Sonntag, 21. Dezember 2008

Wunsch an die Leser

Wieder ein Jahr beinahe am Ende. Angeblich liegt das am fortgeschrittenen eigenen Alter, wenn die Jahre immer schneller verfliegen. Manchmal scheint es, als könne die steigende Geschwindigkeit auch an den Ereignissen liegen, die sich immer schneller wiederholenden oder gar potenzieren.

Um dabei nicht völlig den Überblick zu verlieren, neigt das menschliche Hirn dazu, um den Jahreswechsel abzurechnen, aufzurechnen, zusammenzurechnen. Und? Wie war das so in 2008?

Für Brasilien war es ein Jahr mit reichlich Superlativen. Der Präsident hat es geschafft, mitten in der Krise laut Umfragen 70 Prozent Zustimmung zu seiner Person und Politik zu erreichen. Seine Partei hat es geschafft, mehr Korruptionsskandale auszulösen, als alle anderen vor ihr. Die Richter des Obersten Gerichtshofs haben es zum ersten Mal in der Geschichte des Gerichtshofs geschafft, über einen Kollegen zu richten: wegen Korruptionsvorwürfen. Mit den Entdeckungen der riesigen Ölvorkommen unter dem Meer schien Brasilien ein paar optimistische Momente lang künftige Heimat von Latino-Ölscheichs – dann zerbrach der Traum an krass sinkenden Ölpreisen und dem voraussichtlich extrem komplizierten Abbau der schwarzen Reichtums. Tröstend winken die Tatsachen, dass die internationale Krise bislang gnädig mit dem größten Land des Kontinents verfahren ist – und dass Brasilien in der Runde der G20 ständig an Gewicht gewinnt.

Und für diesen Blog? Stand ein nicht ganz freiwilliger Umzug aus den Seiten von zeit.de nach blogspot.com auf dem Plan. Manche Leser sind offenbar mitgekommen. Wie viele, ist schwer zu beurteilen, denn das Bloggen ist im Grunde ein einsames Geschäft: Solange sich die Leser nicht zu Wort melden, habe ich keine Ahnung, wer sie sind, was sie denken, ob sie überhaupt noch da sind. Tatsache ist: Seit dem Umzug melden sie sich deutlich weniger zu Wort. Heißt das, es sind deutlich weniger geworden? Oder haben sie nur weniger zu sagen? Und wenn sie zu eher privat gefärbten Posts mehr Meinung zeigen, bedeutet das, die politischen Posts interessieren sie weniger? Oder sind die politisch Interessierten nur schreibfauler? Fragen über Fragen.

Zum Jahreswechsel gehören außérdem gute Vorsätze und fromme Wünsche. Ich wünsche mir für 2009 weniger Blogger-Einsamkeit.Statt dessen großzügige Kommentare: Es darf erzählt, verglichen, gemeckert, gelobt, ergänzt oder verlinkt werden!

Mein Vorsatz: Im Januar geht es weiter mit dem Blog. Bis dahin: reichlich gedeckte Gabentische, einen üppigen Weihnachtsschmaus und eine tolle Party!

Dienstag, 16. Dezember 2008

Schöne Grüße ins Herrenhaus


Hier auf dem Dorf ist manches noch wie in alten Zeiten. Grund und Boden etwa gehören den Großgrundbesitzern. Das ist eine einzige Familie, die mehr als hundert Hektar Kokoshaine, Mangowälder, Cashewpflanzungen und Wiesen ihr Eigen nennt. Der Familienbesitz umfasst mehr als die Hälfte des Dorfes, reicht auf der einen Seite bis fast ans Meer, auf der anderen bis an die Mangrovensümpfe am Flussufer und an der dritten bis weit in den Naturpark hinein.

So groß ist das Ganze, dass die Besitzer nicht immer den Überblick behalten und es schon einigen frechen Invasoren gelungen ist, heimlich Lehmhütten und sogar richtige Häuser aus Ziegelsteinen auf dem fremden Land zu errichten. Wenn solche Häuser erst mal eine ordentliche Weile stehen, können die Bewohner nur noch gegen Zahlung einer Entschädigung vertrieben werden. Auf der Naturpark-Seite, wo die Rechtslage ohnehin ungeklärt ist, lohnt sich das womöglich gar nicht.

Der alte Patriarch machte das früher anders: Er erlaubte seinen Arbeitern, ihre bescheidenen Behausungen auf einem ihnen zugewiesenen, möglichst wertlosen Stück Land zu errichten, dokumentierte die Rechtslage: das Haus gehörte den Arbeitern, das Land dem Patrao, und erhob jährlich eine Nutzungsgebühr. Regelungen aus längst vergangenen Zeiten.

