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Samstag, 18. September 2010

Friedenspolizisten, Politskandale und Star-Kandidaten


Während der finanziell ruinierte Star-Fußballer Romário sein Glück als Polit-Kandidat versucht und Dilma Rousseff unter dem Skandal der Freundin Erenice leidet, bin ich in Rios Favelas unterwegs und gucke mir an, was die Friedenspolizisten hier so machen.

In der ältesten Favela des ganzen Landes steht ganz oben hoch über dem Hafen der Stadt eine winzige Kapelle. In der hängt ein einfaches Holzkreuz, und die weiß gekalkte Wand dahinter zieren mehrere Einschuss-Löcher. Drastischer lässt sich kaum illustrieren, wie ein ziviler Kriegszustand aussieht. Trotzdem sind nicht alle Anwohner froh über die bewaffnete Polizei-Präsenz, die seit Monaten Schießereien verhindert. Weil sie auch den illegalen Handel mit geraubten Waren und Fälschungen unterbindet, den Drogenhandel erschwert und überhaupt das ganze Morro in eine andere Lebensrichtung drängt.

Heute Nacht wird in der City of God ein Baile Funk stattfinden, einer dieser Party-Spektakel mit pornografischen Tänzen und harten Texten, die früher von Drogenbossen genehmigt wurden und mit reichlich Drogen und Waffen garniert waren. Dieser Baile ist vom Polizei-Kommandant genehmigt und wird von der Schocktruppe bewacht. Vielleicht gucke ich mir das an - wenn die Cidade de Deuzs nur nicht so furchtbar weit weg wäre.

Jedenfalls ist dies eine spannende Zeit - auch wenn viele skeptisch sagen: das ist nur Wahlkampf, spätestens nach der Olympiade ziehen die ihre Polizisten wieder ab. In der Zwischenzeit bewirken die Polizisten etwas. Und ob das nach der Olympiade noch jemand rückgängig machen kann, ohne sich politisch total zu verbrennen, das ist eine ganz andere Frage.

foto: wollowski

Mittwoch, 18. August 2010

Lulas emotionale Ignoranz


Vielleicht liegt es daran, dass er so beliebt ist. Mehr als 80 Prozent Zustimmung, und das in einem Land mit 190 Millionen Einwohnern, das kann einem Mann schon den Kopf verdrehen. Es ist fast zu hoffen, dass Lula nicht in normaler Verfassung war, als er kürzlich den bisher gröbsten Unfug seiner ohnehin nicht gerade rühmlichen Diplomatie-Geschichte verkündete.

Dabei gab es durchaus ähnliche Fälle in der Vergangenheit, aus denen Brasiliens charismatisches Oberhaupt hätte lernen können. Zum Beispiel die Episode bei seinem Kuba-Besuch, als er sich weigerte, die politischen Gefangenen zu besuchen oder auch nur freundliche Worte für sie zu finden. Arrogant und befremdlich wirkte es, als der ehemals selbst wegen seiner Gesinnung inhaftierte Lula die inhaftierten Oppositionellen auf Fidels Insel mit gemeinen Verbrechern in Sao Paulo gleich setzte. Politisch richtig peinlich wurde es, als die spanische Regierung und die katholische Kirche sich erfolgreich für die „gemeinen Verbrecher“ einsetzen.

Doch Lula kann noch schlimmer. Nicht nur, dass er sich neben diversen afrikanischen Diktatoren und den Südamerikanern Chavez und Morales ausgerechnet Ahmadinejad als neuesten Busenfreund ausgesucht hat. Er stellt diese Busenfreundschaft außerdem nonchalant über die Menschenrechte. Gefragt, ob er sich für die zur Steinigung verurteilte Iranerin Sakineh Mohammadi Ashtiani einsetzen würde, sagte Lula: „Da ist Vorsicht erforderlich, denn die Leute haben Gesetze, die Leute haben Regeln. Wenn sie anfangen würden, ihre eigenen Gesetze zu missachten, um den Bitten von Präsidenten nachzukommen, dann wird es bald lächerlich.“ Daraus ließe sich problemlos schlussfolgern: Die Menschenrechte zu respektieren scheint Lula lächerlich.

Ein paar Tage später schienen dem brasilianische Präsident Zweifel über seine eigene Aussage gekommen. Jedenfalls kam er bei einer Wahlkampfveranstaltung für seine Wunschnachfolgerin noch einmal auf Sakineh zu sprechen. In der ihm eigenen spontanen und lässigen Art, mit der er die Wähler so spielend für sich gewinnt, lancierte er etwas, was er selbst als „humanitären Appell“ bezeichnete und kündigte an, er werde seinen Kumpel Ahmadinejad anrufen, um über den Fall zu sprechen. Den Appell formulierte Lula folgendermaßen: „“Wenn diese Frau Unbehagen auslöst, werden wir sie gerne hier in Brasilien aufnehmen.“ Damit lag er gleich doppelt daneben. Unbehagen löst nicht Frau Mohammadi Ashtiani aus, sondern die Art, wie das Regime von Ahmadinejad mit ihr umzugehen droht. Ganz abgesehen davon, was die Bezeichnung „diese Frau“ über den Respekt aussagt, den der Sprecher der Verurteilten entgegen bringt. Wie um seine erschreckend ignorante Haltung zu zementieren, trällerte der Präsident abschließend fröhlich einen brasilianischen Gassenhauer, dessen Refrain lautet: „Wirf den ersten Stein, ai, ai, ai“.

Nicht nur beim Freien Sprechen unterlaufen dem Präsidenten solche groben Schnitzer. Auch überlegt vorgebrachte Aussagen können ihm peinlich geraten. Der iranische Regierungssprecher kanzelte Lulas seltsames spontanes Asylangebot ziemlich harsch ab und befand – hart an der Grenze der Beleidigung, der brasilianische Präsident sei „sehr menschlich und emotiv, aber wohl nicht ausreichend informiert über den vorliegenden Fall“. Das ist zumindest insofern zutreffend, als Lula selbst vorher reichlich naiv geäußert hatte: „Über den Fall der Menschenrechte im Iran, da weiß ich nicht, wie die funktionieren.“

Die Adjektive menschlich und emotiv klingen denn auch aus dem Mund des Sprechers des iranischen Außenministeriums nicht gerade wie ein Kompliment. Aber das kommt bei unserem beliebten Präsidenten nicht an. Ist der Mann so an Zustimmung gewöhnt, dass er alle Kritik einfach ausblendet, umdeutet, rationalisiert, wie die Psychologen sagen? Anders ist es kaum zu verstehen, wenn er dem Regierungssprecher immer noch fröhlich antwortet: „Ich bin glücklich, dass der iranische Minister gemerkt hat, dass ich ein emotionaler Mann bin. Ich bin sehr emotional.“ Das heißt dann wohl emotionale Ignoranz.

Foto: Lula weint über die Nationalelf (gesehen bei estadao.com.br, Foto von Paulo Liebert AE)

Donnerstag, 29. Juli 2010

Nix zu lachen bei der WM-Vorbereitung


Lula sieht – wie so oft – kein Problem. „Ich werde von Afrika nach Hause schwimmen, wenn Brasilien nicht auf die nächste WM vorbereitet ist“, verkündete er gewohnt optimistisch. Diesen Optimismus werden wir allerdings nur noch bis zum Ende des Jahres an der Spitze des Landes haben – und so ungebrochen zuversichtlich wie unser Lula ist keiner der Präsidentschaftskandidaten. Dennoch muss einer oder eine von ihnen mit dem WM-Problem leben.

Denn so sieht der Fifa-Generalsekretär die Sache. Straßen, Flughäfen, Stadien, Telekommunikation – Brasilien ist alles andere als darauf vorbereitet, nach 64 Jahren zum zweiten Mal eine WM auszurichten. Wörtlich sagte Jerome Valcke, der Verzug bei den Plänen sei „beeindruckend“. Beeindruckend sind auch die geschätzten Kosten des Großereignisses: Die WM 2014 soll etwa doppelt so teuer werden wie die soeben in Südafrika gelaufene. Brasilien muss also umgerechnet mehr als 7,5 Milliarden Euro locker machen, für 59 Baustellen, 12 davon Stadien. Dabei sind all die Steuervorteile nicht eingerechnet, die den beteiligten Unternehmen eingeräumt werden – und die dann in der Staatskasse fehlen. Sind ja auch nur bescheidene 150 Millionen Euro.

Während der CBF-Chef Ricardo Teixeira noch besorgte Gemüter beruhigen will und behauptet Brasilien sei ja irgendwie doch „relativ im Zeitplan“, wettern die Kollegen aus Sao Paulo - immerhin Brasiliens größte Metropole und der Wirtschaftsmotor des ganzen Landes - weil ihr Morumbi-Stadion nicht für die WM zugelassen ist. Damit droht Sao Paulo, von der WM ausgeschlossen zu bleiben. Wirtschaftlich ist das kein Nachteil. Entgegen allgemeiner Annahmen, eine WM im Land beschere demselben ein erhöhtes Wirtschaftswachstum, haben die Briten Simon Kuper und Stefan Szymanski herausgefunden: “Tatsächlich wird kein Land reich, weil es Sportereignisse ausrichtet. Der Grund, warum die Länder so scharf darauf sind, Sportevents auszurichten, ist ein ganz anderer: Sportgroßereignisse machen das Volk glücklich.“

Dass es dafür nicht unbedingt notwendig ist, das Ereignis auszurichten, ließ sich kürzlich in Deutschland bestens beobachten. Deswegen: Stadien, Straßen, Flughäfen und all die Infrastruktur sind wichtig, keine Frage. Aber vielleicht ist es eben so wichtig, die brasilianische Nationalelf geschickt neu aufzustellen.

foto gesehen bei: www.ibahia.globo.com

Freitag, 23. Juli 2010

Neue Banditen an die Macht?


Bald ist es wieder soweit. Das brasilianische Volk wird seine Vertreter wählen. Und die Banditen stehen schon Schlange. Das darf man sich getrost vorstellen wie ein direktes Erbe der Kolonialzeit: Damals haben die Herren einfach ihren den Sklaven und sonstigen Untertanen gesagt, wo es lang ging. Und als es dann etwas zu wählen gab, hieß das noch lange nicht, dass wirklich gewählt wurde. Denn natürlich gab es da immer noch Herren, die ihren Untertanen sagten, wo das Kreuz zu machen war.

