Mittwoch, 28. März 2007

Magrette will ihr Leben ändern

Magrette will ihr Leben ändern. Gestern kam sie bei mir vorbei und erklärte, so gehe es nicht mehr weiter. Magrette ist eine der vielen Althippies hier, die aus Samen, Muscheln, bemalten Federn, Slberdraht und viel Fantasie Schmuck herstellen, die sie dann am Strand an portugiesische und andere Urlauber verkaufen. Der Schmuck von Magrette ist außergewöhnlich schön. Ausserdem singt Magrette in einer Band und näht Klamotten. Trotzdem reicht das Geld immer nur knapp zum Überleben – und das auch nur, weil Magrette keine Miete zahlt. Wie viele Hippies hat sie sich um Schule nie viel gekümmert, kann grade mal Lesen und Schreiben und hat ihr bißchen Allgemeinbildung aus dem Fernsehen. Genau das will sie ändern.

Seit einem Monat schon geht Magrette jeden Abend zum „Supletivo“. Das ist eine Art Abendschule, die interessierte Nachzügler in relativ kurzer Zeit zum dem Abitur vergleichbaren „Segundo grau“ führen soll. Ausserdem sollen sich verlorene Seelen durch den Supletivo an Konzentration, Regelmäßigkeit und gegenseitigen Respekt gewöhnen. Um solche potentiell verlorenen Seelen anzulocken, gibt es für jeden Abend Anwesenheit zwei Transportgutscheine und einen kleinen Snack umsonst. Es ist erschreckend, für wie viele – ansonsten nicht gerade bildungshungrige - Menschen hier ein paar trockene Kekse und ein Becher Saft tatsächlich Anreiz genug sind, jeden Abend in der Schule zu verbringen

Magrette ist trotzdem nicht so richtig glücklich mit ihrem Kurs. Klar, es hat sie auch interessiert, neue Leute zu treffen, wegzukommen aus dem Alltag. Aber sie wollte vor allem lernen, ihren Horizont erweitern, sagt sie. Ihr Supletivo sieht so aus: Mehrere Dutzend Menschen zwischen 25 und 65 versammeln sich in einem Klassenraum. Eine Aufsicht – kein Lehrer! – schaltet das Video mit der Unterrichtseinheit ein, und manche gucken zu, manche schwätzen, manche rutschen auf den Stühlen herum. Nach der Telekurs-Einheit versucht einer der Schüler, an der Tafel das soeben Gelernte zu erklären. Niemand beurteilt, ob er alles richtig verstanden hat. Manche gehen nie an die Tafel. Manche kommen immer zu spät, manche müssen früher weg, manchen ist der Unterricht ganz egal. Wer regelmäßig teilnimmt, Kekse mampft und Saft trinkt, wird am Jahresende trotzdem versetzt.

Manche Arbeitgeber verlangen von Kandidaten für freie Stellen den Segundo Grau. Also erhöht Magrette durch den Abendkurs ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Also geht sie brav weiter jeden Abend zur Schule. Ob sie dabei besser Lesen und Schreiben lernt, bleibt ihr weitgehend selbst überlassen. Das ist ziemlich typisch für das Dilemma des brasilianischen Bildungssystems. Die Regierung frohlockt über Zahlen, die besagen, daß fast 100 Prozent der Schulpflichtigen tatsächlich die Schule besuchen – und vergisst dabei, daß jeder dritte schon in der ersten Klasse sitzenbleibt, daß reichlich 15jährige nicht über die dritte Klasse hinauskommen, daß nach der Grundschule die meisten nicht in der Lage sind, einen einfachen Text zu lesen und zu verstehen – und daß oft nicht mal die Lehrer ihre eigene Sprache beherrschen.

