nach pawlowscher Art an die Schule erinnert. Zufrieden nahm der Mann die guten Wünsche entgegen, zeigte ein zahnfreies Lächeln und legte los. Es handelte sich um einen Familienvater, arbeitslos, was mit seiner Frau war, erwähnte er nicht.

So weit, so bekannt. Um nicht zu betteln, so sagte der Lehrmeister in guten Sitten dann allerdings überraschend, würde er jetzt ein paar Waren zum Kauf anbieten: jedes Stück für nur 1 Reais. Die Mehrzahl „Reais“ betonte er gleich mehrmals, als sei sie ein Beweis für Vertrauenswürdigkeit und Bildung. (Anders herum ist der Fehler üblich: 5 Real sagt der Mob und spart sich die Mehrzahl.) Erstaunlicherweise waren seine Waren kein zweckfreier Ramsch im eigentlichen Sinn, sondern ein hübscher Dreifarb-Kugelschreiber und ein normales Nähnadelset. „Der Kugelschreiber kostet in der Stadt mindestens 3 Reais“, flüsterte mir mein Sitznachbar zu und kaufte gleich drei. Ich nahm die Nähnadeln, die standen sowieso auf meiner Einkaufsliste und wären woanders auch nicht billiger gewesen. So schön kann es sein, wenn man von einem echten Geschäftsmann überfallen wird.

Samstag, 13. Oktober 2007

Positives Denken gegen Autoklau

Kennt jeder: Da steht man an dem Parkplatz, wo man doch eben vor dem Einkaufen geparkt hat, und: Kein Auto. Jedenfalls nicht das eigene. Meistens ist das ein Gedächtnisproblem, und das Auto steht in einfach in einer anderen Strasse. Also suchte die Masseurin Ana Claudia kürzlich an einem Freitagnachmittag nach dem Einkaufen ihren Fiat Uno erst in den Parallelstrassen, dann im ganzen Block, dann soweit sie mit ihren beiden Töchtern laufen konnte. Dann schloß sie das Gedächtnisproblem aus. In Sao Paulo werden jeden Tag beinahe 300 Autos gestohlen, diesmal war offensichtlich ihr Uno dran gewesen. Weg ist weg.

Zum Glück hat Ana Claudia eine gute Versicherung. Also hat sie nicht lange lamentiert, sondern zuhause die Garage auf Hochglanz poliert: Für den neuen Wagen, den sie von der Versicherungssumme anschaffen würde. Das ganze Wochenende freute sich die Familie darauf. Am Montagabend rief der Polizist an. Überbrachte freudig die Nachricht: „Wir haben Ihr Auto gefunden – in der gleichen Strasse, wo es verschwunden ist und in einwandfreiem Zustand.“ Schade eigentlich. Ana Claudia war nicht so richtig glücklich über die Nachricht – nach all der Vorfreude war sie gar nicht mehr so scharf darauf, ihre ungepflegte Schleuder zurück zu bekommen. Beinahe betrübt ging sie zum Übergabetermin. Überraschung: „Das ist ja gar nicht meins!“, rief sie, als sie das Auto sah. Doch, doch, meinte der Ordnungshüter. Tatsächlich, die Nummernschilder waren die richtigen. Aber die Räder waren neu, die Reifen waren neu, die Radkappen ebenfalls – und das ganze Auto strahlte und glänzte wie frisch vom Händler.

Gestohlene Autos tauchen vor allem in Großstädten gelegentlich wieder auf – wenn sie etwa nur zu einem schnellen Überfall benötigt wurden. Manche sind nur etwas verdreckt, andere haben einen leeren Tank, wieder andere einen Totalschaden. Neue Teile sind nach einem Raub eher selten. Vorsichtige raten Ana Claudia deswegen, die Reifen und Räder genau prüfen zu lassen: Nicht, dass sie unwissentlich Drogen schmuggelt. Neidische wollen wissen, wo genau sie ihr Auto geparkt hatte – um künftig auch nur dort zu parken. Böswillige unterstellen gar, die Masseurin habe einen Versicherungsbetrug geplant und irgend etwas sei schief gegangen. Und Ana Claudia? Die sagt: „Pessimismus ist Männersache, das war noch nie mein Ding – und ich hatte auch noch nie Probleme mit meinem Auto“. Hilft Positives Denken also sogar gegen Autoklau?

Montag, 8. Oktober 2007

Im Alleingang gegen das Gerundium

Die Umständlichkeit und Ineffizienz brasilianischer Behörden ist bekannt. In Brasília ist jetzt Schluß damit. Der Gouverneur hat ein Dekret erlassen. Dekrete kann ein Gouverneur ganz allein erlassen – sie müssen dann zwar noch bestätigt werden, aber erst mal gelten sie.
Gouverneur José Roberto Arruda hat also folgendes verfügt:

1. Der Gebrauch des Gerundiums ist in allen Regierungsorganen in Brasília verboten.
2. Es ist außerdem verboten, den Gebrauch des Gerundiums als Entschuldigung für Ineffizienz einzusetzen.

Danach ist er nach Washington gefahren. Und jetzt raufen sich die Zurückgebliebenen die Köpfe. Die einen, weil ihnen das Gerundium als weicher Puffer vor der Aktion so schön gedient hat. Das läßt sich am besten anhand des Kölschen erklären. Das Kölsche „Ich bin am Machen und am Tun“ etwa zeigt hervorragend, wie sich mittels Gerundium der Eindruck von wüster Aktivität hervorrufen läßt – ohne dass eine solche tatsächlich stattfinden muss. Die brasilianischen Gerundium-Profis nutzen ihre Lieblingszeit in etwa so: Wenn jemand wissen will, bis wann etwas erledigt sein wird, sagen sie beruhigend: „Wir werden für Sie am Machen sein“ – was die gefragte Aktion in eine ungewisse Zukunft verschiebt, und trotzdem ungemein offiziell klingt.

Keine Frage, solche Ausreden nerven. Aber vielleicht hätte der Gouverneur seine Provokation besser nicht im Alleingang verantwortet. Anstatt zu verstehen, dass der Gouverneur „provokant zur mehr Effizienz aufrufen“ wollte, wie er aus den USA verlauten ließ, streiten sich hier nämlich jetzt die Linguisten und raufen sich die Haare: Dem Gouverneur ist beim Alleingang gegen das Gerundium entgangen, dass das Gerundium Teil der portugiesischen Grammatik ist – und daraus nicht so ohne weiteres zu entfernen. Was der Gouverneur meint, ist der „Gerundismo“, der Mißbrauch des Gerundiums. Den beherrschen vor allem Angestellte im Telemarketing und in Behörden. Und Politiker, wie Planungsminister Paulo Bernardo beweist, als er auf die Frage antwortet, was er vom neuen Dekret hält: „Ich werde drüber am Nachdenken sein“.

Freitag, 5. Oktober 2007

Der Zirkus und die Statistik

Plötzlich lagen auf der Pferdewiese seltsame Sachen herum: Stangen und Planen und noch mehr Stangen. Sah aus, wie ein Altmetallager. Ein paar Typen wuselten dazwischen rum und erklären: „Das ist ein Zirkus“.