Heute sagen die Bandenchefs auf den Hügeln vor allem von Rio de Janeiro schon den Kandidaten, ob sie überhaupt Wahlkampf machen dürfen, in dem jeweiligen Slum. Und vorsichtshalber auch noch den Bewohnern desselben, wen sie zu wählen haben. Natürlich vorzugsweise Leute aus den eigenen Reihen. Das klappt gut und ist schwer nachweisbar. Bei den letzten Wahlen hat das Wahlgericht in Rio recherchiert, dass mindestens 100 der Kandidaten für politische Ämter in der Stadt zur Zeit des Wahlkampfs des Mordes angeklagt oder sogar bereits wegen eines Mordes verurteilt waren. Untersucht hat das Gericht diese Fälle nicht etwa, um diese Kandidaten auszuschließen. Die Beamten forderten einen Metalldetektor am Eingang ihres Gerichtsgebäudes und brauchten dafür Argumente. Solange ihnen keine Verbindung zum organisierten Verbrechen nachgewiesen ist, durften Mörder so lange gewählt werden, bis sie in letzter Instanz verurteilt waren. Ganz legal.

Damit soll jetzt Schluss sein. Bei den jetzt bevorstehenden Wahlen soll bereits das neue Wahlgesetz in Kraft treten. Mehr als eineinhalb Millionen Menschen hatten ihre Unterschrift unter den Gesetzesentwurf gesetzt, der im Mai verabschiedet worden ist und strengstes Vorgehen gegen Wahlverbrechen vorsieht. Wegen bestimmter Verbrechen vorbestrafte Kandidaten sollen gar nicht mehr zugelassen, Stimmenkauf und Co. generell verhindert werden. Das klingt gut und ist sicher ein Fortschritt. Ob aber wirklich alle Banditen außen vor bleiben – da ist sich nicht mal der Präsident des Wahlgerichts sicher, wie er kürzlich in einem Interview der Zeitschrift Veja zugab.

„Man darf nicht vergessen, dass die politischen Parteien die ersten sind, wenn es darum geht, Kandidaten mit schmutziger Weste zu legitimieren“, sagte Nametala Machafo Jorge reichlich direkt. Und genau hier schließt sich der Kreis. Die Banditen auf den Hügeln sagen den Untertanen wo es langgeht, und welcher Kandidat der wichtigste ist. Wenn dadurch dieser Kandidat für eine Partei ein interessantes Gewicht bekommt, - dann wird wohl die Partei einiges für ihn tun. Schmutzige Vergangenheit lässt sich prima vertuschen. Dass theoretisch die Einträge ins Strafregister theoretisch im Internet abrufbar sind, stört dabei keinen großen Geist – erfahrungsgemäß gucken die Wähler da sowieso selten nach.

Die Statistik sagt nichts darüber aus, ob die Nicht-Nachgucker dieselben sind, die für das neue Gesetz gestimmt haben. Oder zu welchem Prozentsatz die 1,6 Millionen Befürworter des neuen Gesetzes aus den Armensiedlungen kommen, in denen laut Gerichtspräsident Nametala „nicht mal das Grundlegendste gesichert ist: dass die Wahlen in Freiheit stattfinden, wie es in einer guten Demokratie der Fall sein sollte.“ Ziemlich sicher scheint hingegen, dass auch diesmal Banditen an die Macht gelangen werden. Vielleicht immerhin ein paar weniger als vor vier Jahren.

Foto : ssp.se.gov.br
So sieht man die Herren Kandidaten natürlich nicht, das Foto zeigt normale Banditen, ganz ohne reingewaschene Westen.

Samstag, 17. April 2010

Skalpierte Frauen

Zurzeit läuft in Nordbrasilien eine Kampagne gegen das Skalpieren. Ja, in Brasilien wird bis heute skalpiert. Gar nicht mal selten. Vollständige Erhebungen gibt es nicht, aber es sind wohl mindestens 50 Skalps jedes Jahr, die vor allem im Norden vor allem Frauen und Mädchen vom Kopf gerissen werden. Im Norden nicht etwa deswegen, weil dort besonders viele Indiostämme besonders blutige Bräuche pflegen, sondern weil dort viele Menschen unter bescheidensten Umständen auf Booten leben.

Wer auf einem Boot lebt, verrichtet dort alle Alltagstätigkeiten, vom Waschen und Kochen bis zum Zähneputzen und Haare-Kämmen. In Brasilien hat der Kurzhaarschnitt für Frauen bestenfalls in Metropolen wie Sao Paulo oder Rio bescheidenen Einzug gehalten, für die absolute Mehrheit der Brasilianerinnen ist eine üppige lange Mähne der Inbegriff von weiblicher Schönheit. So auch für die meisten Bootsbewohnerinnen. Wenn diese während der Fahrt auf ihrem Boot ihre langen Haare kämmen, passiert es: Das Haar verfängt sich in der Schraube des ungeschützt offenliegenden Motors, wird aufgewickelt bis an die Haarwurzel – und dann reißt die Motorkraft der Frau den Skalp vom Kopf. Manchmal nur einen Teil der Kopfhaut mit Haaren, manchmal die kompletten Haare, manchmal inklusive Augenbrauen oder sogar Ohren und Teilen der Gesichtshaut. Manche Frauen sterben an den Unfallfolgen, alle werden grausam verunstaltet.

Viele Familien haben nicht genug Geld, der Verletzten eine Perücke zu kaufen, manche kümmern sich aus Abscheu nicht einmal mehr um die Unfallopfer ihrer Familie im Krankenhaus. Die verunstalteten Frauen leben im Abseits der Gesellschaft, finden nur unter großen Schwierigkeiten Partner oder einen Job. Allein im Bundesstaat Amazonas sind schätzungsweise 100.000 Boote mit Personen unterwegs –ein Drittel davon außerhalb jeder Kontrolle. Bislang hat die Vereinigung der skalpierten Frauen 1400 Opfer gezählt, die Dunkelziffer dürfte weit darüber liegen.

Anfang 2010 hat Lula ein Gesetz verabschiedet, das den 28. August zum Tag des Skalpierens erklärt. Kürzlich wurde zudem beschlossen, dass den Skalpierten eine gesetzliche Entschädigung von umgerechnet etwa 1450 Euro zusteht. Das ist selbst in Brasilien kaum genug für eine Schönheits-OP, die den Frauen ein normales Aussehen zurückgäbe. Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria do Socorro Pelaes Damasceno, verlor ihren Skalp als Siebenjährige und hat bereits diverse OPs hinter sich, in denen ihr Gesicht wieder hergestellt werden sollte. Bislang ohne zufriedenstellendes Ergebnis. „Wir fordern, dass Chirurgen, die OPs zur Wiederherstellung durchführen, in unseren Bundesstaat kommen, denn wir haben nicht die nötigen Mittel, um zu ihnen nach Sao Paulo oder Rio zu reisen“, sagt Maria

Obwohl bereits im Juli des vergangenen Jahres ein weiteres Gesetz verabschiedet wurde, welches den Einsatz ungeschützter Motoren auf Booten verbietet und mit Bußgeldern sowie Bootsführerscheinentzug bestraft, geht das Skalpieren weiter. „Wie sollen wir denn unseren eigenen Vater oder Ehemann anzeigen, wenn dieser unseren Lebensunterhalt verdient?“, gibt Maria do Socorro zu bedenken.

Hat mal jemand daran gedacht, dass der gesetzlich geforderte Schutz zu teuer sein könnte, für Menschen, die sich nach einem Unfall nicht einmal eine Perücke leisten können? Oder dass es vielleicht mehr Wirkung zeigen würde, Schutzvorrichtungen zu stiften, anstatt Strafen zu verhängen?

foto: Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria de Socorro, verlor außer ihrem Skalp auch beide Ohren (Antonio Cruz, Agencia Brasil)

Samstag, 20. Februar 2010

Kein Dach auf unserer Schule


Nach Karneval sind in Brasilien die Sommerferien endgültig vorbei, und der Unterricht geht wieder los. Nicht so hier im Dorf. Hier wird der Unterricht voraussichtlich Anfang März wieder beginnen. Wenn bis dahin das neue Dach auf der Schule ist. Den ausgefallenen Unterricht sollen die Schüler dann im Juli nachholen – wenn alle anderen Winterferien haben. Das ist psychologisch nicht sehr geschickt und kann auch noch zu anderen Schwierigkeiten führen: Schüler, die mit dem Bus zur Schule fahren, bekommen für diese Fahrten staatlich finanzierte Wertmarken. Da im Juli allgemein unterrichtsfrei ist, werden für diesen Monat solche Marken gar nicht erst gedruckt. Ob daran schon jemand gedacht hat? Ob dann nur für eine einzige Schule die Druckerei angeworfen wird?

Für unbeteiligte Zuschauer wie mich, ist es nicht so richtig nachvollziehbar, wieso es zu diesem Problem überhaupt kommen musste. Das Dach, so meine ich, hätte doch einfach bereits am ersten Ferientag, Ende Dezember, abgedeckt werden können. Dann wäre jetzt längst alles fertig. Stattdessen wurde es erst vor Karneval abgedeckt, also am ersten Schultag nach den großen Ferien. So geraten die Dachdecker obendrein noch in die ersten Regenfälle, die traditionell hier im Nordosten nach Karneval nieder gehen. Vermeidbare Komplikationen, könnte man meinen.

Kürzlich veröffentlichte die Unesco ihren jährlichen Weltbildungsbericht, der die weltweiten Fortschritte auf dem Weg zum Milleniums-Ziel „Bildung für alle“ misst. Darin zeigte sich, dass Brasilien insgesamt weit mehr im Verzug ist als mit einem Schuldach. Das größte Land des südamerikanischen Kontinents, das die globale Krise so außergewöhnlich gut überstanden hat, und das wirtschaftlich in so rasantem Tempo auf die vorderen Plätze im weltweiten Vergleich vorprescht, liegt im Bildungsvergleich auf dem 88. Platz. Hinter den ärmsten Ländern Südamerikas wie Bolivien, Ecuador und Paraguay.

Eine andere Untersuchung zeigte, dass die besten Pädagogik-Studenten eines Jahrgangs sich nicht für den Lehrer-Beruf interessieren. Kein Wunder. Grundschullehrer verdienen hierzulande immer noch kaum mehr als den gesetzlich festgesetzten Mindestlohn von momentan umgerechnet rund 200 Euro. Davon kann keine Familie leben. Die Unesco-Untersuchung über Lehrer in Brasilien belegt, dass die Hälfte der brasilianischen Lehrer aus Familien der Unterschicht stammt, und 68 Prozent selbst ausschließlich staatliche Schulen besucht haben. 81 Prozent sind Lehrerinnen. Obwohl das Gesetz auch bei Grundschullehrern eine universitäre Ausbildung vorschreibt, haben die heute angestellten Lehrer im Schnitt 14 Jahre Schul- und Unibesuch vorzuweisen – nicht genug für einen Universitätsabschluss, meist nicht einmal genug für Kenntnisse in nur einer Fremdsprache. 20.000 Lehrer haben maximal acht Schuljahre absolviert. Laut einer Schätzung des Bildungsministeriums sollen mehr als eine halbe Million Lehrer ohne ausreichende Ausbildung lehren. Solche Daten verbreitet die brasilianische Regierung naturgemäß nicht so gern.