Demnächst könnte sich das alles ändern. Acht Milliarden Reais will Präsident Lula locker machen, damit das Bildungswesen endlich aus seiner Lethargie erwacht und Brasilien nicht länger Schlußlicht bei PISA- und anderen internationalen Studien bleibt. Eine Menge Geld, aber nicht die Menge macht die Hoffnung. Diesmal gehen die staatlichen Finanzspritzen verstärkt an die Schulen und Institutionen, die mit Erfolg arbeiten. Deren Schüler nicht nur irgendwie schulintern durch kommen, sondern die auch externe Prüfungen bestehen. Künftig, so der Plan, sollen nur noch „Berufstätige mit adäquater Ausbildung“ in der Erwachsenenbildung tätig werden. Für Magrette wird das vermutlich zu spät kommen. Aber vielleicht können andere nach ihr wirklich im Supletivo ihr Leben ändern.

Freitag, 23. März 2007

Zucker für die Welt

In fünf Jahren könnte es soweit sein. Brasilien endlich ganz weit vorne in der Weltwirtschaft – und die Idee dazu hatte – wer sonst - Arbeiterpräsident Lula.

Sie lautet: Zucker für die Welt! Da die weltweite Verbreitung des Null-Hunger-Programms im Sinne von "Brasilianisches-Brot-für-die-Welt" nicht so recht gelungen ist, soll jetzt der Bio-Treibstoff Ähnliches schaffen: Eine brasilianische Vorrangstellung weltweit. Lula und sein US-Kollege Bush sind überzeugt, daß Brasilien das Zeug zum führenden Ethanol-Produzent hat.

Grundsätzlich haben sie gar nicht unrecht: Brasilien produziert nicht nur seit etwa 30 Jahren den Sprit aus Zuckerrohr, es fahren hier auch inzwischen 80 Prozent aller Neuwagen „flexibel“ – will sagen: mit beliebigen Mischungen aus Benzin und Ethanol. Der Alkohol ist billiger und sauberer: Es riecht an stark befahrenen Strassen lecker süßlich nach Schnaps statt nach Kohlendioxyd. Und Brasilien ist mit seinem Zuckerrohr-Kraftstoff effizienter als alle anderen: In den USA kostet die Biosprit-Gewinnung aus Mais ungefähr das Doppelte und in Europa aus Rüben noch mehr. Daher die Idee: Wir könnten für die anderen mit produzieren. Gerade jetzt, wo infolge des Kyoto-Protokolls alle gerne sauberer fahren wollen, sogar die USA, die das Protokoll nicht mal unterschrieben haben.

Toller Plan. Und voll im Trend: Schon in den letzten Jahren ist die brasilianische Ethanol-Produktion heftig hochgefahren worden, auf 16 Milliarden Liter im Jahr. Dafür sind 3 Millionen Hektar Zuckerrohr-Pflanzungen nötig. Wie viele Arbeiter zum Ernten angeheuert werden, hat niemand gezählt, sind ja auch meist nur saisonale Kräfte. Wollte Brasilien den kompletten Ethanol-Bedarf der USA decken, müßte es 20 Millionen Hektar mit Zuckerrohr voll pflanzen. Von vielen Arbeitsplätzen und neuem Wohlstand sprachen die Präsidenten, als sie sich Anfang des Monats getroffen haben. „Und nicht vergessen: Ich war es, der diese Idee schon bei unserem letzten Treffen auf den Tisch gebracht hat“, betonte Lula mehrfach.

Man könnte auch sagen: Zurück zur Monokultur. Zurück in die Kolonialzeit. Denn um den konkurrenzlos niedrigen Ethanol-Preis trotz hoher amerikanischer Importzölle aufrecht zu erhalten, müßten wohl für Lulas rosige Zukunftsvision noch viel mehr Arbeiter so leben, wie es auf den Plantagen bis heute vielfach üblich ist: Jede Erntezeit bringt neue Nester menschenverachtender Verhältnisse ans Licht, wo moderne Wanderarbeiter 10-12 Stunden täglich mit der Machete das scharfe Zuckerrohr ernten, nach gescnittenen Tonnen bezahlt werden (und dabei auf weniger als einen gesetzlichen Mindestlohn im Monat kommen) und abends in feuchten Baracken unterkommen, wo sie weder fließendes Wasser noch warmes Essen vorfinden.