Wenig später stand das Zelt, davor ein wohnwagenähnliches Kassenhäuschen, das war alles. Die gesamten Zirkus-Zutaten passen auf einen klapprigen Anhänger, den wohl der noch klapprigere Chevrolet zieht, der daneben geparkt ist. Ein magerer Junge mit einem alten Gesicht radelt seither jeden Nachmittag mit einer Lautsprecheransage durchs Dorf: „Nur noch heute abend, kommen Sie in den magischen Zirkus Douglas, bringen Sie ihre ganze Familie mit!“

Mangels Familie bin ich mit der Besitzerin der Pferdewiese hin gegangen, eine respektable Dame um die 60, die gleich noch ihre depressive ältere Schwester mitbrachte, damit die mal was anderes zu sehen bekam.

So einen Mini-Zirkus sucht man ja schon milde gestimmt auf. Bereit, allerlei Unzulänglichkeiten zu verzeihen, setzt man sich auf staubige schmale Holzbretter, ignoriert die Moskitos und wartet geduldig darauf, was passiert. Zunächst kommt nacheinander so ziemlich das gesamte Dorf: Mütter, an denen mehrere Kleinkinder klammern, aufgebrezelte Teenies in Miniröcken, Männerrunden in Feierlaune und zittrige Omas drängen in das immer stickiger werdende Zelt. Die letzten müssen stehen bleiben.

Nach umständlichen Vorreden („wir möchten jeden im geschätzten Publikum vollends zufrieden stellen mit unseren einzigartigen Darbietungen“ etc etc.) balanciert uns ein kleinwüchsiger Seiltänzer etwas vor. Nur ein Teil des Publikums ist beeindruckt. Der andere kauft fleißig Bier und Popcorn bei dem mageren Jungen mit dem alten Gesicht, der ständig zwischen den Reihen umherhuscht. Zum Seiltanz gibt es Schmalzhits aus übersteuerten Boxen und ein paar Zwischenrufe der ersten Betrunkenen: „Wo sind die Frauen?“. Als auch noch ein Jongleur auftritt, ein buckliger Kerl im blauen Satinhemd, der gelegentlich eine seiner Keulen verliert, buhen die ersten, obwohl es sich um den „berühmten Michael Douglas“ handelt, nach dem vermutlich der Zirkus benannt ist.

Endlich kommt eine Frau, die „weltberühmte Jaciara“. Mindestens 1,75 gross, davon mehr als die Hälfte Beine, die allerdings unterhalb des Knies in dünne Kleinkinderwaden auslaufen, nur halbwegs kaschiert durch kleine Schnürstiefelchen. Jaciara trägt einen Glitzer-BH, einen Stringtanga, darunter fleischfarbene Nylons und lächelt huldvoll ins Publikum. Dann legt sie los. Jaciara ist kein Schlangenmensch und auch keine Trapezkünstlerin. Sie bewegt sich in einer eigentümlichen Choreographie, deren Elemente aus dem Tanz eines Roboters, einem epileptischen Anfall und einer Peepshow zusammengesetzt scheinen. Das männliche Publikum ist nicht so pingelig wie ich. Es tobt. Ein paar der Stehgäste geraten so in Fahrt, dass ein Kollege Jaciaras sie mit einigem Nachdruck davon abhalten muß, die Arena zu stürmen.

Und die Frauen? Und die Kinder? Und die Omas? Gucken gleichmütig nach vorne, als laufe gerade eine Werbung für Hundefutter, und stopfen Popcorn in sich hinein.

Nach Jaciara kommt ein Clown. Als der sagt "mein Bruder ist schwul" grölen die Leute. Als er anfängt über seine Maniokwurzel in der Hose zu sprechen, fallen sie fast von den Bänken. Danach zeigt Janaína, eine blasse Schwarzhaarige ihren beeindruckendem Bauch, den sie permanent kreisen läßt. Danach kommt der Clown und danach die kaum bekleidete Yvonne. Der magere Junge muß dem Publikum immer öfter Biernachschub holen gehen. Mir würden die rotierenden Hängebäuche jetzt allmählich genügen, aber die Besitzerin der Pferdewiese hält mich vom Gehen ab: „Wart nur ab, gleich werden die Männer anfangen, ihre T-Shirts in die Arena zu werfen, damit die Frauen sich den Schweiß daran abwischen!“, erklärt mir die 60jährige begeistert. Auch die Depressive scheint zufrieden. Niemand verläßt vorzeitig die Show, und nachdem insgesamt sechs Frauen ihre primären und sekundären Geschlechtsteile inklusive Bäuchen vor der Menge geschwenkt haben, strömt gegen 23 Uhr eine aufgeheizte Masse aus dem Zelt. Manche stehen noch eine Weile unschlüssig mit Bierdosen rum, andere schleichen sich ins Dunkel der Pferdewiese zu weiteren Vergnügungen.

Was das mit der Statistik zu tun hat? Nun, der magere Junge gehört vermutlich zu den 16 Prozent der 15-17jährigen, die trotz Schulpflicht dieselbe nicht besuchen. Und die Gleichaltrigen im Publikum könnten zu den 50 Prozent dieser Alterklasse gehören, die zwar zur Schule gehen, aber ein, zwei oder noch mehr Klassen wiederholt haben. Je weniger geübt das Hirn, desto leichter die Begeisterung über die einzigartigen Darbietungen des magischen Zirkus Douglas, oder? Ein wenig aktives Hirn stört auch wenig beim Gang ins nächste Gebüsch. Und hilft dadurch, der nächsten Statistikrubrik zuzuarbeiten: Es gibt immer mehr minderjährige Mütter in Brasilien.

Deren Mütter verstehen nicht, wie das passieren kann: Die Telenovelas zeigen bestenfalls mal leidenschaftliche Küsse. Und sie selbst lassen ihre Töchter niemals abends unbeaufsichtigt aus dem Haus. Ausser vielleicht zum Zirkus.

Sonntag, 30. September 2007

Ein Volk in Trauer

Alles ist aus. Gestern war es endgültig soweit. Die Demokratie gelangte an ihre Grenzen, die Spielregeln wurden wieder von oben und nicht mehr vom Volk diktiert. Oben ist in diesem Fall der TV-Sender Globo. Der hatte sich im vergangenen halben Jahr und mehr als 170 Kapiteln geradezu erstaunlich nachgiebig der Meinung des Publikums gebeugt. Eigentlich war ja die Telenovela „Paraíso Tropical“ ganz anders geplant gewesen. Eigentlich hätten Ehrgeizling Olavo und Nutte Bebel nur Nebenrollen spielen sollen. Und jeder weiß, dass Telenovelas nicht das wirkliche Leben sind. Aber Gutmensch Daniel und seine bieder-treue Paula, die für die Hauptrolle vorgesehen war, blieben nicht nur unglaubwürdig, sondern langweilten entsetzlich: Sollte es solche Menschen wirklich geben, muss man die nicht auch noch kennenlernen.