Bislang ging es der Regierung Lula hauptsächlich darum, möglichst viele Schüler überhaupt zum Schulbesuch zu bewegen. Dafür war die Unterstützung „Bolsa familia“, die nur ausgezahlt wird, wenn die Schule regelmäßigen Besuch bescheinigt, eine große Hilfe. Heute besuchen 97,6 Prozent der schulpflichtigen Kinder tatsächlich eine. Und die restlichen 680.000 werden innerhalb eines speziellen Programms gerade vom Erziehungsministerium identifiziert – vor allem unter der indigenen und der ländlichen Bevölkerung. Diese Zahlen werden regelmäßig gefeiert und sind ja auch wirklich schön anzusehen.

Langsam ist es also an der Zeit, genauer nachzufragen, was die Schulbesucher in der Schule eigentlich tun: Nahezu ein Drittel aller Schüler besucht eine Klasse, die dem jeweiligen Alter nicht angemessen ist. Jeder fünfte bleibt mindestens einmal sitzen. Jeder vierte Brasilianer über 15 Jahre ist funktionaler Analphabet: Er kann zwar einfache Sätze lesen und zu Papier bringen, ist aber nicht in der Lage, komplexere Texte zu verstehen oder eigene Ideen schriftlich auszudrücken.

Wie viel Hoffnung darf man haben, dass es einem Land gelingt, die öffentliche Bildung zu verbessern, wenn es einer Dorfschule nicht möglich ist, nötige Renovierungsarbeiten in die Ferien zu legen? Oder vergleiche ich da gerade Eier mit Nüssen?

foto: wollowski

Montag, 8. Februar 2010

Feuchte Brüder in den Knast


Es ist eine internationale männliche Macke, die weltweit Spuren hinterlässt. Zu Oktoberfest-Zeiten verbreiten sich internationale Duftmarken in München im ganzen Theresienwiesen-Viertel. Männern ist es anatomisch leicht möglich, sich auf der Straße zu erleichtern, und das scheint für viele Grund genug, vor allem bei feuchtfröhlichen Anlässen und nach einigem Biergenuss mehr oder weniger in der Öffentlichkeit einfach so den Hosenlatz aufzumachen und an den nächsten Laternenpfahl zu strullern wie ein Köter.

Was in München das Oktoberfest, ist in Rio de Janeiro der Karneval. Will sagen: die Hochsaison der Mackenmänner ist angebrochen. In diesem Jahr haben sie sogar einen eigenen Namen bekommen: als Mijoes – Pinkler, gehen sie neuerdings in offizielle Statistiken ein. Weil die Stadtverwaltung genug hat von den allgegenwärtigen Duftmarken und jetzt hart gegen die Pinkler vorgeht: Am vergangenen Wochenende wurde bei Probe-Karnevalsumzügen insgesamt 46 der Rumstruller festgenommen.

„Es wird nicht mehr toleriert, dass die Karnevalisten an die Türen der Anwohner urinieren. Das ist inakzeptabel. Die Stadt hat 4000 Chemie-Toiletten aufgestellt. Die Leute sollen feiern und sich amüsieren, aber dabei ihre Erziehung nicht vergessen. Die Pinkler, die in flagranti erwischt werden, bringen wir zur nächsten Polizeidienststelle“, erklärt dazu der Sekretär für Öffentliche Ordnung, Rodrigo Bethlem. Wie lange die feuchten Jungs im Knast bleiben und was danach mit ihnen passiert, sagte er nicht.

Foto: gesehen bei seraquepode.blig.ig.com.br

Donnerstag, 4. Februar 2010

Prä-kämpferische Duelle


Politiker sind keine Brasilianer, jedenfalls keine normalen. Scheut der normale Brasilianer offene Konflikte, schürt der brasilianische Politiker dieselben mit Vorliebe. Vor allem natürlich im Wahlkampf. Der hat in diesem Wahljahr noch nicht begonnen, wie kürzlich die Richter entschieden haben. Es hatten nämlich böse Zungen behauptet, Lula schicke seine Lieblingskandidatin Dilma Rousseff nur deswegen durchs ganze Land, um soziale und andere Errungenschaften gemeinsam mit dem Volk zu feiern, damit die Leute gleich wissen, wen sie im Oktober wählen sollen. Das wäre ungesetzlich. Weil Steuergelder und Regierungsämter nicht für den Wahlkampf verwendet werden dürfen. Dilmas Reisen aber sind ganz ok, auch wenn sie dabei ständig auf die Opposition schimpft. Weil Wahlkampf erst dann existiert, wenn es einen deklarierten Kandidaten und ebenso deklarierten Stimmenfang gäbe. So doof ist die Ministerin natürlich nicht, platt zu sagen: Wählt mich, Leute!

Als doof stellt da lieber der Präsident ganz undiplomatisch den Chef der Oppositionspartei hin. „Babaca“ hat er den Senator Sérgio Guerra mitten in einer Plenarsitzung genannt, weil dieser in einem Interview angekündigt hatte, seine Partei werde im Falle eines Wahlsiegs das mit reichlich Vorschusslorbeeren eingeführte und bis jetzt nicht gerade durchschlagend erfolgreiche Programm zur Beschleunigung der Entwicklung, PAC, abschaffen. Vielleicht hat den Präsidenten auch gestört, dass Guerra behauptet hat, das Programm diene vornehmlich dazu, den Wähler in die Irre zu führen.

Auf Lulas verbalen Ausbruch ließ der Oppositionsführer gleich schriftlich verbreiten, dass Dilma eine Lügnerin sei. Dem kann nicht mal widersprochen werden, denn es ist bekannt, dass die Ministerin ihren Lebenslauf um einen Universitätsabschluss an der hoch angesehenen Unicamp und einen Doktortitel derselben Universität geschönt hat. Guerra geht aber noch weiter. Wörtlich schrieb er:

„Dilma Roussegg lügt. Sie hat in der Vergangenheit über ihren Lebenslauf gelogen und verbreitet heute Lügen über ihre Gegner. Sie benutzt die Lüge als Methode. Setzt auf Desinformation des Volks und missbraucht den guten Glauben der Bürger.“ Harte Geschosse, auf die der PT-Präsident umgehend antwortete, indem er Sérgio Guerra als „Jagunço“* beschimpfte. Diese Art Duelle nennt die Presse hierzulande jetzt Prä-Wahlkampf.

Im eigentlichen Wahlkampf, der irgendwann im März beginnt, geht es dann vermutlich erst richtig zur Sache. Lula hatte bereits im Januar angekündigt, er erwarte Debatten auf hohem Niveau. Einerseits. Dass aber keiner glaube, er werde im Wahlkampf den „Liebe und Frieden“-Weg einschlagen. „Ich bin Capoeirista“, tönte der Präsident, von dem als einzige sportliche Aktivität gelegentliche Fußballspiele bekannt sind. „Ich weiß mich gegen Angriffe über Brusthöhe zu schützen.“ Von Angriffen unter der Gürtellinie hat er nicht gesprochen. Die teilt er vielleicht lieber selbst aus.

* Jagunços waren in längst vergangenen Zeiten die fest angestellten Mörder der Großgrundbesitzer .


Foto: gesehen bei o-mascate.blogspot.com

Montag, 18. Januar 2010

Der gezähmte Strand



Jedes Kind weiß, dass der Strand der demokratischste Raum von Rio de Janeiro ist. Die einzelnen Lebensretter-Stationen und ihr Gebiet mögen unter Hausfrauen, Gays und Modelanwärterinnen aufgeteilt sein. Aber die Stadtverwaltung hat sich da nie groß eingemischt. Nie. Sie bezahlt die Jungs auf den großen Traktoren, die jede Nacht die Spuren von Picknicks, Sportveranstaltungen, Flirts und Orgien beseitigen. Sie hat die Plakatwände mit den Sprühdüsen aufgestellt, aus denen sich Jogger oder schwitzende Touristen mit einer frischen Brise bestäuben können. Sie hat sogar – vor Jahren – versucht, ein neues überaus elegantes Modell an Kiosken an der Avenida Atlantica einzuführen. Beispiele für die Metall-Glas-Konstruktionen sind vor dem Copacabana Palace und etwas weiter unten zu besichtigen, viel weiter ist die Initiative bislang nicht gediehen. Und das war‘s. Das hätte es sein können.

Der Strand von Rio de Janeiro bietet Platz für allerlei Beschäftigungen und Geschäfte. Sonntags ist besonders viel zu sehen. Von perfekt modellierten Körpern bis zu perfekt frisierten Hunden, von Selbstdarstellern bis zu selbstvergessenen Sandburgen-Bau-Profis. Ich setze mich am liebsten irgendwo in die Mitte und gucke. Und kaufe mir all die herrlichen Snacks, die mir sozusagen unter der Nase vorbei getragen werden: Garnelenspieße oder gegrillter Käse, frische Säfte oder knuspriges Kokoskrokant. Alles hausgemacht oft besser und immer billiger als in den Bars und Restaurants. Das soll jetzt alles anders werden.

Der Bürgermeister der Stadt hat vielleicht an die nahende WM 2014 oder die ebenfalls vor der Tür stehenden Olympischen Spiele 2016 gedacht, als er verfügt hat: Nur noch industrialisierte Nahrung an Rios Stränden. Toller Wurf: Statt vieler komplizierter Euro-Normen ein einziges Gesetz. Das auch nur eine einzige Firma begünstigt. Von der nämlich künftig alle der mehreren Hundert Strandkiosk-Betreiber mit festem Standort ihre industrialisierten Waren beziehen müssen. Das erzählt der Bürgermeister natürlich nicht so gerne.