Angesichts der vielversprechenden Gewinnaussichten haben bereits Firmen aus USA, Frankreich, England und Singapur eigene Ethanolfabriken in Brasilien geplant, auch die Japaner – drittgrößte Spritverbraucher der Welt – wollen Biotreibstoffprojekte im Land finanzieren. Ob die Investoren danach fragen werden, wo ihr Rohstoff für den Biosprit herkommt?

Sonntag, 18. März 2007

Der Regen, der Umzug und allerlei Versprechen

Der Regen kommt in diesem Jahr zu früh. Schon seit Karneval gießt es die meisten Strassen zu Schlammfurchen, nicht nur mein Haus zu einer tropfenden Höhle und manche Menschen in Alkohol und Depression.

Bis einen halben Meter vor meinen Schreibtisch weht der Wind die Tropfen, als mein Vermieter vorbei kommt. „Du bist mir sympathisch“, hebt er voll alkoholisiertem Pathos an. „Wirklich, ich mag dich von Herzen“. Sein Besuch fällt zusammen mit dem Ende meines Zeitmietvertrags. Jederzeit verlängerbar, hatte er vor sechs Monaten beteuert, als ich mit Möbeln und Hunden, Pflanzen und Katze eingezogen war. Damals hatte er auch versprochen, das Haus regenfest zu machen.

Gleich nach der Beinahe-Liebeserklärung wird der Mann geschäftlich: „Wir können den Vertrag sofort verlängern.“ Nur. Er müsse ja auch leben. Also: Die doppelte Miethöhe müsse künftig schon drin sein. Strom extra, versteht sich. „Ist das ok für dich?“, fragt er strahlend. Leider ist es das nicht. Leider gibt es auch keinen Mieterbund hier. Aber zum Glück jede Menge freier Wohnungen in allen Strandorten, sobald die Regenzeit eingesetzt hat: Wer will dann schon noch an den Strand.

Ein neues potentielles Zuhause ist in wenigen Tagen gefunden. Angesichts des eingebrochenen Winters läßt sich Dona Fátima sogar um 15 Prozent runterhandeln. Und zwei Doppelschichten Streichen und sieben Farbeimer später sieht die Wohnung tatsächlich nach einem potentiellen Zuhause aus. Das beeindruckt Dona Fatima so, dass sie schuldbewusst meint: „Eigentlich müßte ich dieses häßliche Waschbecken in der Küche dringend auswechseln.“ Jaja, denke ich, kenne ich schon, habe ich alles schon gehört. Haus winterfest machen, Garten einzäunen, hat der letzte Vermieter auch erzählt. „Und für diese Badezimmertür müßte ich neue Farbe kaufen“, überlegt Fátima weiter. Ich lasse sie reden. Ich habe andere Sorgen.

Der Ort hier ist ziemlich klein. So klein, daß es keine Post, keine Apotheke und keine Bank gibt. So klein auch, daß es keinen Umzugslaster gibt. Deswegen habe ich im Nachbarort einen bestellt, schon vor Tagen. Als ich telefonisch den Termin bestätigen will, sagt der Mann: „Alles klar. Aber es regnet ziemlich viel. Der Schlamm, du weißt schon. Da muß ich ein bißchen mehr berechnen.“ Zwölf Stunden vor dem Umzug stapfe ich in der Abenddämmerung durchs Dorf auf der Suche nach Alternativen. Finde kleine Karren, mit denen mein Kram in einem Dutzend Fuhren noch nicht transportiert wäre. Und schließlich schon im Dunkeln den schmucken weißen Mini-Laster von Seu Chico.