Kürzlich lud mich meine Nachbarin Dona Bella für ein Schwätzchen auf ihre Terrasse ein. Wir wohnen oben auf dem Hügel, wo der Boden sich nicht sonderlich zum Pflanzen eignet, aber immer ein frischer Wind vom Meer weht und der Blick weit reicht. Dona Bella, eine drahtige Person von vielleicht siebzig Jahren, hat in ihr Haus reichlich investiert, damit es dem Prototyp des guten Geschmack nach Auffassung der Dorfbewohner entspricht: Terrasse und sämtliche Fenster sind mit kostspieligen Eisengittern versehen, die Fussböden sind weiß gekachelt, die Straßenfront ist sauber verputzt und weiß gekalkt. Auf den anderen Seiten zeigen sich rohe Ziegelwände, weil Besucher die im allgemeinen ja nicht zu sehen bekommen. Von der Terrasse aus hatte Dona Bella früher einen Ausblick übers ganze Land. Seit ein paar Wochen sieht sie statt dessen auf den Blechunterstand für das Auto ihres jüngsten Sohns. Das stört sie nicht: Ist auch ein Zeichen des noch frischen Wohlstands, den ihre insgesamt neun Kinder erwirtschaftet haben.

Früher war das anders. Da stand hier ein windschiefes Lehmhaus neben dem anderen. Im Winter regnete es manchmal dermaßen durch die Palmwedeldächer, dass mehrere Nachbarinnen im dichtesten Haus zusammen krochen. So erzählt Dona Bella. Sie sei mit so wunderbaren Nachbarinnen beschenkt, sagt sie, „wie Schwestern, die ich nicht gehabt habe“. Früher habe sie unten im fruchtbaren Land auch Pflanzungen gehabt, als der Patriarch noch lebte. Maniok und Tomaten, ein bisschen Zuckerrohr und Süßkartoffeln, hauptsächlich für den Eigenbedarf. Die Nachkommen des Alten wollten das dann nicht mehr. Aber das seien auch so feine Leute. Haben gar nichts gesagt, obwohl sie dieses Jahr ihre Nutzungsgebühr noch nicht bezahlt habe, weil sie doch so viele Krankenhauskosten hatte.

Nutzungsgebühr? Aber ja, die gibt es immer noch. Seit einem halben Jahrhundert zahlt Dona Bella und hat insgesamt längst mehr entrichtet, als ihre Parzelle ohne Grundbucheintrag überhaupt wert ist. Aber so denkt Dona Bella nicht. Sie sorgt sich, weil sie nach ihrer Herzoperation noch nicht wieder sicher genug auf den Beinen ist, um der Großgrundbesitzerin einen Besuch abzustatten. „Wenn du Dona Darcy mal siehst, richte ihr doch bitte meine Grüße aus und erkläre ihr, dass ich sie besuche, sobald ich kann“, bittet mich Dona Bella. Ein Gruß wie aus der Sklavenhütte ins Herrenhaus.

Dienstag, 9. Dezember 2008

Mogelpackung Mindestlohn


Mit der Zeit entpuppt sich mancherlei als Mogelpackung in diesem Land. Zum Beispiel das Gerücht, dass am Strand von Ipanema nur die gleichnamigen Girls mit den perfekt modellierten Körpern flanieren. Klar gibt es dort sensationelle Strandschönheiten - meist umringt von mindestens Hobbyfotografen. Manchmal handelt es sich auch um professionelle Models, die von Profifotografen in den Sand bestellt wurden, weil sie mal wieder das Klischee illustrieren sollen. Dazu brauchen sie Models, weil die normale Carioca durchaus einen Bauchansatz oder gar Hüftgold dabei hat, wenn sie sich in die Wellen stürzt. Echt wahr. Sagt nur keiner, und zeigt erst recht keiner auf Fotos. Damit nicht genug der Demontage: Es ist nicht nur manche Carioca nicht perfekt, es kann nicht einmal jeder Brasilianer Samba tanzen. Wen wundert es angesichts solcher Fakten, wenn reichlich Brasilianer weniger als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn pro Monat verdienen?

Das statistische Bundesamt verzeichnet, dass „nur noch“ etwa jeder fünfte Brasilianer mit maximal einem halben Mindestlohn im Monat auskommen muss – im Nordosten sogar jeder dritte. Die Hälfte der Bevölkerung des Landes kann immerhin über zwischen einem halben und zwei Mindestlöhnen verfügen. Dieser salário mínimo liegt momentan bei 415 Reais, umgerechnet knapp 140 Euro. Wenn man bedenkt, dass eine Gasflasche zum Kochen zurzeit 35 Reais und ein Kilo Brot 6 Reais kostet, dann ist es erstaunlich, wie solche Geringverdiener überhaupt überleben. Aber das interessiert manch anderen wenig.