Zu gucken gibt es auch weniger. Strandsportarten wie Fuß- oder Volleyball dürfen nämlich jetzt zwischen 8 und 17 Uhr nicht mehr am Wasser betrieben werden, sondern nur noch neben der Avenida im tiefen Sand. Das macht zwar sicher mehr Muskeln, aber garantiert weniger Zuschauer: Am Strand guckt man Richtung Wasser, das ist ehernes Gesetz. Zuletzt wird es auch nahezu unmöglich, Freunde am Strand zu treffen, jedenfalls sonntags. Üblicherweise kostet es bereits ein gutes Dutzend Handygespräche, um sich in dem wilden Getümmel zur richtigen Stelle zu lotsen, orientiert an gelben und grünen Sonnenschirmen und mehr oder minder hübschen Styropor-Kühlkästen. Das war einmal. Jetzt sehen alle Kioske weiß, alle Sonnenschirme rot und alle Strandstühle gelb aus, egal ob sie Dona Dilma oder Claudete gehören.


Die Brasilianer sind nicht für ihren revolutionären Geist bekannt, sie ziehen es meist vor, still und unauffällig eine hübsch flexible, ihnen genehme Lösung zu suchen, als auf die Straße zu gehen. Aber diese Aktion des Bürgermeisters ging den Cariocas zu weit. Nutzte nichts, dass der bedrängte Mann betonte, er habe gar keine neuen Gesetze gemacht, er lasse nur zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes für ihre Beachtung sorgen. Pustekuchen. Am schlimmsten schien es den Strandgängern, künftig Kokoswasser aus Plastikflaschen trinken zu müssen, anstatt direkt aus der grünen Kokosnuss, ökologisch korrekt und außerdem natürlich kühl gehalten. Nach einigem Hin und Her – öffentlich und lautstark – ist der Gouverneur zurück gerudert. Kokosnüsse werden doch nicht verboten. Ob er das seinem teuer eingekauften Berater, dem ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani verschwiegen hat? Zu dessen „Null Toleranz“ passt solche Schwäche jedenfalls nicht so richtig.

Insgesamt wird der Spezialeinsatz markig fortgeführt: Statt 143 sollen jetzt 400 Aufpasser kontrollieren, ob alles seinen gesetzlich erlaubten Gang geht, mit elektrisch angetriebenen Skates und Elektroautos, Einsatzleitungs-Zelten und einem regionalen Einsatz-Zentrum. Zweifler gibt es trotzdem.

„Das Gesetz existiert, aber wir sind hier in Brasilien“, wird der Student Bernardo von der Agentur Reuters zitiert: „Man muss hier nur ein bisschen rum laufen, dann sieht man, wie alle Gesetze ignoriert werden.“ Der gezähmte Strand wird wohl eine Utopie bleiben.


fotos: christine wollowski (2), globo.com und reuters

Mittwoch, 13. Januar 2010

Kultur-Bons und ein Film fürs Volk


Hier in Brasilien ist es gesetzlich verboten und praktisch üblich, in Wahljahren die potentiellen Wähler durch Wahlgeschenke freundlich zu stimmen. Das geht von säckeweise Fischen über stundenlanges Freibier bis zu versprochenen oder gar errichteten Krankenhäusern, ausgearbeiteten sowie finanzierten Wirtschaftsankurbelungspaketen und allerlei Sozialprogrammen. Lulas bisherige Wahlerfolge haben nachweislich mit Sozialprogrammen zu tun. Wo besonders viele. Bolsa Familia*-Empfänger leben, gab es besonders viele Stimmen.

Ende letzten Jahres hieß es, die 11 Millionen Empfängerfamilien der Bolsa Familia könnten in 2010 auch eine Bolsa Celular empfangen, nämlich ein kostenloses Handy mit umgerechnet 2,80 Euro Guthaben pro Monat – von der Regierung steuerbefreit und von den Handy-Betreibern gestiftet. Eine Woche später zitierten die Medien Kommunikationsminister Hélio Costa so: „Ich will damit nichts mehr zu tun haben“. Kritiker hatten ihm vorgeworfen, Staatsmittel in einen Markt zu werfen, der mit 80 Prozent Handynutzern bereits gesättigt sei. Stimmt, Costa ist zu spät gekommen: gerade Geringverdiener legen großen Wert darauf, ein möglichst schickes teures Handy vorzuweisen.

Mit einer anderen Idee könnte Kultusminister Luca Ferreira eine weit innovativere Aktion gelingen: Die „Bolsa Cultura“ soll das Volk zur Kultur bringen. Mittels einer Art Kreditkarte, die von Regierung, Arbeitgebern und dem Arbeitnehmer selbst finanziert monatlich 50 Reais für diverse Kulturgenüsse von Kino bis Theater oder den Kauf von Büchern bereit stellt. Essensmarken für den Geist sozusagen. 14 Millionen Arbeitnehmer könnten davon profitieren, so die Rechnung des Kultusministeriums.

Als nächstes kommt dann wohl der „Freundinnen-Bon, der jedem Wähler eine Freundin garantiert“, unkte die Opposition. Es handele sich um eine Wahlkampf-Aktion, die nicht etwa Kultur fördern würde, sondern eher den Tanz der Jungwähler mit ihren Liebsten, in Musik-Schuppen der Peripherie, sagten Kritiker außerdem. Bereits im November, also noch im Vor-Wahljahr, hatte Lula den „Kultur-Gutschein“ gefeiert, dessen Einführung im Dezember vom Senat beschlossen wurde.

Gerade rechtzeitig. Anfang Januar ist „Lula – ein Sohne Brasiliens“ angelaufen, mit 12 Millionen Reais Produktionskosten der teuerste Film in der Geschichte dieses Landes. Er thematisiert nur die Jugend und Kindheit des Präsidenten, hält sich nicht dokumentarisch an die Fakten, sondern malt ein blütenweißes Heldenbild, in dem Klein-Lula die Mutter vor den Aggressionen des Vaters verteidigt, der Gewerkschafter später nur Bier trinkt statt Klaren und so fort. Kino ist teuer in Brasilien, in den Shoppingzentren kostet eine Eintrittskarte umgerechnet mehr als sechs Euro. Die Klassen C und D sehen normalerweise eher Screen-Shot-Raubkopien, als selbst ins Kino zu gehen.

Diesmal war das anders: Der Sohn Brasiliens lief genau dort hervorragend, wo Lula auch seine meisten Wähler sitzen hat. Im Nordosten. Bei den Klassen C und D. In Sao Paulo hingegen, waren die Eintrittszahlen kümmerlich. Als heimliches Wahlkampf-Instrument hat sich der Film damit nicht bewährt, da ihn Nicht-Lula-Wähler kaum gesehen haben. Dafür aber als Kultur-Aktion: Viele waren für Lula zum ersten Mal in ihrem Leben im Kino. Ob sie mit ihrem Kultur-Bon wohl auch eine gedruckte Lula-Biographie gekauft hätten?

NS. In abgelegene Kleinstädte ohne eigenes Kino soll der Film übrigens per Großleinwand gebracht werden. Damit auch wirklich jeder das kulturelle Großwerk des Jahres erleben kann.

* Bolsa Familie sind monatliche staatliche Hilfen für bedürftige Familien. Als Gegenleistung für die Geldzuwendung müssen die Familien z.B. nachweisen, dass die Kinder regelmäßig die Schule besuchen.

Donnerstag, 31. Dezember 2009

Glücklich ins neue Jahr mit Lula


Hinter vorgehaltenen Händen und verschlossenen Türen wird zurzeit gemunkelt, dass PSDB-Präsidentschaftskandidat José Serra sich mit der Grünen Marina Silva zusammen tun könnte, um die Wahlen im nächsten Jahr auch ganz bestimmt zu gewinnen. Weil doch Lulas Lieblingskandidatin Dilma Rousseff zwar langsam die Nase voll hat von dem ganzen Imagegetue („Ich werde jetzt einfach ich selbst sein“, soll sie kürzlich angekündigt haben), aber bei den Wählern immer noch nicht so recht beliebt ist. Abwarten. Noch hat offiziell nicht mal der Wahlkampf begonnen. Noch bleibt uns unser Lula erhalten.

Und weil unser Präsident, der das Land so wunderbar optimistisch durch die Krise geführt hat – und nebenbei die Staatsverschuldung in die Trillionen getrieben -, im Ausland beinahe so beliebt ist wie Obama, aber selten direkt zitiert wird, will ich heute den Deutschen unter den Lesern eine kleine Sammlung an Präsidentensprüchen aus dem heute zu Ende gehenden Jahr präsentieren. Zusammengestellt von der Zeitschrift Veja, frei übersetzt – ohne jede Haftung – von mir.

„Die Reichen brauchen uns nicht sehr. Den Müll einzusammeln reicht schon.“

"Warum ist diese Klimafrage heikel? Weil die Welt rund ist. Wenn die Welt quadratisch oder rechteckig wäre…"

"Diese Krise wurde nicht von einem Schwarzen, Indianer oder Armen ausgelöst. Diese Krise wurde von Weißen mit blauen Augen gemacht."

"Es gelingt mir nicht, viele Seiten an einem Tag zu lesen, das macht mich schläfrig. Ich sehe TV, je mehr Unsinn, desto besser."

"Es gibt Leute, die meinen Optimismus nicht mögen, aber ich bin Corinthians-Fan, katholisch, Brasilianer und außerdem Präsident dieses Landes. Wie könnte ich da nicht optimistisch sein?"

In diesem Sinne: Gehen wir mit Lula optimistisch ins nächste Jahr!

Karikatur gesehen bei www.aindamelhor.com

Sonntag, 22. November 2009

Zeit ist Geld

Manchmal funktioniert das öffentliche brasilianische Gesundheitssystem hervorragend. Zum Beispiel fahre ich nächste Woche nach Französisch Guyana, und für die Einreise ist eine Gelbfieberimpfung vorgeschrieben. Also habe ich bei unserer dörflichen Gesundheitsstation angerufen, um höflich anzufragen, wo ich so eine Impfung bekommen kann. Schon am nächsten Tag hat mich eine freundliche Dame in der Gesundheitsstation des nächsten Orts geimpft. Vollkommen kostenlos, ich musste nur mein Flugticket in die gefährdete Region vorlegen. Nicht einmal warten musste ich.

Das mag daran liegen, dass nicht so viele Menschen Gelbfieber-Impfungen brauchen. Normal ist eher, was ich erlebt habe, als ich einen Allergietest machen wollte. Zuerst saß ich auf der Wartebank hier im Dorf, bis der Allgemeinarzt mich vorließ. Der plauderte recht nett über seine Erfahrungen mit deutscher Literatur, empfahl mir ein gaaaanz neues Medikament und schrieb mir schließlich den Überweisungsschein zum Hautarzt im nächsten Ort. Zu dem konnte ich damit aber nicht etwa einfach gehen. Zuerst musste ich im Morgengrauen in einer weiteren Schlange ausharren, um unter Vorlage des Überweisungsscheins einen Termin zu ergattern. Dieser Termin lag etwa zwei Monate nach dem ersten Arztbesuch, eine Stunde Busfahrt von meinem Dorf entfernt.