Seu Chico hat einen Zweitwohnsitz mit Zweitfrau im Dorf und gerade seinen freien Tag. In einer Stunde sei er zu sprechen, erklärt die Zweite mit verwühltem Haar am offenen Fenster. In einer halben Stunde zähen (und teuren: am Handy!) Handelns drücke ich Seu Chico bis auf den Preis des Wagens aus dem Nachbarort. Jetzt fehlen nur noch die Möbelpacker. Arbeitslose Jungs gibt es genug. Drei davon versprechen freudig: sie sind morgen um acht vor meinem Haus.

Pünktlich um acht steht Seu Chico mit seinem Lkw vor meinem Haus. Keine Jungs. Die Spontanauswahl ist gering. Lese ein paar schlaftrunkene Gestalten aus der Strandkneipe auf, die sich mehr mitziehen lassen, als daß sie freiwillig kommen. Stelle mich taktisch in den Weg, damit sie beim Anblick der Massivholzmöbel nicht gleich wieder fliehen.

Sie fliehen nicht. Nicht mal, als sich herausstellt, daß Seu Chico nicht bis an Fátimas Haus fahren kann und wir alles die letzten hundert Meter den Berg hinauf tragen müssen. Bei strahlendem Sonnenschein und über 30 Grad. Am eifrigsten schleppt Fatimas 14jährige Tochter. „Ph“, sagt sie jedes Mal, wenn einer der Jungs ihr ein schweres Teil abnehmen will. Zwischendurch holt sie kühles Wasser für uns aus allen Nachbarhaushalten.

Irgendwann sind wir tatsächlich fertig. Mittags sitze ich allein zwischen Kisten, draussen entladen sich gewaltige schwarze Wolken, und es regnet nirgends rein. Dann bemerke ich: Fátima hat ein neues Waschbecken einbauen lassen. Darauf steht die Dose Farbe für die Badezimmertür.

Sonntag, 11. März 2007

Besser parken

Wieso sie diese lächerlichen Staubtücher in der Hand halten, habe ich nie so recht verstanden. Autos werden ja in diesem Sinn nicht abgestaubt. Wahrscheinlich ist es eher so eine Art inoffizielle Uniform. Jedenfalls haben die Tücher den Typen ihren Namen gegeben: Flanelinhas.

Ich habe in Brasilien bislang noch keine Parkuhr entdeckt. Vielleicht gibt es im angeblich organisierten Süden welche. Hier im kreativ chaotischen Nordosten wedelt hingegen unverzüglich einer mit einem Staubtüchlein herum, sobald ein Autofahrer seinen Wagen in einer Innenstadtstrasse abbremst. Mit großen Gesten preist der Flanelinha seine perfekte Parklücke an, die er dem Ankömmling extra reserviert hat. Ohne einen Flanelinha zu parken, geht eigentlich nur in Parkhäusern und in der Pampa.

Flanelinhas sind inoffiziell, halb- bis illegal – und eine tolle Sache. Der Deal funktioniert so: Die Jungs sind jeweils Herrscher über eine bestimmt Menge zahlungspflichtiger Parklücken mit begrenzter Parkdauer. Für zwei Reais vergeben sie Parkzettel, in die Autonummer und Ankunftszeit eingetragen werden. Am nächsten Kiosk kosten die gleichen Parkzettel nur einen Real. Die Flanelinhas sind natürlich keine Betrüger. Sie nehmen den Autofahrern erstens das Ausfüllen ab und verpflichten sich zweitens, auf den Wagen gut aufzupassen. Gegen einen geringen Aufpreis waschen sie ihn sogar.

Viel wichtiger ist aber, daß die Flanelinhas alles möglich machen. „Doktor (sie nennen jeden halbwegs ordentlich angezogenen Menschen Doktor, das schmeichelt), natürlich habe ich einen Platz für den Herrn“ sagen sie, wenn einer im größten Rummel angefahren kommt, und alles hoffnungslos besetzt scheint. Was heißt scheint – es IST alles besetzt. Macht nix. Einfach in die verbotene Zone gleich dahinter stellen, Handbremse nicht anziehen, Gang raus, fertig. Der Flanelinha kennt seine Kunden, begrüßt Stammparker mit Namen, fragt nach den Kindern und weiß natürlich, daß der Fahrer des weißen Fiat vor einem nur mal eben ins Amtsgericht gegangen ist, daß die Politesse gerade vor zwei Minuten hier war und also frühestens in zwanzig wieder vorbeikommt. Bis dahin steht niemand mehr im Parkverbot. Kann Parken besser organisiert sein?

