Mittwoch, 28. November 2007

Der Vollmond über der Wüste

Wir sitzen erschöpft am Fuß einer Düne und stellen uns allmählich darauf ein, an exakt dieser Stelle zu übernachten. Laken haben wir immerhin dabei. Nur das Wasser ist etwas knapp. „Ich geh’ welches besorgen“, sagt César unser Guide – ganz Herr der Lage – und verschwindet in der Nacht.

Wir sind dabei, die Lencois Maranhenses zu Fuß zu durchqueren, Brasiliens einzige Wüste, im nördlichen Nordosten direkt am Meer gelegen, gut 155 Hektar gross und voller Sanddünen, cremeweiß wie Sahnehäubchen und erstaunlich fest unter unseren nackten Füssen. Heute haben wir beschlossen, bis in die Nacht zu wandern, weil der Vollmond so unwiderstehlich scheint. Er taucht die Dünen in sein milchiges Licht, bis die Landschaft aussieht wie auf einem anderen Stern.

Der Haken dabei: Im Vollmond werden die Sandformationen auf rätselhafte Weise nahezu zweidimensional: es ist nicht mehr erkennbar, wo es abwärts geht und wo eine Sandmauer droht, wie weit eine Kluft entfernt ist oder ob sie nur eine Luftspiegelung ist. So kommt es, dass wir hier an der Düne gelandet sind, anstatt uns wie geplant in einem Dorf am Fluß in Hängematten in den Schlaf zu schaukeln. Es ist nicht kalt, der Wind übt noch für die eisigen Songs, die er später pfeifen wird. Aus dem weichen Sand krabbelt schon mal ein freches Insekt und beisst mich als Kostprobe ins nackte Bein.

Ob César gerade in einer Niederung im Sand buddelt, bis er auf Wasser stösst? Sandiges gelbliches Moderwasser womöglich? Klappe halten, Gedanken. Auf die positive Seite der Lage konzentrieren: Den Vollmond zum Beispiel. Die wunderbare Stille, Die ersten Sterne da oben. Na also, geht doch. Nahezu meditative Stimmung breitet sich aus, und eine Nacht im Sand scheint immer weniger schlimm – bis irgendwo eine Meute wütender Hunde anfängt zu bellen.

Moment mal, Hunde? Wo es Hunde gibt, leben Menschen. Optimistisch schütten wir verschwenderisch unsere letzten Schlucke Trinkwasser in die Kehlen und warten auf Césars Rückkehr. Triumphierend zwei frisch gefüllte Wasserflaschen schwenkend taucht er irgendwann auf und macht sich daran, sein Nachtlager mit Sand zu polstern. „Der Typ hatte mindestens 500 Hunde!“, erklärt er grosspurig, und erwähnt nur beiläufig: „Der Besitzer war da allein mit ’nem kleinen Mädchen, er hätte uns sogar eingeladen, dort zu übernachten.“

Hätte? Und wo liegt das Hindernis? Vermutlich hat er keine vier zusätzlichen Hängematten für uns Überfallgäste? „Doch, doch, hat er“, sagt César. Worauf warten wir dann noch? Drei Minuten später sind wir im Paradies. Vorbei an Bananenstauden und Tomatenpflanzungen auf Stelzen gelangen wir in ein geräumiges Haus, dessen Dach und Wände aus den fächerförmigen Wedeln der Buriti-Palme bestehen. Seu Nemézio leuchtet uns mit seiner Kerosinlampe den Weg bis ins Wohnzimmer, das wir mit einem Haufen struppiger Kokosnüsse teilen. Er stellt die Lampe auf dem buckeligen Zemenfussboden ab und sucht im dunklen Rest des Hauses alle Hängematten zusammen. Entschuldigt sich, weil eine davon nicht aus Stoff, sondern aus den Fasern der Buriti-Palme gemacht ist. Sie mag vielleicht weniger angesagt sein, hier in den Lencois, aber die Buriti-Matte schmiegt sich beim Probeliegen ganz besonders kuschelig an meinen müden Körper.

Geschäftig pumpt Seu Nemézio schon im Vorraum eimerweise Wasser für unser Bad aus dem Brunnen hoch und schleppt den vollen Bottich nach draußen auf die Lichtung vor seinem Haus mitten ins Mondlicht. Die beiden Männer bleiben diskret im Haus, während wie drei Mädels unsere Klamotten von uns werfen und Schöpfbecher um Schöpfbecher frisches kühles Wasser über unsere Köpfe ausleeren. Nach dem Bad bleiben wir einfach stehen und lassen uns vom Wind trocknen. Danach schaukeln wir im Wohnzimmer leise in unseren Hängematten, und ich kann mir nicht vorstellen, dass irgend jemand in diesem Moment glücklicher ist als wir.

César und der Hausherr plaudern noch ein Weilchen im goldenen Licht der Kerosinlampe, bis Seu Nemézio sich verabschiedet, weil „die jungen Leute sicher müde sind vom Wandern“. Er verzieht sich in sein durch Palmwedelwände abgetrenntes Schlafzimmer und dreht das batteriebetriebene Kofferradio leiser, um die Gäste nicht zu stören. Nichts weist darauf hin, dass er sich gestört fühlen könnte, von diesem nächtlichen Überfallkommando. Kopfzerbrechen scheint ihm nur zu bereiten, dass er keinen Kaffee da hat – für das Frühstück. Wie lebt wohl einer hier, am Rand der Dünen. Ohne Strom und fließendes Wasser, ohne Kramladen und Telefon? Wie sieht wohl einer aus, der Fremden mitten in der Nacht bereitwillig seine Tür aus Buriti-Stäben öffnet? Erst morgen früh werden wir unseren Wohltäter bei Tageslicht sehen können.

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