Ich hatte an dem Tag ziemliches Glück, denn von den mehreren Dutzend Menschen, die mit mir warteten, tat das die Hälfte umsonst: die Psychologin, die ebenfalls Patienten empfangen sollte, war krank und konnte nicht kommen. Unsere Dermatologin hingegen war da. „Sag nicht immer Dermatologin“, tadelte der Rezeptionsfachmann seine offensichtlich neue Kollegin, „das versteht hier niemand. Sag, die Ärztin für die Hautsachen“. Nach drei Stunden saß ich vor der Ärztin für die Hautsachen. In einem Zimmer, das an einen Klassenraum für Zwerge erinnerte. Die Dermatologin war jung, lächelte freundlich und sah lange auf meinen Schein. Dann schüttelte sie bedauernd den Kopf und sagte: „Allergietests mache ich nicht.“ Da müsse ich ins Allergie-Zentrum in Recife gehen.

Dafür brauchte ich einen neuen Schein. Der freundliche Allgemeinarzt empfahl mir ein weiteres uuuuuunfehlbares Medikament. Dann schrieb er einen neuen Schein. Die Krankenschwester riet mir, ich solle mit dem ersten Bus morgens um vier losfahren, um rechtzeitig im Allergiezentrum anzukommen. Nein, ich müsse vorher keinen Termin machen, man würde da gleich behandelt. Also gut. Um vier ist es noch kalt und dunkel. Bis ich in Recife ankam, war es hell und halb sieben. Die Schlange im Allergiezentrum war ermutigend kurz. Der Wärter an der Tür blickte auf meinen Zettel und sagte: „Für heute sind alle Termine vergeben, aber da Sie nicht aus dem Stadtbereich Recife kommen, müssen Sie ohnehin nächste Woche wieder kommen, wenn alle Auswärtigen-Termine für den Dezember vergeben werden.“ Um am gleichen Tag untersucht zu werden, erfuhr ich, muss man um vier da sein. Vor anderen Krankenhäusern schlafen die Menschen deswegen in Schlangen. Bei diesem ist das wegen der riskanten Sicherheitslage unmöglich. Aber für die Auswärtigen wie mich reichte es, um halb sieben da zu sein. Sagte der Wärter.

Als ich am Stichtag um halb sieben aus dem dritten und letzten Bus stieg, war die Schlange vor dem Zentrum bereits mehrere Hundert Meter lang, obwohl die Rezeption noch nicht geöffnet hatte. Wenig später brannte die Sonne. Meine Nachbarin hatte einen Regenschirm dabei und lud mich in den Schatten ein. In den nächsten Stunden kamen wir uns alle ein wenig näher. Tauschten Pfefferminzbonbons und Tipps, um welche Uhrzeit man in welchem Krankenhaus noch eine Chance hat. Schimpften über Männer und die Regierung. Denn in solchen öffentlichen Krankenstationen stehen fast ausschließlich Frauen Schlange. Vielleicht jammern deren Männer lieber zuhause, anstatt medizinische Hilfe zu suchen. Versorgt werden sie ja auch so.

Irgendwann kam ein mobiler DJ auf einem Moped und spielte uns ein paar Roberto-Carlos-Schnulzen vor. Leider fuhr er schnell weiter, als er merkte, dass er seine raubkopierten Best-of-CDs bei uns nicht loswurde. Um elf Uhr mittags hatte ich meinen Termin. Für den 21.12. um die Mittagszeit. Angeblich muss ich dann nicht mehr warten. Ich habe lieber nicht gefragt, wie es aussieht, falls ich einen Folgetermin brauche.

Als ich in meinem Dorf aus dem Bus stieg, hatte sich in der Nachmittagssonne eine lange Schlange vor der Einwohnervereinigung gebildet. Darin entdeckte ich meine Nachbarin. Weil Präsident Lula jetzt auch in unserem Dorf den Hunger ausrottet: Säckeweise Yamswurzeln und Maniok, grüne Bananen und Süßkartoffeln warteten in dem geräumigen Schuppen darauf, an die Bevölkerung verteilt zu werden. „Stell dich doch auch an“, riet mir die freundliche Nachbarin. Wie bedürftig einer war, fragten die unendlich geduldigen Frauen an der Ausgabe anscheinend niemanden. Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass nur der für ein paar Wurzelgemüse Stunden Schlange steht, der das wirklich nötig hat.

Tatsächlich ist es so, dass, wer kein Geld hat, ständig in der Schlange steht. An der Bank, um sich jeden Monat seine staatlichen Unterstützungen abzuholen. An der Lottoannahmestelle, wo er aufs Glück hofft und seine Rechnungen in bar bezahlt, weil er kein Bankkonto hat. An der Null-Hunger-Gemüse-Ausgabe. Und in der Krankenstation. Kurz: Wer kein Geld hat, zahlt mir Zeit. Viel Zeit.
Hsaben wir ja alle schon mal gehört: Zeit ist Geld – und also ein probates Zahlungsmittel. Für wen aber diese Zeit, die all diese Leute in den Schlangen verlieren, Geld bedeutet, das ist mir nicht klar geworden.

Foto: Wollowski

Sonntag, 1. November 2009

Endlich Frieden für die Banditen


„Bewohner von Mittelklasse-Vierteln werden die Favela-Agglomeration Complexo do Alemão, im Norden von Rios beneiden”, behauptete Dilma, Lulas Präsidentschaftskandidatin bei einem Besuch dort zu Anfang dieses Monats. Eine erstaunlich optimistische Prognose, wenn man bedenkt, dass der Complexo do Alemão zu den gefährlichsten Gegenden von Rio gehört und fest in den Händen ihres “Besitzers” FB liegt. Drogengroßhändler Fabiano Anastácio da Silva, besser bekannt als Fabiano der Geier oder eben kurz FB, herrscht wie ein König, er lässt auf dem Hügel „Alemão“, der 13 Favelas mit insgesamt 65.000 Einwohnern zusammenfasst, nach Belieben Menschen festnehmen, frei lassen oder töten.

Im September vergangenen Jahres etwa wurden diverse verkohlte Leichen von minderen Drogenhändlern aufgefunden. Damals hatten mehr als 800 Polizisten in einem Großeinsatz den Complexo gestürmt. Außer den Leichen fanden sie 20 Kilo Kokain, 30 Kilo Marihuana, 3 Maschinengewehre, 32 zwölf-kalibrige Schrotflinten und reichlich Munition. Es wäre naiv, anzunehmen, dies sei das gesamte Waffenarsenal gewesen, über das Fabiano der Geier verfügt.

Dennoch kündigte Rios Sicherheitschef José Mariano Beltrame damals statt weiterer Aktionen an, er werde seine Männer vom Complexo do Alemão abziehen. Weil ihre Gegenwart die Aktionen des PAC stören könnte. Seine euphemistisch verbrämte Aussage bedeutet im Klartext: Favela-Chef FB könnte sich durch die Anwesenheit der Polizisten gestört fühlen. Und wenn der totalitäre Herrscher dieses Reichs innerhalb der Stadt Rio sich gestört fühlt, dann wird auch aus dem PAC nichts. Und der PAC wiederum, soll ja laut Dilma dafür sorgen, dass die Mittelklasse-Bevölkerung demnächst lieber im Complexo do Alemão wohnen will, als in ihren Mittelklasse-Vierteln. Dafür sollen umgerechnet rund 260 Millionen Euro in den Complexo fließen – mehr als dreimal so viel als im Jahr 2008 in ganz Brasilien für neu angelegte städtische Kanalisationssysteme ausgegeben wurde.

Gebaut werden die größte Erste-Hilfe-Station des Bundesstaates Rio de Janeiro, Wohneinheiten für Bedürftige und sechs Drahtseilstationen. Die Drahtseilbahn soll die Bewohner des Complexo mit dem Stadtzentrum verbinden und so ihre Beweglichkeit erhöhen. Bis Ende 2010 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein. Ein großes Geschenk des Staates an seinen Gegenspieler, und das sollen die Menschen des Alemão natürlich mit Kandidatin Dilma verbinden. Damit sie gleich wissen, wem sie dankbar sein und wen sie also nächstes Jahr wählen sollen. Dilma zeigte sich bei ihrem – höchstwahrscheinlich mit Parallelherrscher FB abgesprochenen – Besuch beeindruckt von Qualität und Ausmaßen der Baumaßnahmen und äußerte die Ansicht, die Gewalt, welche die Gegend bislang prägt, werde sicher abnehmen. Weil der Staat ja nun seine Pflichten in der Slum-Agglomeration do Alemão nicht mehr ignorierte.

Schon zwei Wochen später bekamen Dilmas schöne Worte einen hässlich zynischen Unterton, als Vertreter der Drogenmafia Comando Vermelho einen Polizeihubschrauber abschossen, der einen internen Konflikt zweier Fraktionen überflog. Beltrame verglich die Aktion dramatisch mit dem Angriff der AL Qaeda auf die USA. So überrascht waren nicht alle von diesem Gewaltausbruch: Die Ex-Polizeichefin und jetzige Abgeordnete Marina Magessi hatte bereits kurz nach der Rede der Kandidatin Dilma gewarnt: „Seit die Polizei wegen der PAC-Baumaßnahmen den Complexo do Alemão meidet, fliehen die ganzen Banditen dorthin.“.

Letzten Sonntag feierte der Complexo do Alemão mal wieder eine Funk-Party – ein Freudenfest anlässlich des abgeschossenen Polizei-Hubschraubers. Dabei sang DJ Will den beliebten Refrain: „Hier kommt die Militärpolizei nicht rein, hier gibt es nur Taliban, Terroristen der Al Qaeda!“.

Also hat Lula sein Ziel erreicht. Im Dezember des vergangenen Jahres hatte er angekündigt, er werde den Complexo do Alemão in ein „Territorium des Friedens“ verwandeln. Auch Dilma hat Recht: Der Complexo ist tatsächlich friedlicher geworden. Für die Banditen.

Foto (Banditen fackeln Busse ab): Ricardo Moraes/Reuters

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Franceneto, cabra da peste und demnächst Präsident?