Olavo und Bebel hingegen! Sex, Lies und Romantik. Die sympathische Copacabana-Nutte, die jedem ihre Meinung sagt und gleichzeitig so wunderbar blauäugig ist, wäre eine prima Freundin/Geliebte/Bekannte. Und bei Olavo klingen sogar Erpressungsversuche noch sexy. Und wenn sich dann noch zwischen den beiden die ganz große Liebe entwickelt... Das Leben in der Novela wird von den Einschaltquoten diktiert, also bekamen die beiden mehr und Frau Paula weniger Platz als ursprünglich vorgesehen. Was unter anderem dazu führte, dass Paraiso Tropical die erste Novela ist, bei der ich so ungefähr den Handlungsrahmen kenne. Ich bin ja immer noch Novela-Analphabetin: Normale Brasilianer verabreden sich abends für „nach der Novela“ – ich habe jahrelang keine Ahnung gehabt, wie viel Uhr das bedeutet. Normale Brasilianer diskutieren alle ethischen Probleme aus der Novela ausführlich mit ihren Freunden – so als diskutierten sie über Mißtritte im Bekanntenkreis: Für normale Brasilianer bedeutet die Novela eine Erweiterung des sozialen Umfelds.

Umgekehrt ist die Novela ein Spiegelbild der brasilianischen Gesellschaft. So eine Art größter gemeinsamer Nenner von Intellektuellen und Arbeitern. Die gucken nämlich alle zu. In Paraíso Tropical hat sich zum Beispiel das Publikum ausdrücklich gewünscht, dass das latent schwule Paar sich mehr zu seiner Liebe bekennen sollte – das führte zu Szenen des gemeinsamen Erwachens der beiden Männer im Ehebett, reichlich gewagt für eine Novela. Und die fiese Marion sollte nicht sterben, obwohl das ursprünglich so im Drehbuch stand. Was hat es wohl zu bedeuten, dass die Halunken diesmal so außergewöhnlich gut angekommen sind? Dass die ganze Nation die Nutte Bebel so ins Herz geschlossen hat, und Olavo seine Betrügereien verziehen hat? Haben wir uns hier so an die allgegenwärtige kriminelle Energie gewöhnt, dass ehrliche Menschen dagegen nur langweilig wirken können? Haben Korruption und Politikskandale uns rettungslos abgestumpft? Die Antwort wäre womöglich aus einem Showdown abzulesen, den das Publikum geschrieben hätte.

Hat es aber nicht. Für das letzte Kapitel war Drehbuchautor Gilberto Braga nicht mehr den Einschaltquoten, sondern Regisseur und Sender verpflichtet. Und die wollten, dass ganz schnell alle moralischen Werte wieder gerade gerückt werden. Weil vorher so viel aus dem Ruder gelaufen war, geriet das hektische Geraderücken streckenweise fast zum Slapstick: Für Familie und Treue mußten sich nicht weniger als vier getrennt lebende Paare ganz schnell wieder selig in die Arme fallen. Für Ordnung und Gerechtigkeit mußten drei Banditen noch schnell ihr Leben lassen – darunter auch Olavo. Marion hat zwar überlebt, muß aber ihr Geld mühselig durch Verkauf von Billigschmuck auf der Strasse verdienen. Und die langweilige Paula durfte triumphieren. Spaß gemacht hat das nicht.

Und jetzt ist alles aus. Keine Wetten mehr auf „wer ist der Mörder von Taís“, wofür sich zeitweise mehr Leute interessiert haben, als für die Absurditäten des Senatspräsidenten. Keine Bebel, kein Olavo, keine Marion. Ist ein bißchen so als habe man sich mit den Freunden zerstritten, die man sonst jeden Abend getroffen hat. So als sei ganz Brasilien plötzlich umgezogen und verliere seine vertrauten Nachbarn.

Morgen soll alles wieder von vorne losgehen: Morgen beginnt die neue Acht-Uhr-Novela. Mit neuen Intrigen, neuen Freunden und womöglich sogar neuen Einflußmöglichkeiten via Einschaltquote. So will es das Oben. Und das Volk? Das trägt noch Trauer.

38 Grad sind zu viel für den Weihnachtsmann

Natürlich gibt es hier Weihnachtsmänner. Auch wenn Weihnachten so gar keine tropische Tradition ist. Es gibt sogar Weihnachtsverkäuferinnen, Weihnachtskassiererinnen, Weihnachtsparkwächter und Weihnachtsköche. Will sagen: Die brasilianischen Unternehmer lieben das Weihnachtsfest und seine Symbole so, daß sich spätestens vier Wochen vor dem Fest alles eine rote Weihnachtsmütze mit weißem Bommel überstülpen muss, was irgendwie Publikumsverkehr hat. Was ich noch nicht gesehen habe, sind Geschäftsführer oder Banker mit roten Mützen. Hübsch wären auch mal Weihnachtspolizisten. Vielleicht ist deren Job zu ernst für die Mütze.

Vielleicht hat aber auch nur das Budget der Stadtverwaltung nicht gereicht und sie bekommen ihre Mützen im nächsten Jahr. Die Geldknappheit in den Stadtkassen ist leicht erklärt: Die Stadtverwaltung erläßt den Einkäufern gerade in diesen Wochen, in denen die Läden sogar sonntags öffnen und der ganze Nordosten in Recife sein letztes Geld auszugeben scheint, sämtliche Parkgebühren. Überall, wo Parken am Strassenrand erlaubt ist, parkt man im Dezember umsonst. Das muß man sich mal in München, Berlin oder Düsseldorf vorstellen. Ein Millionengeschäft lassen die sich hier entgehen. Weihnachtsbegeisterte eben.

Aus Begeisterung hängen jetzt außerdem alle Hausbesitzer Lichterketten auf: die günstigsten gibt es für knapp einen Euro, da reicht das Geld bei den meisten Familien sogar für zwei oder drei der schmückenden Accessoires. Besonders beliebt sind solche, die in mehreren Farben blinken, wie früher auf Schulparties – und noch besser kommen die an, die zusätzlich einen internationalen Weihnachtshit à la „Jingle bells“ musizieren. Praktischerweise wird es in den Tropen schon um sechs Uhr abends dunkel, da können die trötenden Lichterketten und ihre Besitzer sich besonders ausgiebig selbst verwirklichen. Manchmal wetteifert eine ganze Strasse um die hellsten, buntesten und lautesten Ketten, und manchmal singen die Dinger sogar im Kanon. Dass niemand Probleme hat, bei der visuellen und akustischen Berieselung zu schlafen, muß ich wohl nicht extra erklären.

Vermutlich bin ich die einzige im Großraum Recife, der es trotzdem nicht recht gelingen will, eine Weihnachtsstimmung zu entwickeln. Trotz Weihnachtsmützen, Weihnachtslichterketten und Weihnachtsbäumen voller Flitter und Kugeln. Bei Kiefern und Tannen handelt es sich normalerweise um liebevolle, nahezu naturidentische Nachbildungen aus Plastik. Im Vorgarten werden aus Tannenmangel gerne mal Bananenstauden verpflichtet. Bananen am Weihnachtsbaum? Kann vorkommen. Sogar Palmen können Kugeln tragen, und selbst Birkenfeigen steht Lametta gar nicht schlecht.

