Hier im Großraum Recife wird man bei geschätzten 90 Prozent aller längeren Busfahrten überfallen. Von Rentnern, Behinderten, Geschäftsleuten und sogar von Kindern. Es kann ja niemand weg: Alle müssen dringend irgendwohin und können nicht einfach so aussteigen und fliehen. Das nutzen die Banditen.
Die Kinder sind wahrscheinlich am schlimmsten. Klein, dünn, armselig gekleidet und meist mit einem grenzenlos müden Gesicht, schleichen sie von einem Fahrgast zum nächsten, gucken keinem in die Augen und drücken jedem einen Zettel, manchmal auch einen Zettel und ein Bonbon in die Hand. Wer abwehrend den Kopf schüttelt, dem legen sie den Zettel und das Bonbon einfach in den Schoß. Die Papierschnipsel sind Teile von billigen Fotokopien, deren Texte vom vielen Anfassen kaum noch zu entziffern sind, obwohl sie irgendwer – wahrscheinlich kostenpflichtig – am PC getippt hat. Sie lauten meistens etwa so: „Ich habe sieben Geschwister, mein Vater ist arbeitslos und meine Mutter bei der letzten Geburt gestorben. Wenn Sie das Bonbon behalten, helfen Sie mir und meinen Geschwistern, damit wir heute abend etwas zu essen bekommen. Es kostet Sie nur 1 Real.“
Meistens tun mir die Kinder mehr leid, weil ihnen Mutter, Vater oder große Geschwister diese grauenhafte Betteltour aufgedrückt haben, als weil sie womöglich wirklich nicht immer genug zu essen haben. Vermutlich werden sie das ohnehin nie haben, wenn sie statt zur Schule zu gehen, nur lernen, fremden Leuten Bonbons in den Schoß zu werfen.
Beinahe ebenso unerträglich sind die Gläubigen. Es gibt ja in Brasilien unzählige Pfingstgemeinden und pseudo-christliche Halunken, die den Armen vom letzten Centavo noch den Zehnten abzocken wollen. Irgendwie sind viele Armen in Glaubensdingen von jeder Kritikfähigkeit befreit und kreischen glücklich jeden Schwachsinn nach. Aber dazu ein anderes Mal mehr. Die gläubigen Überfallkommandos fangen gleich schreiend an, Gott zu danken, bevor sie überhaupt erklären, worum es geht. Nachdem sie gebührend ihrem Schöpfer dafür gedankt haben, dass sie am Leben sind, dass sie heute hier in diesem Bus sein dürfen und so nette Leute treffen wie uns Mitfahrende, kommen sie endlich zur Sache. Dass sie nämlich arbeitslos sind und die Frau schwanger und die zehn Kinder beinahe verhungert und so weiter. Vergelt’s Gott, sagen sie jedem, der nach seinem Portemonnaie kramt.
Die Behinderten stellen einen vor ein besonders schwieriges Moralproblem: sie können ja nichts dafür, jedenfalls die mit den Klumpfüssen – so was läßt sich nicht mal eben als Bettelgrund herstellen und macht es nun wirklich nicht leichter, im Großraum Recife eine bezahlte Beschäftigung zu finden. Ausserdem brauchen die Behinderten immer furchtbar lange, bis sie an einem vorbei sind, und wenn es nicht gelingt, die ganze Zeit die Augen gesenkt zu halten, während sie einen angucken, dann kann schnell mal das ganze Kleingeld im plötzlich flutenden Mitleidkanal zu so einem Behinderten fliessen.
Ein nicht behindertes Unfallopfer lieferte übrigens den perfektesten Auftritt, den ich bislang in einem Bus erlebt habe, zu übertreffen eigentlich nur noch durch eine ambulante Multimedia-Präsentation. Der Mann war Ex-Busfahrer und allein dadurch schon so eine Art Kumpel von uns allen. Während er erklärte, wie ein Berufsunfall ihn berufsunfähig gemacht hatte, entrollte er ein professionell designtes Anschauungsposter in Farbe und auf abwaschbarem Material gedruckt. Er bat um Unterstützung für eine laut Anschauungsposter rettende Operation. Die Investition in das Poster dürfte sich schon im ersten überfallenen Bus rentiert haben.
„Guten Morgen“, sagte letztens einer mit auffallend neuem Plastikgürtel und der für Gläubige typischen Kleidung: Anzughose mit weißem Hemd dazu. Er schrie nicht, sondern blieb erst mal still. Dann beschimpfte er uns. Er habe uns aufrichtig einen guten Morgen gewünscht und da verdiene er ja wohl eine ebenso ehrlich gemeinte Antwort. Er würde jetzt noch einmal „Guten Morgen“ sagen und diesmal erwarte er eine lautstarke Reaktion, sonst würde er gar nicht erst anfangen mit seiner Arbeit.
Das wäre ja nun die perfekte Gelegenheit gewesen, auch ohne Flucht einen solchen Busüberfall zu verhindern. Leider verstrich sie ungenutzt, weil die halb ausgeschlafenen Fahrgäste brav laut „Guten Morgen“ riefen – vielleicht hat sie die Schimpfrede nach pawlowscher Art an die Schule erinnert. Zufrieden nahm der Mann die guten Wünsche entgegen, zeigte ein zahnfreies Lächeln und legte los. Es handelte sich um einen Familienvater, arbeitslos, was mit seiner Frau war, erwähnte er nicht.
So weit, so bekannt. Um nicht zu betteln, so sagte der Lehrmeister in guten Sitten dann allerdings überraschend, würde er jetzt ein paar Waren zum Kauf anbieten: jedes Stück für nur 1 Reais. Die Mehrzahl „Reais“ betonte er gleich mehrmals, als sei sie ein Beweis für Vertrauenswürdigkeit und Bildung. (Anders herum ist der Fehler üblich: 5 Real sagt der Mob und spart sich die Mehrzahl.) Erstaunlicherweise waren seine Waren kein zweckfreier Ramsch im eigentlichen Sinn, sondern ein hübscher Dreifarb-Kugelschreiber und ein normales Nähnadelset. „Der Kugelschreiber kostet in der Stadt mindestens 3 Reais“, flüsterte mir mein Sitznachbar zu und kaufte gleich drei. Ich nahm die Nähnadeln, die standen sowieso auf meiner Einkaufsliste und wären woanders auch nicht billiger gewesen. So schön kann es sein, wenn man von einem echten Geschäftsmann überfallen wird.
Donnerstag, 18. Oktober 2007
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