Das ganze Dilemma der Lula-Nachfolge könnte so einfach gelöst werden. Dass er da noch nicht drauf gekommen ist! Während der mangelnde Charme seiner Bevorzugten Dilma durch die Kandidatur der grünen Marina noch stärker zu stören scheint und die Truppe um den Präsidenten verzweifelt hier und da Unterstützungs-Alliancen für die harsche Lady strickt, steht einer auf Abruf im Hintergrund. Dass Popularität allein schon für politische Ämter qualifiziert, ist bekannt. Vor allem, seit die Regelung für Wahlwerbung restriktiver geworden ist, gereicht ein bekannter Name zu Vorteilen auf dem Weg in die Politik.

Der inzwischen verblichene Designer Clodovil hat es vorgemacht: kein nennenswertes Programm, aber der meistgewählte Abgeordnete Sao Paulos. Romário, Ex-Fußballer und so pleite, dass er zwangsweise auf den Rasen zurück kehrte, ist kürzlich außerdem einer Partei beigetreten, deren Namen er sich zwar nicht merken kann, für die er aber als Abgeordneter kandidieren will. Der gutaussehende Hauptdarsteller der letzten Acht-Uhr-Tele-Novela, André Gonçalves, will ebenfalls kandidieren. Und auch Ex-Big-Brother Kléber "Bambam"will in die Politik. So gesehen träumt Frank einen verbreiteten Traum. Allerdings belässt er es nicht beim Träumen: 2006 bekam er bei seiner Wahl zum Abgeordneten die drittmeisten Stimmen aller Kandidaten seiner Partei. Kein schlechtes Ergebnis - so aus dem Stand. In diesem Jahr wird ein Film über Franks Leben gedreht – ein weiterer Pluspunkt auf Stimmenfang.

Es geht stetig aufwärts: Längst hat der Nachwuchs-Politiker den Abgeordneten-Job gegen den des Vize-Bürgermeisters in seinem Wohnort Sao Bernardo do Campo getauscht, wo es bereits ein Frank-Aguiar-Museum und eine Straße seines Namens gibt. Lula persönlich soll ihm vorgeschlagen haben, dafür anzutreten. Mit dem ist er seit vielen Jahren so gut befreundet, dass der brasilianische Präsident bei Frank schon zum Grillen war. Bei der Gelegenheit hat er in einer der sieben Suiten des Hauses übernachtet, die seitdem „Präsidentensuite“ heißt. Als Gilberto Gil sich aus der Politik verabschiedete, munkelten manche, Frank könne ihn als Kultusminister ablösen. Schließlich sind beide Musiker. Erhebt Gil, Mitbegründer der Bewegung Tropicalismo mit seinen Texten und Musik intellektuelle und politische Ansprüche, und musste deswegen unter der Militärdiktatur ins Exil gehen, hat Frank sich als Alleinunterhalter den Beinamen „Das Hündchen an der Hammondorgel“ verdient, weil er bei seinen Auftritten gelegentlich „au, au“ machte, wenn ihm der Text nicht mehr einfiel. Das sexy „au“ gehört inzwischen zu fast allen Songs, die mit Texten glänzen, wie „.Komm her reife Frau, komm her heiße Frau, das Sprichwort sagt: gewaschen, getrocknet, ist sie wie neu….“

Einer, der vor nur 15 Jahren aus dem armen Piauí auszog, und bereits Millionär und Vizebürgermeister in Sao Paulo ist, der kann alles werden. Sogar Präsident. Oder? Der Zeitschrift Veja sagt der Sänger und Politiker: „Ich bin ein Auserwählter“. Einer, der seinen Namen Franceneto da Luz Aguiar in einen international tauglichen „Frank“ ummünzt, überlässt auch sonst wenig dem Zufall. Frank Aguiar hat in den vergangenen 15 Jahren nicht nur – nach eigener Aussage - fünf Millionen Platten verkauft. Er hat außerdem einen Universitäts-Abschluss in Jura gemacht und arbeitet gerade an einem Master in öffentlicher Verwaltung. Anders als Präsidentschafts-Kandidatin Dilma, die erst Ende des vergangenen Jahres entdeckte, dass in Brasilien auch Politikerinnen dem Diktat der Schönheit unterliegen, ist Franceneto von Natur aus eitel: Jede Woche Maniküre, Lymphdrainage und regelmäßige Haarkuren für den Künstler-Pferdeschwanz gehören bei ihm längst zur Routine. Parfüm von Gaultier ist sein Markenzeichen.

Inhaltlich steht er ganz auf der Linie seines Grillkumpels Lula. „Ich interessiere mich für die menschliche Wärme der Arbeiter-Mutter, die uns umarmt und anfeuert. Ich interessiere mich für die Probleme der Ärmsten, für die Schwierigkeiten derjenigen, die bei den Entscheidungen der Politiker außen vor bleiben, und für die Ängste derjenigen, die immer noch im Kerker der sozialen Ausgrenzung leben“, beschreibt er sich auf seinem Blog. Vielleicht hat er sich das in den vielen Jahren als offizieller Wahlparty-Musiker der Arbeiter-Partei PT abgehört. Vielleicht hat er es auch selbst erfunden. Selbst jedenfalls lebt er nicht unbedingt bescheiden. Neben dem Personal in der Sieben-Suiten-Villa beschäftigt er 40 Berater und Assistenten. Je eine Truppe für sein öffentliches Leben, für sein Leben als Künstler und für sein Privatleben. Einer ist nur damit beschäftigt, dem Vielbeschäftigten die wichtigsten Filme und Bücher auszuwählen und zusammenzufassen. Ein anderer legt ihm die Kleidung für jeden Anlass zurecht. Eine dritte unterrichtet ihn in Rhetorik und hat ihm beigebracht, dass er „bei Reden keine Witze reißen soll“.

Das mag einem schwerfallen, der als Vize-Bürgermeister gerne bei Leuten aus dem Volk anruft und ankündigt: „Brat mal zwei Spiegeleier, ich komm dann zum Mittagessen“. Aber Lula ist ja bestes Beispiel dafür, dass einem beliebten Mann auch schlechtere Witze gern verziehen werden. Und Frank hat noch einen weiteren Pluspunkt vorzuweisen. Er ist nicht korrupt, sagt er. In seinen eigenen Worten heißt das: „Ich gehöre nicht zu den Hurensöhnen von Politikern, die dem Volk Geld stehlen.“

Da im Piauí, wo er herkommt, gibt es einen Ausdruck für Leute wie ihn. „Cabra da peste“ sagen sie da zu einem, der ein echter Kerl ist.

Foto: areavip.com.br

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Vertreibung im Namen des Fortschritts


Hier in Pernambuco wird ja viel vom Fortschritt geschwärmt. Der Fortschritt ist vor allem der neue Industriehafen von Suape, und der soll der Wirtschaft des Bundesstaats einen ungeheuren Schub geben. Pernambuco wächst wie noch nie, heißt es. Zigtausende von Arbeitsplätzen werden entstehen, heißt es. Welchen Preis das hat, schreibt natürlich lieber keiner. Ich will auch gar nicht behaupten, ich wüsste genau, was es für Auswirkungen hat, wenn einerseits Mangrovensümpfe massenhaft trocken gelegt und andererseits neue Fahrrinnen für Cargoschiffe ausgebaggert, Flüsse umgeleitet oder versandet werden.

Natürlich sind die vielen neuen Arbeitsplätze nicht für die Einheimischen. Die haben fast alle viel zu wenig gelernt, um auch nur als Bauhelfer dabei zu sein. Die Neuen kommen aus Bahia und dem Süden, manche jetzt schon aus dem Ausland. Ein Teil der zugezogenen Arbeiter wohnt im Nachbarort Gaibu. Weil die sogenannten Peoes irgendwo essen und schlafen müssen, wird in Gaibu gebaut wie noch nie, und die Mietpreise haben sich im letzten Jahr ungefähr verdoppelt: Für die Firmen ist es immer noch billiger, vier Arbeiter in einer vollkommen überteuerten Mietwohnung unter zu bringen, als in einem Hotel. Jeder, der einen Löffel halten kann, eröffnet ein Restaurant oder bietet Mahlzeiten zum Mitnehmen an. Und morgens um sechs, wenn die großen Firmenbusse ihre Mitarbeiter abholen kommen, stehen Hunderte von Männern in knallroten Blaumännern überall an den Straßen. Manche Leute finden das einen schönen Anblick, weil Ausdruck des Fortschritts. Eine Bekannte findet es toll, dass es jetzt so viel Männerauswahl gibt. Ich fahre noch seltener nach Gaibu als vorher.

Am Wochenende haben mich Freunde zu einem Ausflug eingeladen. Mit einem kleinen wendigen Segler sind wir über den Fluss übergesetzt auf die Insel Tatuoca. Dort wohnen ein paar Dutzend Familien, darunter Dona Dete, die Tante der Bekannten. Tatuoca ist flach und sandig, mit Salinen, Mangroven und Waldstücken. Dona Dete wohnt in einem kleinen Haus aus Holz. Direkt am Wasser. Im Garten wachsen Papayas, Cashews, Kokospalmen. Ein paar Hühner streifen durch die Gegend. Auf der hinteren Terrasse im Lehmofen brennt den ganzenn Tag ein kleines Feuer, auf dem sich jederzeit ein Tässchen Kaffee brühen lässt oder ein Essen bereiten. Normalerweise ist Dona Dete hier allein mit ihrem Neffen. An Wochenenden kommt manchmal Besuch.


Außer uns war eine andere Nichte von Dona Dete da. Die hatte den größten Teil ihres Lebens auf Tatuoca und der benachbarten Insel Cocaia verbracht. In einem kleinen Häuschen direkt am Wasser. „Man musste keine zehn Schritte tun, um Muscheln zu suchen“, erinnert sie sich. „Bei Flut schwammen die Fische um unsere Terrasse herum.“ Als die Industrie sich nach Cocaia ausdehnte, ist sie vertrieben worden. Bekam eine gesetzlich festgelegte Entschädigung in die Hand gedrückt und eine Räumungsfrist von 15 Tagen. „Ich habe damals mehr geweint, als am Tag, an dem mein Vater gestorben ist“, erinnert sich die Nichte. Inzwischen wohnt sie seit mehr als zehn Jahren viele Kilometer entfernt im Landesinneren.