In Schaufenstern hingegen bemühen sich die Dekorateure erfolgreich um höchstmögliche Authenitizität: von Elchen gezogene Schlitten sausen da auf Watteschnee durch die vollklimatisierte Gegend. Auf den schicken Schlitten thronen Weihnachtsmänner mit Rauschebärten und dicken Bäuchen und sehen sehr ehrwürdig aus. Ihre lebenden Kollegen auf der Strasse haben mehr zu tun. Pausenlos säuseln sie diensteifrig in ihr Mikro: „Treten Sie näher meine Damen und Herren, nie hat es so billige Uhren gegeben, wie heute hier im Uhrenparadies“, behaupten sie - oder was der Job eben sonst verlangt. Dabei läuft Ihnen der Schweiß unter der Mütze aus Synthetik hervor und rinnt bis in die Rauschebärte aus Watte. Gelegentlich kratzen sie sich verstohlen unter dem dicken Bauch. Weihnachten ist eben so gar keine tropische Tradition. Und 38 Grad Hitze sind zu viel für jeden Weihnachtsmann.

Donnerstag, 27. September 2007

Ich habe nicht gefurzt

Lobao ist dann doch noch was eingefallen. Der Rocksänger, der in den wilden 80ern schon mal wegen Wildheit aus seiner eigenen Band rausgeschmissen wurde, hat vorgestern bewiesen, dass ihm immer noch was einfällt.

Die meisten wissen schon lange nicht mehr, was sie sagen sollen, angesichts der hemmungslosen Korruption ihrer Politiker. „Ich schäme mich, Brasilianer zu sein“, schrieb ein in Italien lebender Brasilianer gar angesichts der jüngsten Senats-Entscheidung. Dessen Präsident, der ja eigentlich seinen Kollegen mit gutem Beispiel vorangehen sollte, tut seit Monaten geflissentlich das genaue Gegenteil. Eine Ex-Geliebte mit Kind tauchte auf, die reichlich Unkosten verursachte. Ein Privatunternehmer wurde gefunden, der all diese Unkosten womöglich bezahlt hat. Landwirtschaftliche Aktivitäten des Senatspräsidenten erschienen aus dem Nichts und sollten dessen Finanzstärke erklären – weil Calheiros natürlich beteuerte, er habe all das schöne Geld selbst an die Ex-Geliebte und den gemeinsamen Sohn gezahlt. Immer neue Erklärungen hat der Politiker gefunden. Trotzdem hat ein Parlementskollege den Fall vor die Ethik-Kommission gebracht. Nicht etwa jemand aus der Opposition – die fürchtet wohl Scherben im Glashaus – ein Vertreter einer Minipartei hat es gewagt, das Vorbild infrage zu stellen.
Die Kommission werde seine Unschuld beweisen, tönte der Senatspräsident daraufhin vollmundig und wies weiter all die fiesen Vorwürfe heftig und entrüstet von sich.

Inzwischen hat die Ethik-Kommission fertig recherchiert. Calheiros’ vorgebrachten Beweise sind keine, hat sie herausgefunden: Rinder haben ihn nicht reich genug gemacht, um die umfangreichen finanziellen Bedürfnisse seiner Ex-Geliebten zu befriedigen. Die Landwirtschaft war eine Art Second Life – frei erfunden. Es ist nicht nachgewiesen, woher die Unterhaltszahlungen kamen – Calheiros Behauptung, er sei finanziell dazu in der Lage gewesen, ist eine Lüge. Sagt die Ethik-Kommission. Und weil es in der Geschichte teilweise um Straftatbestände geht, hat sie den Fall Calheiros an den Obersten Gerichtshof weitergegeben - der allein kann Parlamentsangehörige richten. Und Calheiros? Calheiros leugnet weiter, ohne auch nur rot zu werden. Klammert sich an seinen Präsidentensessel und ruft: „Von diesem Stuhl kriegt mich keiner runter!“

Bisher ist ihm das sogar gelungen: Mit 46 Stimmen haben ihn seine Senatskollegen in der letzten Woche in geheimer Abstimmung vom Vorwurf freigesprochen, die Würde des Senats zu verletzen. Will sagen: Der Vorsitzende des Senats kann öffentlich lügen und betrügen, ohne dadurch die Würde des politischen Organs zu verletzen, dem er vorsteht.

Als hingegen letztens der Rocker Lobao ordentlich gekleidet zum Interview im TV-Sender „TV Senat“ antrat, bat der Programmdirektor den Sänger höflich, doch das T-Shirt zu wechseln, weil es nicht so gut in den Senats-Sender passe. Ob der Programmdirektor meinte, er müsse mit seinem Sender die Vorbildsfunktion erfüllen, die Calheiros offensichtlich schnuppe ist? Lobao jedenfalls hat sein T-Shirt nicht gewechselt. „Erst, wenn Ihr auch den Senatspräsident wechselt“, hat er gesagt.

Lobao ruft mit seinem Shirt zu einer neuartigen Anti-Korruptions-Bewegung auf. Die Idee kommt gut an: Sängerkollege Caetano Veloso hat sich bereits auf seine Seite gestellt, und im Internet haben sich reichlich Interessenten für das neue T-Shirt geoutet. Manche wollen das klassisch schwarze Shirt mit weißer Aufschrift am liebsten gleich an den Senatspräsidenten schicken. „Ich habe gefurzt“, steht da groß drauf. Und darunter: „aber ich war’s nicht.“ (Peidei, mas nao fui eu)

Sonntag, 23. September 2007

Geschenkte Träume

Die Hoffnung ist der Reichtum der Armen, habe ich gelesen. Wenn einer also einem eine falsche Hoffnung schenkt, ist die dann - ausser einer Illusion - so etwas wie Glasperlen für Indios - schön glitzernd und gefühlt ebenso wertvoll wie echte Edelsteine? Oder eher so etwas wie ein hübsch anzusehender aber doch schon länger gelagerter Fisch – der erst beim Braten anfängt zu stinken?

Letztens war ich in der Cidade de Deus – in Deutschland besser bekannt als „City of God“. Kurz vorweg: Die Cidade de Deus ist eine der mehr als 600 von der Drogenmafia beherrschten Favelas auf den Hügeln von Rio, und ich bin nicht lebensmüde. In der Cidade de Deus leben nicht nur Killer, sondern auch friedliche Menschen. Nicht jeden Tag gibt es Schießereien, und sogar Ausländer können Favelas betreten, ohne automatisch in Lebensgefahr zu geraten. Zum Beispiel, wenn sie zusammen mit einem Bewohner unterwegs sind. Ich bin mit Gisele gekommen, Gisele lebt in der Cidade de Deus - und sie steht für eine kollektive Hoffnung.