Zum Beispiel Nelsinho. Den Besitzer einer Zuckerrohrplantage hier im Nordosten habe ich über gemeinsame Bekannte vor einigen Jahren kennengelernt – damals mein erster Kontakt mit einem „Coronel“; wie die einfachen Leute bis heute die besser Gestellten nennen. Der Coronel trug einen imposanten Bierbauch zur Halbglatze und jovialem Lächeln und erzählte mir gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft sichtlich stolz, dass er seine neue Köchin für deutlich weniger als den Mindestlohn eingestellt habe: schließlich äße sie mittags meistens Reste und müsse also kaum Lebensmittel einkaufen. Ich war damals zu geschockt, um gleich geistesgegenwärtig zu fragen, ob sie mit den Resten auch ihre Kinder zu Hause ernähren sollte.

Später lernte ich Seu Antonio kennen, stolzer Empfänger eines kompletten Mindestlohns, der nur gelegentlich ein paar Wochen verspätet ausgezahlt wurde. Seu Antonio arbeitete auf einem ländlichen Anwesen von vielleicht zwei Dutzend Hektar Größe. Dort versorgte er 20 Milchkühe, ein Dutzend Rinder, sechs Pferde und diverses Geflügel. Molk morgens und abends mit der Hand, schnitt karrenweise Futtergras, da die Weiden mager waren, verabreichte Medikamente und raspelte Hufe, flickte Zäune und baute materialkostenfrei Unterstände aus selbst geschnittenen Pfosten und Kokospalmwedeln. Weil das reichlich Arbeit für einen einzigen Mann ist, half ihm sein zwölfjähriger Sohn in jeder Minute, die der Knirps nicht in der Schule verbrachte. Seu Antonios Frau sammelte die Früchte der Obstbäume, röstete Cashewkerne, fegte das Areal rund um die Gebäude und putzte das Herrenhaus, wenn die Familie des Besitzers sich angekündigt hatte. Manchmal kündigte sie sich nur an und kam dann doch nicht. Dann hatte Seu Antonios Frau umsonst geputzt. Streng genommen tat sie das ohnehin immer, denn Lohn bekam nur Seu Antonio. Gekündigt hat der alte Viehzüchter erst, als sein knausriger Chef ihm vorschreiben wollte, wie er die Rinder zu behandeln hätte.

Meine Freundin Patrícia arbeitet seit einem Jahr als Kassiererin in einem Supermarkt für einen Mindestlohn im Monat – obwohl sie wegen der größeren Verantwortung an der Kasse 759 Reais verdienen müsste – 80 Prozent mehr. Sie steht von morgens um halb acht bis abends um zehn im Laden, kassiert, putzt, füllt Regale auf. Eine Stunde Mittagspause, sechseinhalb Tage die Woche, ein Monat Ferien im Jahr. Leider hat sie mich dieses Jahr in den Ferien wieder nicht besucht, weil die Chefin ihr das Urlaubsgeld erst am Ende des Monats ausgezahlt hat und Patrícia deswegen ihre ganzen Ferien pleite zuhause verbracht hat. Kündigen? Denkt sie oft drüber nach. Aber dann sagt sie: „Wer weiß, ob ich danach etwas anderes finde“. Vorsichtshalber bewerben? Geht nicht, denn die potentiellen neuen Arbeitgeber rufen gerne beim Noch-Chef an, um sich dessen Urteil anzuhören. Und wer schon auf dem Absprung ist, hat dann manchmal schnell keinen Noch-Chef mehr.

Meine Erfahrungen ohne statistischen Wert: Die Leute können noch so schlecht behandelt werden, sie kündigen nicht. Nicht hier im Nordosten auf dem Land. Dabei sind die hier zitierten Fälle unendlich steigerbar, immerhin ist auch in Brasilien Krise. Kürzlich etwa erzählte mir ein Angestellter der Großgrundbesitzerfamilie hier im Dorf, dass er neuerdings nicht mehr angestellt sei, weil die Erbengemeinschaft, die den Besitz jetzt verwaltet, sparen wolle. Seitdem kommt er immer noch sieben Tage die Woche von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends zur Arbeit. Nur verdient er jetzt nicht mehr einen Mindestlohn inklusive Sozialabgaben, sondern nur noch 80 Reais pro Woche. Um auszurechnen, wie viel das im Monat macht, fehlt ihm die Schulbildung. Es sind beschämende 320 Reais, kaum mehr als 100 Euro. Was nutzt es ihm da, wenn der gesetzliche Satz demnächst wieder angehoben wird? Für ihn ist der salário mínimo nur eine Mindestlohn-Mogelpackung.