Dona Dete ist über siebzig, aber sie fegt ihren Garten jeden Tag selbst mit dem Reisigbesen. Nur das Trinkwasser kann sie sich nicht mehr selbst holen, denn dafür müsste sie über den Fluss rudern. „Sie wollen uns ja jetzt hier auch weg haben“, sagt sie, „ich weiß gar nicht, was ich machen soll, ich kann halt nicht mehr wie früher“. Und guckt auf ihren Garten und die Hibiskusbüsche. Es gibt Pläne, dass eine Siedlung für alle Bewohner von Tatuoca gebaut werden soll, auf dem Festland. Dort soll jeder Vertriebene ein Häuschen bekommen. „Aber wie werden sich denn die Leute gewöhnen?“, fragt sich Dona Dete. „Wer hier in dieser Freiheit gelebt hat, soll auf einmal in einer Siedlung wohnen, mit dem Nachbarn gleich nebendran?“ Ihr Holzhäuschen hat kein Schloss. Braucht es auch nicht. Manchmal übernachten Besucher im Garten in der Hängematte. Wenn frisch der Wind weht, stören dabei nicht mal Moskitos.

Die Kinder der Bekannten sammeln ein paar Kakteen und Orchideen zum Mitnehmen für ihren Garten. Sie paddeln im Ruderboot zur Insel Cocaia, deren langer weißer Sandstrand noch nicht für Tagesbesucher gesperrt ist. Bemalen sich mit Lehm und sammeln Muscheln, die sie gleich roh verputzen.



„Andere gehen mit ihren Kindern ins Shopping-Zentrum“, sagt mein Bekannter. Das ist vermutlich auch eine Art Fortschritt.


Fotos: Wollowski

Dienstag, 15. September 2009

Schwarz, weiblich, Marina


Der britische Guardian hat schon 2007 verkündet, Marina Silva sei eine der 50 Personen, die helfen könnten, die Welt zu retten. Damals war Marina noch brasilianische Umweltministerin – vermutlich die härteste Kämpferin, die den Posten je inne hatte. Zu hart für die Regierung. Weil Marina zum Beispiel die geplanten Mega-Wasserkraftwerke Jirau und Santo Antonio, die reichlich Arbeitsplätze, Steuergelder und Prestige schaffen würden, erst genehmigen wollte, nachdem deren Auswirkungen auf die Umwelt genau geprüft wären. Das Ende vom Lied: Marina trat im Mai 2008 vom Amt zurück. Ihr Nachfolger, Carlos Minc, hat zuletzt mit seiner Teilnahme am „Marsch für Marihuana“ in Rio Schlagzeilen gemacht.

Wer gedacht hat, damit sei Marina abgetreten, muss spätestens jetzt merken: Falsch gedacht. Marina ist eine Kämpferin, das beweist schon ein Blick in ihre Biografie, die sich liest wie ein Kitschroman. In einer armen Gummizapfer-Familie aufgewachsen mitten im Urwald, wo es weder Straßen, noch Gesundheistversorgung oder Schulen gab, konnte sie als 14-Jährige gerade mal die Uhr lesen und einfachste Rechenaufgaben lösen – um beim Gummiverkauf nicht übers Ohr gehauen zu werden. Mit 15 verlor sie die Mutter und übernahm die Haushaltspflichten für die 10köpfige Familie. So gesehen war es geradezu Glück, als sie mit 16 Hepatitis bekam. Die ließ sich nämlich nur in der Stadt behandeln.

Einmal in Rio Branco angekommen, blieb Marina einfach da. Suchte sich einen Job als Hausangestellte und lernte. Lernte alles, was sie vorher verpasst hatte. Mit 19 hatte sie bereits das Abitur nachgemacht und sich für die Aufnahmeprüfung an der Uni eingeschrieben.

Und so jemand sollte aufgeben, nur weil sie als Ministerin zu unbequem war? Statt dessen wird Marina Silva gerade noch deutlich unbequemer. Sie hat nämlich nach 30jähriger Zugehörigkeit zur Arbeiterpartei gerade die Farbe gewechselt und trägt neuerdings Grün statt Rot. Und die brasilianischen Grünen, so heißt es, wollen sie als Präsidentschaftskandidatin aufstellen.

Auch wenn die Kandidatur noch nicht offiziell bestätigt ist: das bringt die rote Dilma zum Zittern. Und den Präsidenten dazu, schnell einen Plan B und einen
Ersatzkandidaten auszuwählen. Denn Marina ist ein Überraschungsfaktor, dessen Wucht schwer einzuschätzen ist. Unermüdlich im Lernen: Die Senatorin, Mutter von vier Kindern und studierte Historikerin, steht kurz vor dem Abschluss eines Aufbaustudiums. Und unerbittlich in der Moral: Bereits in ihrem ersten politischen Amt als Gemeinderatsmitglied hat Marina freiwillig diverse Finanzhilfen wie die Wohnbeihilfe zurück gegeben und öffentlich gemacht, wie hoch sie selbst und die Ratsmitglieder bezahlt wurden. Weil sie das durchaus reichlich fand.

Das Ausland hat womöglich schon viel länger verstanden, wie effizient diese unspektakuläre Kämpferin ihre Arbeit für die Umwelt tut: In den letzten Jahren hat Marina Silva einen internationalen Preis nach dem anderen gewonnen. „Champions of the Earth“ von den Vereinten Nationen in 2007, den „Duke of Edinburgh-Award" vom WWF in 2008, und den nach dem Jostein-Gaardener-Werk benannten norwegischen „Sophie-Preis“ in diesem Jahr.

Kürzlich titelte die Zeitschrift Veja „Marina ist eine gute Nachricht“ und fragte die Senatorin, ob sie von Obama, dem ebenfalls schwarzen Präsidenten, inspiriert sei. Sie sei zwar auch schwarz, aber es sei doch vermessen, sich mit dem amerikanischen Präsidenten zu vergleichen, antwortete Marina bescheiden. Erwähnte dann aber ganz am Rande, was Freunde von ihr gesagt hätten, als Hillary und Obama gegeneinander angetreten waren: Da mussten die US-Amerikaner sich zwischen einer Frau und einem Schwarzen entscheiden. Wenn Marina in Brasilien für das Präsidentenamt kandidieren würde, hätten die Brasilianer solche Probleme nicht.

Foto: Ana Limp

Dienstag, 11. August 2009

Der Tod auf dem Müll und das verkaufte Sofa

Es gibt hier in Brasilien einen Witz über einen betrogenen Ehemann. Was macht der Betrogene, als er erfährt, seine Frau hat auf dem Wohnzimmersofa mit einem anderen geschlafen? Er verkauft das Sofa.


In Maceió, der Hauptstadt des Bundesstaates Alagoas*, ist am 30. Juli ein Kind zu Tode gekommen. Der zwölfjährige Carlos André da Silva Santos war auf dem städtischen Müllberg eingeschlafen, und wurde am nächsten Morgen von einem Traktor überrollt, dessen Fahrer das Kind unter einem Haufen Pappe nicht gesehen hatte. Der Traktor zerquetschte den Kopf von Carlos, das Leben des Jungen war nicht mehr zu retten.

Natürlich erhob sich im Volk Empörung angesichts dieses grausamen Todes. Was hatte der Junge auf dem Müllberg zu suchen, fragten manche. Als sei es nicht hinlänglich bekannt, dass ganze Familien auf und neben Müllbergen leben, weil sie aus diesen ihren Lebensunterhalt heraus sammeln. Warum ist er eingeschlafen, fragten andere. Als sei es unvorstellbar, dass ein zwölfjähriger Müllsammler abends erschöpft zusammensackt, ohne sich groß darum zu kümmern, wo er sich gerade befindet. Wer ist schuld an diesem Tod, fragten viele. Vor allem, als bekannt wurde, dass genau diese Müllhalde eigentlich schon seit zwei Jahren hätte desaktiviert werden sollen.

In so einer Lage erwartet das Volk eine Aussage vom Bürgermeister. Und was sagte Cícero Almeida? Er sagte: „Der Müllplatz wird sofort eingezäunt und außerdem werden wir ihn grell erleuchten.“ Da er keine näheren Erklärungen zu diesen geplanten Maßnahmen lieferte, bleibt nur, zu spekulieren: Kinder, die trotz des Zauns künftig auf den Müllplatz klettern, sollen dort wenigstens nicht einschlafen können, weil das helle Licht sie vom Schlafen abhält? Kinder, die auf den Müllplatz wollen, sollen das Ziel ihrer Wünsche nur noch im hellen Licht anstarren können, wie eine unerreichbare Schaufensterauslage? Kinder, die statt zur Schule auf den Müllplatz gehen, sollen dort auf eine ganz andere Weise erleuchtet werden?

Sollte Cícero Almeida je von seiner Frau auf dem Sofa betrogen werden, ist wohl anzunehmen, dass er umgehend das Sofa verkaufen würde.


* Alagoas ist der brasilianische Bundesstaat mit dem zweitniedrigsten Index für menschliche Entwicklung (IDH).

Fotos: Müllhalde - cwollowski, Carlos André - www.tudonahora.com.br

Mittwoch, 22. Juli 2009

Partyspaß oder Sextourismus

Die endgültige Entscheidung steht noch aus. Vorläufig aber wird es den Cityguide „Rio for partiers“ weiter geben. Aufgekommen sind diese Art Miniführer in den 1990ern, als Beihefte mancher Zeitschriften. In weiter verkürzter Form drucken vor allem Frauenzeitschriften bis heute Kurzinfos über Städte, für den Wochenendbesuch oder gar den 24-Stunden-Super-Kurz-Trip. Scheint gut anzukommen, die Mischung aus knapper Kultur und reichlich Konsum. Vor allem, weil die praktischen Infos mit Adresse und teils sogar Fotos immer von sogenannten Insidern kommen. Was in Europa läuft, geht auch in Brasilien. Vor allem in Rio.

„Rio for Partiers“ wirbt damit, der „erste Führer“ zu sein, der von jungen Leuten für junge Leute gemacht sei. Geschrieben hat ihn ein Brasilianer, der laut Selbstbeschreibung, Schriftsteller und Redakteur ist und bereits in Rio, Chicago und Wien gelebt hat. Er wollte sich daran orientieren, so sagte Cristiano Nogueiro, der sich gelegentlich auch als Designer bezeichnet, bei der Vorstellung der aktuellen Ausgabe, welche Tipps er seinen ausländischen Freunden für ihren Rio-Besuch geben würde. Neben reichlich Angaben zum besten Sandwich und diversen Clubs, in denen diverse brasilianische Musikstile zu hören seien. Die der Autor den Fremden kurz umreißt, wie folgt: Rio Funk klingt so, als wenn ein Geistesgestörter nach einer Unterrichtstunde Keyboard spielt. Bossa Nova klingt nach 50er Jahre, Strand und Frank Sinatra. Pagode ist Samba, mit allem, was sich auf einen Tisch trommeln lässt.