Es ist Samstag nachmittag, die Sonne knallt auf rissigen Asphalt voller Schlaglöcher und schickt ihre Strahlen durch das Oberlicht des Gemeinderaums aus unverputztem Backstein. Zwei Duzend Köpfe drehen sich zum Eingang, als Gisele eintritt; dünne und pummelige, schüchterne und freche, kindliche und kokette Mädchen zwischen sechs und sechzehn gucken erwartungsvoll auf die große Frau im Baseballkäppi mit dem ansteckenden Lächeln. Jeden Samstag unterrichtet Gisele ehrenamtlich alle Interessierten. Davon gibt es viele, vor allem Mädchen. Weil in Brasilien neun von zehn Mädchen davon träumen, Model zu werden. Unten in Copacabana in den schicken Mittelklasse-Appartments genau so wie hier oben in den unverputzten Häusern.

Streng fordert die Lehrerin alle Schülerinnen auf: „High Heels anziehen und aufstellen!“ Manche balancieren in zwei Nummern zu großen Schuhen, andere schlingern unsicher auf Stöckel-Havaianas, die meisten gucken trotzdem so cool, als trügen sie nie Schuhe mit weniger als zehn Zentimetern Absatz. Auch die ganz Kleinen. Dann schallt Musik aus dem Ghettoblaster und Gisele klatscht in die Hände. Los geht der Catwalk über den nackten Beton. Einmal die ganze Länge der Mehrzweckhalle entlang, anhalten, in den Hüften wiegen, umdrehen und noch mal die ganze Länge zurück.

Wie angehende Models sehen sie nicht aus. Ein winziges Mädchen guckt so grimmig, als müsse sie erst ihre eigene Angst besiegen. Eine andere schleicht geduckt, als erwarte sie Schläge. Eine dritte schreitet wie eine Ballerina –viel Charisma, aber höchstens ein Meter sechzig Körpergröße. Gisele nimmt sie alle ernst. Richtet die Geduckte vorsichtig auf, bis sie zehn Zentimeter größer wirkt. Läuft der Grimmigen voran, bis sie ein winziges bißchen lockerer wird. Und noch mal und noch mal und noch mal. In der Pause erklären die Mädchen mir ihren Traum: berühmt werden, viel Geld verdienen, reisen, Interviews geben, Stars treffen.

Der erste Star ihres Lebens ist ihre Lehrerin beim Catwalk. Gisele Guimarães, aufgewachsen in der Cidade de Deus, hat einen Vertrag als Model bei der internationalen Agentur Elite. Deren Büro im Nobelviertel Leblon hat nicht mal ein Schild an der Tür– um Massenandrang zu vermeiden. Geschafft hat die 21jährige Gisele das mit ihren meterlangen schlanken Beinen, schmalen Hüften, kleinen Brüsten und dem hüftlangen, glatten, rotbraunen Haar. Sie trägt falsche Wimpern über den dunklen Augen und zaubert lustige Grübchen in ihr coververdächtiges Lächeln. Ihr Geld verdient Gisele immer noch in einem Restaurant in Leblon – weil sie immer noch kein professionelles Book hat, mit dem die Agentur sie besser verkaufen könnte. Aber der wichtigste Schritt ist geschafft, findet Gisele: Sie schämt sich nicht mehr, dass sie in der Cidade de Deus wohnt. „Klar kommen viele Models aus Favelas“, sagt sie, „aber die geben das nicht zu“.

Deswegen unterrichtet Gisele jeden Samstag ehrenamtlich die Mädchen hier im Catwalk. Zwei Stunden kostenloser Unterricht in Selbstbewußtsein, aufrechter Haltung, Rhythmus und Stolz. Auch wenn sie das so nicht sagt. Deswegen darf jeder an dem Kurs teilnehmen, unabhängig von Modelmaßen. „Wir versuchen die Mädchen erst mal her- und dann auch auf andere Träume zu bringen“, sagt Gisele.

Letztens waren schon mal Ausländer in der Cidade de Deus. Sie haben einen Dokumentarfilm für das ZDF gedreht. Über die Träume der Mädchen und über Gisele und den Unterricht. Gisele zeigt mir die Hauptdarstellerin, die das ZDF-Teams sich ausgesucht hat: Eine besonders magere kindliche Sechzehnjährige, deren Hüftknochen sogar in der Jeans auffällig herausstechen. Sie hat ein bißchen tiefliegende Augen, dunkle Locken und keine besonders auffallende Ausstrahlung.

Der Favela-Fotograf Tony Barros zeigt mir die DVD mit dem TV-Film, die ihm das Team gegeben hat: Den Fernsehleuten hat S. ihre Plüschtiere zuhause gezeigt und erzählt, wie sehr sie von einer Model-Karriere träumt. Schüchtern strahlt sie, als die Fremden sie in schicke Klamotten stecken und Tony eine professionelle Kamera in die Hand drücken, damit er Book-Fotos für sie machen kann. Ihr Mutter betont, sie würde die Tochter in der Karriere unbedingt unterstützen.

Und dann begleiten die Kameraleute das Mädchen ohne Modelmaße bis nach Leblon. Die Agentur Elite hält zweimal wöchentlich „open door“. Da dürfen sich alle vorstellen, die Model werden wollen. Mit und ohne Book. Wer gar keine Chancen hat, kommt nur bis ins Vorzimmer. Wer interessant aussieht und ins Bild paßt, darf rein zu den Bookern. Und wer ganz viel Glück hat, wird unter Vertrag genommen.

Die kleine Karawane mit der TV-Träumerin an ihrer Spitze gelangt bis zum Booker. Auch wenn der etwas gequält aussieht, als er sagt: „Du bist wirklich sehr hübsch. Aber leider ein paar Zentimeter zu klein. Wenn Du noch wächst, kannst du gerne nächstes Jahr wieder kommen.“ S. bemerkt das Gequälte nicht. Vielleicht ist sie sogar erleichtert, dass sich die Aufregung auf diese Art noch einmal verschoben hat. Erst nächstes Jahr wird sie ihren Traum der Realität zur Prüfung stellen müssen. Sie weiß nicht, dass sie ohne das deutsche TV-Team nicht über das Vorzimmer hinaus gekommen wäre.

So stakst sie weiter jeden Samstag über den rohen Betonboden, der flüchtige Doku-Ruhm verblasst jede Woche ein bißchen mehr, und wenn sie Glück hat, verblasst auch ihr großer Elite-Traum noch vor dem nächsten Jahr und macht einem anderen Platz. Als ob sie die geschenkte Glasperlenkette zwar schön finde, aber irgendwann doch in die Ecke legt. Oder den geschenkten Fisch gar nicht erst brät: Dann kann er auch nicht stinken.

Mittwoch, 19. September 2007

Fiktion und Fakten

Fakt ist: Die Eintrittskarten waren trotzdem innerhalb von einer Stunde ausverkauft. Für die Premiere von „Tropa de Elite“, morgen beim Film-Festival in Rio. Dabei gibt es den Film auf DVD schon für 5 Reais, und das seit Anfang des Monats in den meisten Grosstädten Brasiliens auf der Strasse. Weil auf noch nicht ganz erforschten Wegen eine Kopie über die Tontechnik beim Synchronisieren zu professionellen DVD-Raubkopierern gelangt ist. Natürlich ist das kriminell und illegal. Kriminelles und Illegales sind auch der Inhalt des Films, der als neues Grossereignis nach dem oscarverdächtigen „City of God“ gehandelt wird. Der Film ist brutal. Hervorragend fotografiert. Unglaublich erschreckend. Und Fiktion. Behauptet jedenfalls Drehbuch-Co-Autor Rodrigo Pimentel.

