Samstag, 31. Mai 2008

Ein Sieg für die Vernunft

Brasilien ist ein gläubiges Land. Und in mancher Hinsicht ist Brasilien auch ein konservatives Land, trotz aller Klischees und leichtbekleideter Samba-Tänzerinnen. Deswegen wurde hierzulande die Diskussion um Stammzellenforschung reichlich emotional geführt. Um so erfreulicher ist der Sieg der Vernunft, den das Supremo Tribunal Federal (Oberster Gerichtshof Brasiliens) am Donnerstag verkündet hat: Mit knapper Mehrheit haben sich die Richter gegen die Klage von Ex-Oberstaatsanwalt Fonteles ausgesprochen. Der katholische Claudio Fonteles, der die Verfassungsklage angestrengt hatte, verteidigt die Auffassung, bereits im Moment der Befruchtung entstehe menschliches Leben. Im Gesetz, das die Stammzellenforschung erlaubt, sieht er eine Verletzung der Menschenwürde sowie des menschlichen Rechts auf Leben, und hält es deswegen für verfassungswidrig. Nein, ist es nicht – glauben sechs der hohen Richter.

Jetzt kann es endlich losgehen. Der Gesundheitsminister freut sich schon darauf, der verlorenen Zeit hinterher zu forschen, damit Brasilien nicht den wissenschaftlichen Anschluss verliert. Das Ministerium werde institutionelle, technische, politische und finanzielle Unterstützung gewähren, sagte er. Auch Präsident Lula ist für die Forschung: „Die Welt kann nicht auf wissenschaftliche Kenntnisse verzichten, welche die Menschheit vor vielen Dingen retten können“.

Miguel Martins allerdings, christlicher Abgeordneter und Vertreter der parlamentarischen Gruppe „Recht auf Leben“ will doch noch versuchen, ein Zusatzgesetz auf den Weg zu bringen, das festlegt, es dürfe nur mit Erwachsenen-Stammzellen geforscht werden. Und die Initiative „Brasilien ohne Abtreibung“ spricht leicht resigniert ihr Bedauern über die Gerichtsentscheidung aus – ohne sie anzuzweifeln.

Richtig emotional bleibt lediglich der Abgeordnete Carlos Willians von der christlichen Arbeiterpartei. Er greift zum drastischen Nazi-Vergleich: die Stammzellen-Forschung erinnere an „Experimente Hitlers zur Verbesserung der Rasse“. Berechtigt scheint eher die Sorge des Generalsekretärs der Bischofskonferenz, wenn dieser fürchtet, das bestätigte Gesetz könne einen Weg für die sukkzessive Legalisierung der Abtreibung öffnen.

Die sukzessive Aushöhlung, Nichtachtung oder Umgehung von Gesetzen ist leider keine Seltenheit - nicht nur in Brasilien, dessen häufig hervorragende Gesetzgebung häufig leider nur auf dem Papier hervorragend funktioniert. In diesem heiklen Fall hat der Gesetzgeber versucht, ein besonders lückenloses Netz aus Vorschriften zu weben: Laut dem 2005 verabschiedeten und jetzt bestätigten Gesetz für Biosicherheit dürfen nur solche Stammzellen in der Forschung eingesetzt werden, die von seit mehr als drei Jahren eingefrorenen Embryonen aus künstlicher Befruchtung stammen – also Embryonen, die keine Zukunft als Baby mehr vor sich haben. Zudem müssen die Erzeuger des Embryos zustimmen. Und außerdem ist jeglicher Handel mit Stammzellen untersagt. Gut durchdacht. Hoffentlich gut genug für ein Land voller Schleichwege und Hintertüren.

Montag, 26. Mai 2008

Kein Platz für den Pfeifenmann

Kürzlich berichtete ich hier von dem Mann, der sich mit seiner Trillerpfeife ein für ihn einträgliches und für alle anderen schlafstörendes Geschäft aufgebaut hat. Trotz meines Posts treibt der Mann weiter sein nächtliches Unwesen im Dorf.