Lustig, oder? Stolz berichtet Nogueira auf der Homepage seines Führers: „Das Buch verbreitet die humorvolle, joviale, moderne und sportliche Seite der fantastischen Stadt Rio de Janeiro und hat bereits drei internationale Preise für touristische Veröffentlichungen gewonnen.“ Im Grunde ist das immer der gleiche Preis: einer, der von der Amerikanischen Vereinigung der Reisejournalisten jährlich verliehen wird.

Obwohl das Heft seit Jahren so gut beim Publikum ankommt, hat das brasilianische Fremdenverkehrsamt Embratur versucht, es mit einer einstweligen Verfügung aus dem Verkehrt zuziehen. Grund für den Ärger: ein paar der Tipps unter Freunden unter dem Titel: „Umgang mit den brasilianischen Frauen“

- Versuch nicht, deine Brasilianerin am Strand aufzureißen
- Versuch, so schnell wie möglich mit dem Küssen loszulegen
- Bestehe nicht darauf, zu ihr nach Hause zu gehen, sondern schlag einen Spaziergang in eine Gegend mit vielen Motels vor

Zum vereinfachten Aufriss hat Nogueira Rios Frauen kategorisiert. Möglicherweise uninteressant, jedenfalls nicht näher beschrieben, erscheint da zunächst das „normale Mädchen“. Es folgen:

- Typ Britney Spears. So etwas wie höhere Töchter. “Schön aber lassen nicht mit sich flirten”. Tipp: Lass sie links liegen.
- Typ Hippie oder Raver. Leicht anzuquatschen. Schwer zu küssen. Leicht, mit ihnen zu trinken und sich zu amüsieren.
- Typ über 30. Tanzen, trinken, küssen und vergnügen sich gern. Behandele sie wie eine Dame und du wirst ihr König sein, wenn nicht heute nacht, dann mit Sicherheit morgen.
- Typ Knackarsch. Sexmaschinen, die ins Fitnesstudio gehen und hautenge Hosen tragen. Immer eine gute Investition, da das Motel bei diesen Mädels immer im Bereich des Möglichen liegt.

Mag sein, dass der gemeine männliche Rio-Besucher tatsächlich Anderes im Sinn hat, als der männliche Besucher von, sagen wir, Wien oder Chicago, Städte für die Nogueiro bezeichnenderweise keine Cityguides veröffentlicht hat. Mag ebenfalls sein, wie Blogautor Alex M. Costa schreibt, dass Sextourismus in Brasilien keinerlei Förderung mehr benötigt, weil Schweinereien hierzulande sowieso an der Tagesordnung sind, vor allem in der Politik. Mag auch sein, dass die brasilianischen Frauen die schönsten der Welt sind, wie in einem anderen Blog behauptet wird. Nogueiras Freunde – und das erwartet er auch von seinen Lesern - jedenfalls haben eindeutig nur eines mit ihnen vor. Das finde ich durchaus bedauerlich.

Ob es aber tatsächlich diese Formulierungen waren, über die sich die Leute von der Embratur aufegergt haben, mag dahin gestellt bleiben. Der Führer ist nämlich bereits zum sechsten Mal erschienen – mit genau diesen Aussagen. Ein Leonardo Name hat vor Jahren in einer wissenschaftlichen Arbeit über „Rio for partiers“ dessen Zielgruppe seinerseits so kategorisiert: mit „junge Leute“ seien offensichtlich weiße, männliche, heterosexuelle Vertreter der Bourgeoisie gemeint – die ihre Selbstbestätigung durch das Praktizieren exhibitionistischer Sportarten und das respektlose Behandeln von Frauen bezögen. Kurz, ein Typ, der in Brasilien (vor allem in Rio) durchaus kritisch als „Playboy“ bezeichnet wird.

So weit, so bekannt. In diesem Jahr allerdings haben sich die Guide-Macher erdreistet, auf ihr Heft das offizielle Brasil-Logo der Embratur zu drucken, Und das ging dann wirklich zu weit. Gestern hat der Richter vorläufig entschieden: Nein, „Rio for partiers“ verletze nicht die nationale Politik der Embratur (die bekanntlich seit Jahren gegen das stereotype Bild eines Brasiliens voller halbnackter Sambatänzerinnen anwirbt). Nein, es verletze auch nicht die Würde der brasilianischen Frau. Also darf Nogueira schon mal fleißig Hefte nachdrucken: Die kostenlose Publicity dürfte die Nachfrage gewaltig steigern.

Freitag, 27. März 2009

Das doppelte Paraguay


Brasilianische Schüler schneiden in den meisten Wissenstest nicht besonders gut ab, das ist kein Geheimnis. Besonders bescheiden steht es regelmäßig um die Orthografie-Kenntnisse und allgemein um den Wissensstand der Schüler an öffentlichen Schulen. Die Gründe daür sind vielfältig: Zu wenige Wochenstunden, zu schlecht ausgebildete Lehrer, zu konventioneller Frontalunterricht mit Auswendiglernen. Neuerdings lässt sich der Liste hinzu fügen: zu schlechte Bücher.

Wie bereits an anderer Stelle in diesem Blog berichtet, glauben zwei Prozent der hiesigen Schüler, sie lebten mitten in Afrika. Jedenfalls siedelten sie ihr Land auf einer Weltkarte in diesem Kontinent an. Künftig könnte es noch schlimmer kommen: Ein im laufenden Schuljahr an brasilianische Schüler ausgegebenes Geographie-Lehrbuch zeigt Brasilien zwar an der richtigen Stelle in Südamerika. Aber sein Nachbar Bolivien heißt in diesem Buch Paraguay. Wo Paraguay tatsächlich liegt, steht richtigerweise ebenfalls: Paraguay. Scheint niemandem im Schulbuchverlag aufgefallen, dass das Land gleich zweimal vorkommt. Das heißt: Zweimal Paraguay in der Schülervariante. In der Lehrerausgabe gibt es zwei Uruguays und ebenfalls kein Bolivien. Dafür ist Ecuador in beiden Ausgaben ersatzlos gestrichen.

Im vergangenen Jahr hatten bereits Englischlehrer im gleichen Bundesstaat darauf hingewiesen, dass in einem Lehrbuch ausgerechnet das portugiesische Wort für Bildung – Ensino – falsch geschrieben war: mit c wie Encino. Damals hieß es aus dem Erziehungsministerium des Bundesstaates, es handele sich um einen Tippfehler und es würde jetzt das komplette Lehrmaterial überprüft. Nachdem der Lapsus mit der Landkarte passiert ist, heißt es: die beiden Paraguays seien auf Druckfehler zurückzuführen. Aha.

Ausgewechselt würden die Fehldrucke nicht, hat das Ministerium beschlossen: Es seien schließlich alle Lehrer des öffentlichen Bildungssystems darauf hingewiesen worden und das reiche. Nebenbei: Die Peinlichkeit ist nicht etwa in einem der als ungebildet verrufenen Nordoststaaten passiert, sondern in Sao Paulo.

Und was sagt der Gouverneur von Sao Paulo, Präsidentschaftskandidat für 2010: José Serra? Das sei kein schwerwiegender Fehler, sagt er, weil niemand ernsthaft glauben könne, es gäbe zwei Paraguays. Aber es sei ein Fehler und deswegen würden die Bücher sehr wohl ausgetauscht, und die Mehrkosten trage der Schulbuchverlag Fundacao Varzolini. Eine halbe Million der Version mit doppeltem Paraguay sollen bereits in Umlauf sein.

Foto: : reginagiannetti.wordpress.com/2008/07/

Donnerstag, 26. Februar 2009

Die lächelnde Dilma tanzt keinen Frevo


Hier im Dorf können die Leute sich einfach nicht von der tollen Jahreszeit verabschieden: gestern tönte bis weit nach Mitternacht fröhlicher Live-Frevo durch die Hauptstraße, heute lärmt draußen ein allerletzter Karnevalszug. In dem feiern die Strandbuden-Inhaberinnen, weil die ja schließlich die ganzen anderen Tage arbeiten mussten. Um gar nicht erst in die Versuchung zu kommen, die schweren Frevo-Schritte zu probieren, lassen die Barfrauen dumpfe Axé-Rhythmen dröhnen.

Ich muss zugeben, dass ich in diesem Jahr geradezu karnevalsflüchtig war. Nach dem Galo kam der Regen, mit diesem eine Erkältung, allgemeine Mattigkeit und Bettschwere. Anders als mir ging es der Präsidentschaftskandidatin. Dilma Roussef, weit ab der Karnevalshochburgen in Minas Gerais geboren und eher als ehemalige Linksaktivistin denn als Karnevalsjecke bekannt, war in Olinda. Große Ehre für eine kleine Künstlerstadt.

„Sie ging zu Fuß“ bis zur Ehrentribüne oben im Regierungspalast, hieß es in einer Pressemitteilung. Kommt ganz volksnah rüber. Dabei ist allseits bekannt, dass die Kandidatin gerne mit ihrem Hund spazieren geht und also halbwegs gut zu Fuß sein muss. Außerdem würde am Karnevalssamstag selbst eine Regierungslimousine Schwierigkeiten haben, durch Olindas Gassen zu fahren. Auf dem Fußweg haben Dilma ein paar Passanten erkannt, meldet die Presse weiter. Vor allem Frauen.

Kein Wunder, dass es nur ein paar waren: Die Dame hat sich in den letzten Monaten so verändert, dass sie ohne Vorwarnung vermutlich nicht mal ihre eigene Mutter erkennen würde. Mag sein, dass die Aussicht, Präsidentin des Landes zu werden, an sich schon für fröhliche Stimmung sorgt. Zudem hat eine kleine OP die vormals chronisch hängenden Mundwinkel von Dilma angehoben. Die Tränensäcke sind weg, die Lider geliftet, die strengen Stirnfalten geglättet. Das Ganze sieht nicht mal besonders künstlich aus. Nur eben nicht mehr wie Dilma, so wie wir sie kannten.

Frauen sind auf solche Veränderungen neugieriger als Männer, deswegen gibt es Vorher-Nachher-Fotos auch meist in Frauenzeitschriften. Vielleicht wollten die Passantinnen in Olinda auch aus der Nähe checken, ob die neue Dilma tatsächlich zu lächeln gelernt hat, wie das neuere Pressefotos glauben machen. Hat sie. Nur eins hat sie nicht gelernt: Frevo zu tanzen. Das überlässt sie lieber den Kindern aus Olinda.

Fotos: Leo Medeiros, NN
 
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