Es geht um einen Hauptmann der Eliteeinheit BOPE, die in Rio hochriskante Missionen vor allem im Kampf gegen die Drogenmafia übernimmt. Was der Film zeigt, ist Krieg. In dem die Spezialtruppen Verdächtigen mal eben eine Plastiktüte über den Kopf stülpen, um sie zum Sprechen zu bringen. Auch wenn die Verdächtigen Kinder sind. Wenn diese gefolterten Kinder dann einen Mittler verraten, werden sie anschließend vom örtlichen Drogenboß erschossen. Einer der Hauptmannsanwärter ist nicht brutal genug für den Job. Weil „es im Krieg kein Verzeihen“ gibt – wie einer der Protagonisten sagt. Stimmt. Ein paar Studenten, die ihr soziales Gewissen und ihren Bedarf an Drogen in der Favela befriedigen wollen, läßt der Boss „in die Mikrowelle“ stecken. Das bedeutet, sie werden in einen Turm aus aufgeschichteten Reifen gestellt, mit Benzin übergossen und angezündet.

Viele der BOPE-Anwärter sind korrupt. Lassen sich von der Drogenmafia bezahlen, dass sie rechtzeitig Tipps geben, wenn ein Polizeieinsatz bevorsteht. Haben ein paar Nutten in Copacabana laufen. Verkaufen Waffen an die Banditen und lassen sich in Kokain bezahlen. Und Hauptmann Nascimento erträgt das alles nicht mehr.

Fiktion, sagt Ex-BOPE-Hauptmann und Drehbuchautor Pimentel. Zufällig schrieb auch sein Nachfolger im BOPE, der inzwischen selbst ausgeschieden ist, am Drehbuch mit. So realistisch ist der Film geworden, dass ein paar Bope-Mitglieder seine Ausstrahlung gerichtlich verhindern lassen wollten. Ist ihnen nicht gelungen. Und vor dem Gerichtsentscheid hatten den Film ohnehin schon Zigtausende gesehen. Die Raubkopie. Ob und wie sehr die Kino-Einnahmen durch die Raubkopie beeinträchtigt werden, mögen die Vertreter von Paramount nicht abschätzen. Vorsichtshalber haben sie die Kino-Premiere vorgezogen. Und betonen, dass im Kino die Originalversion gezeigt wird – wogegen die Raubkopie nur die dritte Schnittversion sei, der diverse Spezialeffekte und Szenen fehlten. Den Fans ist das egal: Auf der Website des Hauptdarstellers freuen sie sich alle heftig auf den Kinostart.

Der Film ist also Fiktion. Aber zum Making-Of gibt es Fakten: Hauptdarsteller Wagner Moura brach beim Brachial-Training versehentlich einem Polizei-Ausbilder die Nase: Weil der ihn bis an seine psychischen Grenzen gebracht hatte. Ein Kleindarsteller konnte nach dem Training gar nicht mehr drehen: Er hielt sich inzwischen für einen echten Auszubildenden für den Bope. Die Drehbedingungen waren insgesamt realistisch: Die Darsteller in der „Ausbildung“ durften zur Strafe in eiskaltem Wasser stehen oder vom Boden essen – ganz wie die echten. Mitten in den Dreharbeiten wurde dem Team mal eben ein Kleinbus mit 90 Film-Waffen gestohlen. Und noch bevor der Film fertig war, wurde er gestohlen.

Ein Präzedenzfall in Brasilien, über den sich sogar die Regierung besorgt zeigt. Der Schauspieler, der im Film einen korrupten Luden und Militärpolizei-Hauptmann darstellt, hat dazu im richtigen Leben vor der Polizei aussagen müssen, weil er womöglich der erste war, der eine Raubkopie in die Hände bekam. Ein Geschenk eines Freundes, sagt der Schauspieler. Mag stimmen oder auch nicht. Regisseur José Padilha sagt : „Verbindungsmann zwischen dem Filmdieb und den Raubkopierern war ein Militärpolizist – was die Theorie des Films nur beweist.“

Und das ist das Erschreckende. Der BOPE, der in den 70er Jahren gegründet wurde, gilt als eine der weltbesten Polizei-Spezialeinheiten –ein Vertreter der us-amerianischen Nationalgarde nennt sie im Dokumentarfilm „Wardogs“ sogar die Beste der Welt. Aber der BOPE hat nur wenige Männer, und die rekrutiert er aus den Reihen der Militärpolizei. Bis Ende Juli dieses Jahres wurden aus der brasilianischen Militärpolizei 161 Männer ausgeschlossen, weil sie sich in kriminelle Machenschaften verwickelt hatten. Beinahe täglich wird in Rio ein Militärpolizist festgenommen – 334 waren es im letzten Jahr. Anfang dieser Woche wurden im Bundesstaat Rio aufgrund von abgehörten Telefonaten 56 Militärpolizisten festgenommen. Alle aus dem gleichen Batallion – das heißt, jeder zehnte dieses Batallions ist betroffen und wird von der Militärpolizei ausgeschlossen. Die Gründe: Bandenbildung, Korruption und Verbindungen zum Drogenhandel. Das ist leider keine Fiktion.

Samstag, 15. September 2007

Ein Hoch auf die Heuchelei

Nicht nur in den großen Städten lernen Kinder Schimpfwörter. Und ins Teenie-Alter müssen sie dafür auch nicht erst kommen. Das weiß jeder. Nur die Eltern der kleinen Schätzchen anscheinend nicht.

Es war einmal in einer kleinen Stadt von 35.000 Einwohnern im Osten des nordbrasilianischen Staates Pará. In einer Grundschule dieser kleinen Stadt riefen die Kinder am liebsten: „Caralho!“ (Schwanz) und „Busseta!“ (Möse) – und was es sonst noch an vulgären Bezeichnungen für die primären Geschlechtsorgane gibt. So lange und so häufig taten die Elfjährigen das, bis es ihrer Lehrerin – bekennendes Mitglied einer protestantischen Kirchengemeinde - zu bunt wurde.

„Ihr wißt ja nicht einmal, was ihr da redet“, schimpfte sie. Und zog die logischen Konsequenzen: Sie schrieb all die schlimmen Wörter, die ihre Schüler so gerne in den Mund nahmen, an die Tafel. Forderte sie auf, die Liste ordentlich abzuschreiben. Und im Wörterbuch nach dem Sinn dieser Wörter zu suchen. Wer weiß, dass sein Lieblingsschimpfwort eigentlich „Schwanz“ bedeutet, hat eine größere Chance, darauf zu kommen, dass so ein Schwanz gar nichts Schlechtes ist – und ergo auch eine größere Chance, sich ein anderes Lieblingsschimpfwort zu suchen. Wäre immerhin einen Versuch wert, könnte man meinen.