Am Samstag abend saß ich friedlich auf dem Dorfplatz und genoss das wochenendliche Treiben– in diesem Fall ein Duo aus einer blonden Sängerin und einem bärtigren Gitarristen, die für vielleicht drei Dutzend Zuhörer romantische Lieder aus vergangenen Jahrzehnten zum Besten gaben, knabberte dabei fritierte Macaxeira und bestaunte den gelben abnehmenden Mond über dem Meer – als plötzlich die Hunde anhuben, ziemlich unvermittelt ziemlich wütend zu bellen.

Erst wunderte ich mich, dann sah ich ihn: den Trillerpfeifenmann. Voll der Promille, wie am Wochenende bei ihm üblich. Er schlenkerte breitbeinig zwischen den Kneipentischen in unsere Richtung, und das wollten die Hunde offenbar verhindern. Als er in einem kleinen Bogen an uns vorbei geschlichen war, beruhigten sich die Kläffer – nur um sofort von einem anderen Hund abgelöst zu werden, der - weil sich der Feind jetzt ihm zu nähern drohte - zähnefletschend auf den selbsternannten Sicherheitsmann los gehen wollte.

Ich mußte kichern und sagte zu niemandem im Besonderen: „Nun ja, den mögen wohl viele Hunde nicht“. Darauf wandte sich eine Dame mittleren Alters ohne Hund an mich und sagte: „Ich kann den Typ auch nicht ausstehen – abgesehen davon, dass er niemanden schlafen lässt, soll er auch Hunde vergiften. Aber mein Mann hat ihm gleich gesagt. Sollte unser Pitbull jemals tot aufgefunden werden, dann ist klar, wer das war, und der wird gnadenlos büßen.“ Eine weitere Dame fortgeschritteneren Alters mischte sich ein: „Der hat ja sicher eine Lizenz dafür, aber es ist nicht zum Aushalten diese Pfeiferei!“ Eine dritte sagte: „Den sollte man wirklich mal ruhig stellen, diesen Verbrecher-Typen“ Und eine vierte ergänzte: „Und betrunken ist er außerdem dauernd.“

Währenddessen trudelte der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Tisch zu Tisch, auf der Suche nach einem Plätzchen, wo er willkommen wäre oder doch wenigstens geduldet würde. Begleitet von schrillem Protest aus Hundekehlen und schrägen Blicken aus Menschenaugen. Kurz: Es gab keinen Platz für ihn. Niemand wollte ihn haben.

Nach einer langen Weile drehte sich der Ungeliebte um und trollte sich in die Nacht – die Trillerpfeife an den gespitzten Lippen. Vielleicht ist das Trillern seine Rache?

Sonntag, 18. Mai 2008

Eine Favela zum Anfassen

Ob es der Ruch des Gefährlichen ist? Die romantisch-verklärte Vorstellung einer Gemeinschaft der Unterdrückten? Der harte Beat, der Leben und Sterben auf den Hügeln zu untermalen scheint? Irgend etwas finden die Fremden an der Favela, dieser brasilianischen Armensiedlung. Vor allem, wenn sie so einen unvergleichlichen Blick bietet, wie auf den Hügeln von Rio de Janeiro.

Angefangen hat es mit den Favela-Touren - manche erinnert die Fahrt in offenen Jeeps an eine Safari-Tour mit Großwildbeobachtung, aber inzwischen besuchen die meisten diverse Sozialprodukte in den Siedlungen, die zumindest einen kleinen Anteil am Umsatz einstreichen. Dann kam der Film City of God über die Favela Cidade de Deus: er soll weltweit knapp eine halbe Million Menschen in die Kinos gelockt haben. Und Baile Funk, die Musik der Favela-Parties, auf denen die Bandenmitglieder gerne mit erhobenem MG tanzen, läuft erfolgreich in Clubs und London. Paris und Berlin. Neuerdings vertreten von einem Deutschen: MC Gringo, der das heimatliche Stuttgart gegen eine Armensiedlung von Rio eingetauscht hat, und jetzt die Favela-Musik in der Welt verbreiten will.