Den Versuch gibt es. In Rio sind die Flanelinhas seit zehn Jahren offiziell anerkannt. Sie dürfen die Parkzettel mit behördlicher Billigung für zwei Reais verkaufen – der Handel am Kiosk ist verboten. Es gibt sogar eine Flanelinha-Statistik in Rio: 5000 Freiberufler sind mit ihren Staubtüchlein unterwegs. Sie verwalten 43.000 Parkplätze. Besser läuft das Parken in Rio deswegen nicht. Zur Zehn-Jahresfeier der offiziellen Berufsgenehmigung hagelt es Beschwerden: Staubtuchwedler lotsen Autofahrer ins Parkverbot, um mehr zu verdienen als die ihnen zugeteilten Parkplätze hergeben, meckern die Kunden. Und manche berechnen gar die Gebühr und rücken hinterher den Parkzettel nicht raus.

Da sieht man mal wieder, daß zu viel Reglementierung zu Trägheit verleitet. Anscheinend haben es die offiziellen Flanelinhas in Rio nicht raus, ihre Kundendaten auswendig zu lernen und die Politessen ordentlich zu beobachten. Und die Autofahrer haben es nicht raus, einfach mal den Gang rauszunehmen. Oder selbst zu gucken, ob sie im Parkverbot stehen. Oder erst zu zahlen, wenn sie den Parkzettel schon in der Hand halten. Dabei tragen die Jungs in Rio als Uniform sogar eine graue Weste und es gibt ein offizielles Beschwerdetelefon: Da rufen im Monat sechzig unzufriedene Kunden an. Man könnte fast vermuten, inoffiziell parkt es sich besser.

Dienstag, 6. März 2007

Individuelle Spenden

Die Brasilianer sind so was von individuell. Ganz bestimmt die im Nordosten. Und ich wette, die meisten wissen das nicht einmal. Die meisten meckern einfach – wie meine Nachbarn, meine Vermieter und diverse Bekannte – seit ein paar Monaten ganz besonders über hohe Stromrechnungen. In der Menge war das schon etwas verwunderlich, weil von den mir bekannten Fällen niemand eine Mikrowelle, einen Deckenventilator oder sonstige Stromfresser neu angeschafft hat, die das Phänomen erklären könnten. Im Gegenteil, hier in Pernambuco hat der frisch gewählte Gouverneur sogar versprochen, gleich nach der Wahl die Strompreise zu senken. Weil zugegebenermaßen viele schon im letzten Jahr und vor der Wahl gemeckert haben.

Die aktuelle Rechnung meines Nachbarn – Single, PC-User, kein Ventilador, keine Mikrowelle – beläuft sich auf 39 Reais. Klingt gar nicht so schlimm. Nur hat er im Vormonat vier Kilowattstunden mehr verbraucht und dafür knapp 20 Reais bezahlt, wie die statistischen Angaben auf der Rechnung zeigen. Hm. Sonst stimmt alles, Privathaushalt-Tarifklasse, abgelesene Werte. Was kostet denn so eine Kilowattstunde? Ein Vergleich zeigt: Ich bezahle pro kwh 0,12 Reais. Meine Nachbarin bezahlt 0,35, und Ricardo 0,49. Und die erst seit der letzten Rechnung. Vorher waren es bei ihm 0,15 (bis 30 Kilowattstunden) und 0,26 Reais (für alles, was darüber liegt).