Die Kinder nahmen also ihre Liste als Hausaufgabe mit. Und plötzlich waren ihnen die Wörter peinlich, wie sie so Schwarz auf Weiß im Schulheft geschrieben standen. So peinlich, dass der Vater eines der Elfjährigen, nachdem er in dessen Heft gesehen hatte, was der peinliche Unterrichtsinhalt war, haarscharf darauf schloß, dass der unschuldige Kleine solchen Schmutz bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal gehört haben müsse. Diese Frau „bringt den Kindern Unrechtes bei und darf nicht straflos davon kommen!“, erregte sich der Soldat und Familienvater – und erstattete Strafanzeige bei der örtlichen Polizei. Seinem Beispiel folgten zwei weitere Eltern. Sie berufen sich auf Artikel 234 und 140 des Strafgesetzbuches, in denen es um Verbreitung öbszoner Ausdrücke und Objekte sowie um Beleidigung geht – Vergehen, die in Brasilien mit Geld- und sogar Gefängnisstrafen geahndet werden können.

Die beanstandeten Worte sind damit nicht aus der Welt zu schaffen. Trotzdem verschweigen sogar die Presseberichte über den Vorfall die Wörter des Anstoßes ängstlich. Wacht auf, Leute! Begriffe wie „Möse“ und „Schwanz“ begegnen auch unter Elfjährigen ständig im Alltag: im TV, im Shoppingcenter oder in Songtexten! Die nächste Lehrerin wird sich bei ähnlicher Gelegenheit wahrscheinlich die Ohren zu halten. Auch wenn ihre strenggläubige Kollegin laut Behördenbeschluß immerhin weiter unterrichten darf. Ein Hoch auf die Heuchelei!

Mittwoch, 12. September 2007

Immer nur die Mama

Anhänglicher sind die brasilianischen Schüler bestimmt nicht. Aber vielleicht ihre Eltern ängstlicher. Oder es fällt ihnen einfach keine bessere Ausrede ein. Jedenfalls sagen die Schüler hier meistens: „Das ist meine Mama!“ – wenn ihr Telefon mitten in der Mathestunde klingelt und die Lehrerin einen strengen Blick riskiert. Manchmal sagen sie auch gar nichts, weil sie damit beschäftigt sind, SMS zu schreiben. Oder sie filmen den Lehrer beim Unterrichten und veröffentlichen den Clip dann zur Belustigung im Internet. Echte Kommunikationsfreaks diese Schüler. „Es gibt dringende Gespräche, die man auf jeden Fall annehmen muß, auch im Unterricht“, bestätigt der 16jährige William - und meint damit vor allem Anrufe seiner Freundin. Computer sind in brasilianischen Schulen immer noch keine Selbstverständlichkeit - Handys hingegen gelten als unverzichtbares Alltags-Accessoire.

Und das soll weg. Raus aus den Klassen. Wenigstens während der Unterrichtszeit. Was den Lehrern nicht gelingt, soll jetzt ein Gesetz schaffen: Ein Entwurf sieht Handyverbot in den öffentlichen und privaten Schulen von Sao Paulo vor - im reichsten Bundesstaates Brasiliens ist das Problem vermutlich besonders akut. Sogar vereinzelte Schüler finden es nicht mehr so toll, wenn gleich mehrere Handys im Unterricht klingeln und vom Stoff nichts mehr mit zu bekommen ist. Die Abgeordnetenkammer hat dem Handyverbot schon zugestimmt – es fehlt nur noch das Ok des Gouverneurs José Serra.

Derweil verursacht das Thema reichlich Polemik. Ein Konzentrationshindernis sehen die Autoritäten. Kontaktsperre fürchten Eltern, die aus Sicherheitsgründen ständig mit ihrem Nachwuchs sprechen können wollen. Psychologieprofessor Yves de La Taille von der Universität Sao Paulo USP ruft: Sittenverfall! Lächerlich, dass man etwas per Gesetz durchsetzen wolle, was eine moralische Offensichtlichkeit sei. Die Sitten sind wohl noch weiter verfallen, als der Professor annimmt: Manche Schüler spielen offenbar jetzt schon mit dem Gedanken, gegen das künftige Gesetz zu verstoßen. „Wie hoch sind denn die Strafen“, fragen sie, und „kommt man dann ins Gefängnis, wenn man trotzdem sein Handy dabei hat?“.

Das klingt ein bißchen so, als sei deren Unrechtsbewußtsein tatsächlich eher schwach entwickelt – frei nach dem Beispiel straffrei betrügender Politiker. Denn die Handys in der Klasse bringen natürlich auch handfeste Vorteile. Beim Spicken etwa. Statt sich Wesentliches auf Handrücken, Zettel oder Hemdsärmel zu schrieben, haben in den Handy-Hoch-Zeiten viele die Notizfunktion des Geräts genutzt. Und ein paar ganz Schlaue haben die Prüfungsaufgaben einfach abfotografiert und an Freunde gesendet. Die konnten dann blitzschnell zuhause die Lösungen recherchieren und per SMS in den Prüfungsraum zurückschicken.

So gesehen muß man fast hoffen, dass es mit der Vernetzung der brasilianischen Schulen noch eine Weile dauert. Denn Spicken läßt sich auch per Mail. Und im Zweifelsfall einfach behaupten: „Ist nur von meiner Mama!“

Freitag, 7. September 2007

Endlich Sommer

Heute fahren alle an den Strand. Denn heute fängt der Sommer an. Anderswo in Brasilien mag das erst in ein paar Monaten passieren, aber hier im Nordosten ist heute „Abertura de verão“ – Sommer-Eröffnung. Wer wann und warum damit angefangen hat, den Sommer vorzuverlegen, weiß ich nicht. Vielleicht ist das so eine ähnliche Marketingmasche wie der antizyklische Karneval, der mancherorts im Oktober zusätzlich zum eigentlichen Termin ausgerufen wird. Jedenfalls kommt die vorverlegte Sommereröffnung hier allseits bestens an. Schliesslich haben alle Strandbarbesitzer und Schmuckhersteller und Buggyfahrer lange, karge, verregnete Wintermonate auf diesen Tag und seine Einnahmen hingewartet. Und auch die strandfern vor sich hin ackernden Binnenland-Brasilianer wollen nur zu gerne die letzten Monate vergessen, in denen der Regen Strassen in Schlammfluten verwandelt hat und Strände in graue öde Landschaften: In Massen strömen sie in alle stadtnah gelegenen Orte am Meer.