Die letzte Woche habe ich in der Favela Pereira da Silva verbracht, in der auch MC Gringo lebt, wenn er nicht gerade auf Deutschland-Tournee ist. Angeblich lebt er in einer ziemlich schicken 80-Quadratmeter-Wohnung. Deren Miete er angeblich nicht gerade pünktlich bezahlt. Damit ist einiges bereits gesagt: Erstens ist Pereira da Silva vermutlich die zahmste aller Favelas in Rio, weil hier die Elitetruppe Bope trainiert und verhindert, dass die Drogenmafia auf dem kleinen Hügelstück herrscht. Zweitens ist so eine kleine Favela von der Struktur eher mit einem Dorf als mit einem Viertel einer Millionenstadt zu vergleichen – jeder weiß alles über jeden, manchmal sogar noch ein bisschen mehr. Und drittens gibt es in der Pereira da Silva eine Pousada.

Die Pousada Favelinha ist nicht billiger als die Backpacker-Hotels im Viertel Catete. Trotzdem ist sie beliebter. Vielleicht, weil man sich bei nur fünf Zimmern und reichlich Gemeinschaftsraum mit Aussicht eher zuhause fühlt als in einem Hotel. Vielleicht, weil Andreia, die Chefin des Hauses, mit ihrer schnoddrigen Art eine ganz besondere Stimmung zu schaffen versteht. Vielleicht aber auch, weil die Fremden es ungeheuer spannend finden, in einer echten Favela zu wohnen.

Brasilianer kommen nämlich keine. "Die haben Vorurteile", vermutet Andreia. Nur ein japanischstämmiger Brasilianer war mal da, der schon seit Jahren im Ausland wohnte. Besonders gerne buchen Deutsche, Skandinavier und Holländer in der Favelinha. Wenn sie erst einmal da sind, zittern manche vor Angst, weil sie das Haus ja auch mal verlassen müssen. Hätten dann gerne einen Begleiter. Mit manchen klettert der Russo (der zwar Russe genannt wird, aber eigentlich Deutscher ist) die steilen Stufen vom größten Bau der ganzen Siedlung hinab bis zum Minibus, der sie in wenigen Minuten zum Largo do Machado fährt, in die Welt, in der auch die anderen Rucksackreisenden unterwegs sind. (Und in der die Chance, einem Taschendieb zu begegnen, deutlich höher ist.)

Die Stufen sind im Fall Pereira da Silva womöglich der größte Unterschied. Alles, alles, alles kommt und geht über die Stufen: Lebensmittel, Möbel, Kühlschränke, Zementsäcke, Müll und Menschen. So ab dem vierten Aufstieg beginnen sich die Anfänger-Muskeln zu gewöhnen - für ein echte Fitneß-Programm müßte man wohl einen Monat bleiben. Ansonsten ist Dorf: Ab dem zweiten Tag grüßt der Alte unten in der Bude am Eingang, ab dem dritten auch der Minibusfahrer. Und ein bißchen Favela: Am Wochenende wechselt auf der großen Muttertagsparty die Musik von Schmalz irgendwann bis zum harten Beat des Rio Funk, vielfach verstärkt durch das Hügel-Echo. Und an einem anderen Tag ballern irgendwo auf einem benachbarten Hügel tatsächlich Schüsse. Wie um die Fremden daran zu erinnern, dass sie sich in der Armensiedlungs-Variante für Anfänger befinden.

Für eine Recherche musste ich zwischendurch in die Cidade de Deus. Geht klar, sagte meine Kontaktperson zu mir, du kannst ruhig kommen. In der vergangenen Woche wäre das schwieriger gewesen, „da haben sie hier ein knappes Dutzend Leute umgenietet.“ Ich habe mir in der Cidade de Deus ein Fußball-Projekt angesehen. Dessen Trainer hat seinen Job bekommen, als sein Vorgänger unerwartet verstorben ist. An einer Querschläger-Kugel. Das ist weniger romantisch. Gut, dass es die Pereira da Silva gibt. Eine Favela zum Anfassen für die neugeirigen Fremden.
 
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