Dienstag, 2. Dezember 2008

Der Leibhaftige hilft nicht


Xuxa ist es in den nahezu dreißig Jahren ihrer Karriere gewohnt, im Rampenlicht zu stehen, und normalerweise genießt die inzwischen 45Jährige blonde Kindermoderatorin den Rummel. In letzter Zeit hätten ihr bessere Quoten bei ihrer Samstagsshow sogar gelegentlich gefehlt. Manche meckern schon, Xucas beste Zeiten seien vorbei.

Und dann kamen die Schlagzeilen - allerdings anders als erwartet. In einer Auflage von sensationellen drei Millionen, davon können die Medienmanager in der Krise nur träumen. Die „Folha Universal“ schafft solche Traumzahlen mit einem schäbig gedruckten Printprodukt, das erst kürzlich auch außerhalb der Igreja Universal do Reino de Deus bekannt wurde. Auf dem Titel der Ausgabe Nummer 855 der Folha Universal, die eine Woche im August unter Gläubigen kursierte, starrt Brasiliens Ikone, die 45jährige Xuxa, leicht irr ins Leere. Überschrieben ist das Bild mit „Pakt mit dem Dämon“, darunter heißt es: Mein König „Exux“ – in Anlehnung an die afro-brasilianische Religion des Candomblé, in der „Exu“ nicht nur Vermittler zwischen Menschen- und Geisterwelt ist, sondern von manchen auch mit dem Teufel gleich gesetzt wird.

Erfolg ruft Neider auf den Plan, das ist in Brasilien nicht anders. Und Xuxa ist vielleicht die erfolgreichste Brasilianerin überhaupt: Bereits im Jahr 2002 wurde ihr privates Vermögen mit 250 Millionen Reais angegeben, damals verdiente sie bei TV-Globo jeden Monat 2,2 weitere Millionen. In ihrer bisherigen Karriere hat die Sängerin insgesamt beinahe 900 Lieder aufgenommen, rund 30 Millionen Platten, CDs etc. verkauft und steht damit auf dem zweiten, fünften, sechsten und achten Platz der zehn Top-Seller-Alben Brasiliens.

In der Folha Universal stand also im August, Xuxa habe einen Pakt mit dem Leibhaftigen geschlossen. Für 100 Millionen Dollar habe sie dem Teufel ihre Seele verkauft. Die TV-Kinder-Tante Brasiliens spende Blut für den Satan, wer ihr Lied „Hündchen Xuxo“ rückwarts abspiele, höre Teufelsanrufungen, und die Xuxa-Puppe terrorisiere Kinder.

Irgendwie ist Missionar Josué spät dran mit seinen Leibhaftigen-Vorwürfen. Bereits als Xuxa in den 1980ern ihren Aufstieg in den Himmel der Kinder begann, regnete es solche gehässigen Kommentare. Und weil ihren seichten Liedtexten nicht viel anzudichten war, hieß es damals: spiele man das Stück „a vida é doce, doce, doce“ (das Leben ist süß, süß, süß) rückwärts ab, sei: sangue, sangue, sangue (Blut, Blut, Blut) zu hören. Entweder hat Josué also abgeschrieben, oder selbst erfunden. Dass die Xuxa-Puppen nachts Kinder erdrosseln, haben wir schon vor Jahren gehört, und außerdem hat Xuxa den Höhepunkt ihrer Karriere, egal ob mit oder ohne Dämonenhilfe, längst überschritten.

Paulo Coelho, Ozzy Osborne, Alice Cooper und die Rolling Stones sind übrigens laut dem Kirchenmann ebenfalls dem Dämon verfallen. Geklagt hat bislang nur Xuxa. Vielleicht, weil sie damit bis zu drei Millionen Reais Schmerzensgeld verdienen kann. Offiziell sagt sie: Weil sie „alle Religionen respektiert, Liebe und Glauben für Gott empfindet und ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet hat, Gutes zu tun, wie etwa in der nach ihr benannten Stiftung“. Fast könnte man meinen, Xuxa sei wirklich besorgt.

Grund hätte sie dafür eher einen anderen: Neuerdings macht ihr ein sechsjähriger Lockenkopf namens Maisa heftige Quoten-Konkurrenz. Der minderjährigen Samstags-Moderatorin wird vermutlich als nächster Teufelsanbetung unterstellt, denn frech ist die erfolgreiche Kleine auch noch.

Foto: Fototapete Xuxa von deviantart.com
 
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