Beim genauen Studium der Rechnungen fällt noch etwas anderes auf: Die aktuelle Rechnung weist neben dem üblichen Beitrag zur Strassenbeleuchtung einen weiteren Posten auf, der sich Spendenkampagne nennt. In Klammern dahinter steht nicht erstattbar. Ich erinnere mich, irgendwo gelesen zu haben, daß neuerdings per Stromrechnung gespendet werden kann, für irgendein Kinderprojekt. Kann. Auf der Rechnung ist weder erkennbar, welches Projekt von der Spendenkampagne profitiert, noch, wie es anzustellen ist, wenn einer nicht spenden will. Ricardo spendet schon seit drei Monaten fleißig – er hat es nur nicht gemerkt.

Überhaupt sollte man der Lektüre der Stromrechnung – und zwar von allen Seiten – deutlich mehr Sorgfalt widmen. Die wichtigsten Infos verbergen sich auf der bunten Außenseite: Wer alles rechtzeitig bezahlt, kann nämlich sogar gewinnen. Und zwar einen vollkommen kostenlosen Hamburger – wenn er ein Lokal der Fastfood-Kette Bob’s aufsucht und dort zuerst einen Hamburger mit kleinem Getränk bestellt und bezahlt. Hätte man mal früher wissen müssen. Dann hätte man auch rechtzeitig gezahlt. Zum Beispiel mit der Hipercard, der Kreditkarte eines Supermarktes. Wer die Stromrechnung mit der begleicht, gewinnt automatisch eine zusätzliche Frist von 40 Tagen – und kann derweil fleissig Hamburger spachteln.

Ganz klein steht über der Hipercard-Geschichte auch noch: Du spendest, und dein Team gewinnt. Alle Fußballfans mal herlesen: Zeig deinem Verein, daß du ein besonderer Fan bist. Gestatte die Spende von einem Real auf deiner Stromrechnung – und sie wird dem Verein deiner Wahl zukommen. Daneben ist eine Telefonnummer angegeben. Das läßt zumindest hoffen, daß die Fußballspende nicht automatisch mit der nächsten Rechnung abgebucht wird, wie die Spendenkampagne. Ob man die auch über diese Servicenummer abbestellen kann? Oder muß man sich da beim Energieversorger in die Schlange stellen und persönlich vorsprechen? Am besten gleich morgen, denn die Zwangsspenden sind ja. nicht erstattbar

Im Internet, wo man zum Glück auch in Brasilien fast alles nachgucken kann, findet sich schliesslich eine lange Liste der Strompreise des ganzen Landes. Am teuersten ist demnach die Energie im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, mit 0,41 Reais pro kwh, am billigsten im Amazonas mit 0,24 Reais. Pernambuco liegt irgendwo dazwischen mit 0,33 Reais pro kwh. Soweit so übersichtlich. Nur sind die offiziellen 0,33 Reais auf den mir vorliegenden Rechnungen nirgendwo berechnet worden. Dabei ist dieser Tarif laut Internetauskunft der Stromanbieterkontrollorganisation noch bis 28. April gültig. (Über die diesjährige Erhöhung wird diskutiert, es drohen rund 10 Prozent.)

Auch ein neuer Blick auf die Rechnungen bringt keine Aufklärung. Nur so viel: der Strompreis ist seit Wahl des Gouverneurs tatsächlich gesunken. Will sagen: die Steuer auf den Strom ist gesunken. Registrierte sozial schwache Familien, die nicht mehr als 50 Kilowattstunden im Monat verbrauchen, zahlen gar keine Steuer mehr. Und die anderen immerhin fünf Prozent weniger als vorher. So steht es auf einer der Rechnungsrückseiten. Das ist doch mal ein gehaltenes Wahlversprechen. Und nicht mal individuell verschieden. Das wissen bestimmt die meisten auch nicht.

Samstag, 3. März 2007

Die Nummerngucker haben Recht

Aus Deutschland kannte ich das nicht. Diese Manie, erst aufs Display zu gucken, wenn das Handy klingelt. Nach der Lesebrille zu tasten, notfalls so lange zu brauchen, daß es darüber aufhört zu klingeln. Aber auf jeden Fall nur dann ranzugehen, wenn die Nummer eines Bekannten aufleuchtet. Unbekannte gnadenlos wegzudrücken. Immer. Verstanden habe ich das nicht. Bißchen affig fand ich das. Bis vor kurzem.