Das Wetter hat auf die Kolonnen Sommereröffnungs-Reisender wenig bis keinen Einfluß. Zum Stichtag sind traditionell sämtlich Zugangsstrassen zu Strandorten verstopft, dabei geschehen reichlich Unfälle wegen Trunkenheit am Steuer und wird vermutlich mehr Alkohol konsumiert als in den nächsten Wochen zusammen. Besonders Schlaue reisen schon am Donnerstag an. Hilft aber nichts, weil die Idee nicht so richtig originell ist: Gestern nachmittag etwa hat der Bus von Recife vor lauter Staus statt der üblichen zwei Stunden locker dreieinhalb gebraucht. Ganz zum Schluß hat der freundliche Busfahrer trotzdem für eine kleinere Gruppe Wochenendreisender außerplanmäßig gehalten: Sie hatten ihren Wochenendvorrat an Rum- und Colaflaschen, Bohnen, Reis und Nudeln, Chips, Flips, Milchpulver und Haarkuren in ungefähr vier Dutzend Plastiktüten dabei und brauchten allein zehn Minuten zum Ausladen.

So vorausgedacht haben längst nicht alle; heute mittag hatten die anderen Kurztrip-Besucher den einzigen Supermarkt hier im Dorf beinahe leergekauft. Kein Saft mehr und kein gekühltes Bier, kein Trockenfleisch und kein Brot - was man halt so braucht für ein gemütliches Wochenende mit Freunden. Dafür sind die Strassen um so voller. Dutzende Urlauber in Bikinis oder Shorts laufen durchs Dorf - auf der Suche nach Getränkenachschub für ihre Terrassen, wo der Rest der Familie mit Freunden bei Musik zusammensitzt. Manche machen die Bierdosen gleich vor dem Getränkemarkt auf und improvisieren auf der Mauer des Süssigkeitenladens daneben eine Privatkneipe. Wildfremde setzen sich dazu und bald ist die Party im Gang. So viel los ist hier im Dorf vermutlich erst wieder an Karneval.

Natürlich ist heute Feiertag. An Arbeiten wäre auch gar nicht zu denken: Musikfetzen aus Bossa Nova, Samba, Rio Funk und Schmalzschinken mischen sich zu einem völlig neuen Musikstil, während dicke Schwaden Grillwolken verführerisch durch die Gassen ziehen. Und weil sie so froh sind, dass endlich Sommer ist, feiern viele Ferienhausmieter in Schichten – während eine Hälfte ausruht, singt und trinkt die andere weiter – nur die Stereoanlage macht durch. Manche verlassen ihre Terrasse das ganze Wochenende nicht. Bei der Sommereröffnung geht es nämlich gar nicht darum, wirklich den Strand und das Meer zu sehen. Es geht darum, hinterher sagen zu können: Wir sind am Wochenende an den Strand gefahren und haben mal wieder so richtig gefeiert. Endlich Sommer!

Sonntag, 2. September 2007

Die Brasilianer gibt es nicht

Die Brasilianer gibt es nicht. 188 Millionen Menschen heißen Brasilianer. Manche leben in wüstenähnlichen Gegenden, andere im Urwald, wieder andere am Strand. Und nicht mal die Strandbewohner sind sich unbedingt ähnlich. Die von Rio de Janeiro heißen Cariocas und sind ganz eindeutig anders als die Pernambucaner, unter denen ich sonst lebe. Die Pernambucaner sind so etwas wie die Bayern Brasiliens: Ganz gross im Granteln. Wenn ein Zugereister lange genug durchhält, kann er trotzdem mit dem einen oder anderen Pernambucaner Freundschaft schließen. Trotzdem bleibt jede Reise nach Rio ein Besuch in einer anderen Welt: Die Cariocas scheinen mit einem Extra-Gen für Hilfsbereitschaft, Kommunikationsfreude und Freundlichkeit geboren zu werden.

Und das nicht nur anderen Cariocas gegenüber. Der Busfahrer der Linie 384 von Leblon nach Laranjeiras etwa hält unaufgefordert genau an meiner Einfahrt, anstatt an der Bushaltestelle – als ich das zweite Mal mitfahre. An einem anderen Tag diskutiert ungefähr die Hälfte der Mitfahrer eifrig darüber, wo ich am besten aussteige, um ins Centro Cultural der Banco do Brasil zu gelangen –auch dabei werden nicht nur offizielle Haltestellen berücksichtigt. Als ich auf Recherche die Favela Cidade de Deus besuche, fährt mich ein Bewohner stundenlang auf seinem Moto-Taxi durch die Gegend, damit ich – die fremde Journalistin – auch einen richtigen Eindruck von seinem Viertel bekomme. Geld will er nicht dafür nehmen. Im Museumscafé wühlt sich der Café-Kellner geduldig durch mehrere Schränke – weil ich vielleicht meinen Schirm dort vergessen habe. Als er nicht fündig wird, entschuldigt er sich bei mir. So etwas ist mir in Pernambuco in sieben Jahren nicht passiert.

Letztens sah ich an einem netten kleinen Häuschen hier im Dorf ein Schild: Zu verkaufen. Die Nummer hatte ich mir schon länger notiert, aber angerufen habe ich erst gestern, Das heißt, ich habe Ricardo anrufen lassen, weil ich mich nicht gleich am Telefon durch meinen Akzent entlarven und damit die Preisliste für reiche Ausländer aufrufen wollte. Ricardo ist zwar Carioca, aber immerhin Brasilianer. Er ruft also die Nummer an, die auf dem „Zu-Verkaufen“-Schild steht. Es ergibt sich folgender Dialog:

Weibliche Stimme: Wer spricht?

Ricardo: Guten Abend, meine Name ist Ricardo, ich habe Ihre Nummer auf dem „Zu-Verkaufen“-Schild an Ihrem Haus gesehen, können Sie mir darüber Informationen geben?

Weibliche Stimme: Ach ja, das Haus. Das verkauft meine Mutter.

Entfernt sich. Im Hintergrund: Mama, da ruft jemand an wegen dem Haus. Schlurfen. Räuspern.
Zweite weibliche Stimme: Wer spricht?

Ricardo: Ich rufe wegen dem Haus an, das Sie verkaufen.

Zweite weibliche Stimme: Haus? Ach so. Nein. Ich habe das Schild vor zwei Wochen aufgehängt. Ich will nicht verkaufen.

Ricardo: Ach? Dann nehmen Sie das Schild am besten wieder ab.

Zweite weibliche Stimme: Aber ich würde vermieten. Wollen Sie das Haus nicht mieten?

Ricardo: Nein danke.

Zweite weibliche Stimme: Wo kommen Sie denn überhaupt her?

Ricardo: Ich wohne hier im Dorf, schon seit Jahren.

Zweite weibliche Stimme: Ja, hm. Ich verlange 45.000 für das Haus.

Ricardo: Haben Sie es sich anders überlegt? Verkaufen Sie doch?

Schweigen.
Ricardo: Wann sind Sie denn in der Gegend? Ich würde mir das Haus gerne ansehen.

Zweite weibliche Stimme: Am nächsten Wochenende. Freitag, Samstag und Sonntag bin ich im Haus.

Ricardo: Gut, ich rufe Sie dann wieder an.

Zweite weibliche Stimme: Aber Sie müssen schon am Freitag kommen.

Ricardo: Gut, ich melde mich. Einen schönen Abend noch.

Klick - die Leitung ist unterbrochen.

Noch Fragen?

Die Brasilianer gibt es nicht.
 
Add to Technorati FavoritesBloglinks - Blogkatalog - BlogsuchmaschineBrasilien