Es gibt ja so endemische Verbrechen hier in Brasilien. Zum Beispiel die Blitzentführung, bei der bewaffnete Entführer einen Autofahrer mal eben zwingen, sie zum nächsten Geldautomaten zu kutschieren, dort so viel abzuheben, wie Konto und Automat hergeben, alles brav auszuhändigen – und ihn dann wieder frei lassen. Eine meist schnell erledigte, unkomplizierte und relativ gewaltfreie Angelegenheit, gegen die Gesetzeshüter wenig machen können. Jetzt ist den kriminellen Kreativköpfen noch etwas Besseres eingefallen. Geht sogar aus dem Knast - und da sitzen auch die meisten der Adepten der neuen Methode.

Die geht so. Das Handy klingelt. Maria Musterfrau geht dran. Ein Unbekannter erklärt mit hektischer Stimme: „Hier ist die Polizei von der Unfallstelle – einer der Schwerverletzten hat uns Ihre Nummer gegeben, bevor er ohnmächtig wurde. Haben Sie einen Ehemann oder Sohn, der gerade mit dem Auto unterwegs ist?“ In den meisten Fällen schreit die Maria jetzt entsetzt: „Joao!“ oder „Carlos!“ – und dann geben sich auch schon die Entführer zu erkennen: „Es handelt sich nicht um einen Unfall, wir haben Ihren Joao in unserer Gewalt.“ Dann werden - meist vergleichsweise bescheidene -Geldforderungen geäußert und gleich die Übergabe vereinbart. Manchmal weint auch nur eine Stimme „Mama sie haben mich“ in den Hörer – mit gleicher Schockwirkung. Klingt absurd? Funktioniert aber bestens.

Im letzten Jahr wurden der Polizei allein aus vier Großstädten mehr als 10.000 solcher Telefonentführungen angezeigt – etwa jeder Fünfte der Angerufenen zahlte das geforderte Lösegeld. Die Angst um Angehörige bringt die Menschen offensichtlich kurzfristig um ihren Verstand: Die Polizei liegen Aufnahmen von Entführergesprächen vor, wo eine weinende Männerstimme „Mama“ ruft, und anschließend die vermeintliche Mutter den Namen einer Tochter in den Hörer stammelt. Es ist sogar ein Fall bekannt, wo ein Polizist, der zuvor bereits selbst solche Telefonentführer gefaßt hatte, später trotzdem Opfer des gleichen Tricks wurde. Zum einen reißen die Entführer ihre Opfer gerne frühmorgens aus dem Schlaf, zum anderen ist die Angst vor Entführung ein kollektives Trauma der Brasilianer. Noch bevor sie richtig wach sind, kommt ihnen alles ganz folgerichtig vor, nach dem Motto: Jetzt hat es mich erwischt, mußte ja irgendwann mal so weit kommen. Die meisten versuchen nicht einmal, die angeblich entführte Person über ein anderes Telefon mobil zu erreichen, bevor sie einwilligen zu zahlen.

Meine Chance, von den Telefonentführern erwischt zu werden, ist zum Glück eher gering - ich habe keine Kinder, mein Handy ist oft ausgeschaltet, und wenn ich unterwegs bin, vergesse ich es meistens zuhause. In letzter Zeit finde ich nach solchen Abwesenheiten allerdings immer häufiger verpaßte Anrufe von mir unbekannten Nummern. Früher hätte ich die zurückgerufen. Aus Neugier. Mache ich jetzt nicht mehr. Klingelt das Ding, wenn ich es dabei habe, gehe ich zwar immer noch oft einfach so dran. Aber das werde ich mir jetzt vorsichtshalber abgewöhnen. Von wegen affig: Die Nummerngucker haben Recht.
 
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