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Samstag, 18. September 2010

Friedenspolizisten, Politskandale und Star-Kandidaten


Während der finanziell ruinierte Star-Fußballer Romário sein Glück als Polit-Kandidat versucht und Dilma Rousseff unter dem Skandal der Freundin Erenice leidet, bin ich in Rios Favelas unterwegs und gucke mir an, was die Friedenspolizisten hier so machen.

In der ältesten Favela des ganzen Landes steht ganz oben hoch über dem Hafen der Stadt eine winzige Kapelle. In der hängt ein einfaches Holzkreuz, und die weiß gekalkte Wand dahinter zieren mehrere Einschuss-Löcher. Drastischer lässt sich kaum illustrieren, wie ein ziviler Kriegszustand aussieht. Trotzdem sind nicht alle Anwohner froh über die bewaffnete Polizei-Präsenz, die seit Monaten Schießereien verhindert. Weil sie auch den illegalen Handel mit geraubten Waren und Fälschungen unterbindet, den Drogenhandel erschwert und überhaupt das ganze Morro in eine andere Lebensrichtung drängt.

Heute Nacht wird in der City of God ein Baile Funk stattfinden, einer dieser Party-Spektakel mit pornografischen Tänzen und harten Texten, die früher von Drogenbossen genehmigt wurden und mit reichlich Drogen und Waffen garniert waren. Dieser Baile ist vom Polizei-Kommandant genehmigt und wird von der Schocktruppe bewacht. Vielleicht gucke ich mir das an - wenn die Cidade de Deuzs nur nicht so furchtbar weit weg wäre.

Jedenfalls ist dies eine spannende Zeit - auch wenn viele skeptisch sagen: das ist nur Wahlkampf, spätestens nach der Olympiade ziehen die ihre Polizisten wieder ab. In der Zwischenzeit bewirken die Polizisten etwas. Und ob das nach der Olympiade noch jemand rückgängig machen kann, ohne sich politisch total zu verbrennen, das ist eine ganz andere Frage.

foto: wollowski

Samstag, 4. September 2010

Kunst und Drogen


„Die Kids hier sollten genauso leicht Zugang zu Kunst haben, wie zu Drogen und Alkohol“. Das hat Lu Araujo gestern zu mir gesagt. Lu hat für Olinda ein Musikfestival erfunden, das eine Woche lang klassische und folkloristische oder poppige moderne Instrumentalmusik in Olindas Barockkirchen bringt. Olinda ist bekannt für seine koloniale Altstadt, die sogar UNESCO-Weltkulturerbe-Rang hat. Von Olindas Slums ist weniger oft die Rede.

Heute traf ich Maestro Ivan, den Leiter des Orchesters für zeitgenössische Musik, Orquestra contemporanea de Olinda. Er arbeitet mit jungen Leuten – auch aus den Slums. Sie spielen unter anderem Musik, die Mestre Ivan erfunden hat. Eine abenteuerliche Mischung aus Klassik und Folklore, nordostbrasilianischen und afrikanischen Traditionen und der Moderne. Ein Kritiker der New York Times hat sie gehört und geschrieben, aus Brasilien sei seit Chico Science nicht mehr so Aufregendes gekommen.

Der Maestro hat mir heute erzählt, dass ihm kürzlich eine vielversprechende Flötenschülerin ihr Instrument zurück gebracht habe. Sie wolle nicht mehr spielen, habe sie dazu gesagt. Als er zu dem Mädchen nach Hause in die Favela V8 ging, um mit der Mutter zu sprechen, merkte der Maestro, dass diese ihm etwas verschweigen wollte. Zwei Wochen später war das Mädchen tot. Gesteinigt. Sie hatte sich in die Welt des Crack hineinziehen lassen und war – ungewöhnlich schnell und gewöhnlich brutal – dabei umgekommen.

Am Montagabend spielt Maestro Ivan mit dem Orchestra contemporanea de Olinda oben auf dem Platz vor der Kathedrale Igreja da Sé. Das ist einer der Höhepunkte der MIMO, Kritiker aus dem ganzen Land werden darüber berichten. In den sieben Jahren, seit die MIMO existiert, haben mehrere Tausend junge und nicht so junge Leute dabei an Workshops und Kursen teilgenommen. Manche waren schon professionelle Musiker, andere wollen es werden. Hoffen wir dass es Lu; Mestre Ivan und all den anderen gelingt, für immer mehr Kinder und junge Leute Kunst genau so erreichbar zu machen, wie Drogen. Damit sie wenigstens eine Wahl haben.

Foto: Promo

Mittwoch, 11. August 2010

Kinderglück beim Klauen?

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Dienstag, 3. August 2010

Zico haut auf den Tisch


So geht es nicht weiter. Brasilien wird in absehbarer Zeit die beiden größten Sportereignisse der Welt beherbergen, und gleichzeitig geraten immer wieder gerade die Sportstars in Schlagzeilen. Genauer gesagt, die Fußballer. Zuletzt und am schrecklichsten Bruno, der Torhüter und Kapitän des Vereins Flamengo in Rio de Janeiro. Gerade der Flamengo, der einst Größen wie den legendären Zico hervorgebracht hat. Wie gesagt, so geht es nicht weiter. Deshalb haut jetzt Zico haut jetzt auf den Tisch.

Seit zwei Monaten ist er in der Direktion des traditionellen Vereins – und musste dabei die schlimmste Phase des Vereins erleben. Fehltritte bringen Brasiliens Fußballstars regelmäßig – und häufig werden ausufernde Orgien, uneheliche Kinder, außereheliche Beziehungen, gar Kontakte zu käuflichen Transvestiten mit der einfachen Herkunft der Kicker erklärt. Die Favela-Wurzeln müssen auch als Erklärung herhalten, wenn die oft schwerreichen Jungs die Nähe von Banditen suchen. Fast schien es, als sei der Verein wie eine Mutter, die dem fehlgeleiteten Sohn alles verzeiht. Bruno etwa, wurde von seinem Verein nur beurlaubt, als ihm kriminelle Machenschaften bereits nachgewiesen waren und er außerdem unter schwerem Mordverdacht stand. Dagegen wirken andere Details wie Kinkerlitzchen. Etwa dass häufig für den frühen Morgen angesetzte Trainings verschoben werden mussten - weil mancher Star so früh einfach nicht erschien, womöglich weil er noch verkatert war.

Jetzt soll Schluss sein mit der mütterlichen Nachsicht. Wie ein strenger Vater will Zico endlich Konsequenz einführen, die bekanntlich bei jeder Art von Erziehung unerlässlich ist. Wer beim Flamengo fehlt, bekommt künftig Konsequenzen zu spüren, die von Strafgeldern über Sperrung bis zum Ausschluss aus dem Verein reichen sollen. „Wir sprechen hier von Idolen, die Millionen Brasilianer bewundern und imitieren. Ihr Verhalten sollte sich auf der Höhe dieser Vorbildrolle bewegen“, sagt Zico in einem Interview der Zeitschrift Veja. Eventuelle Vorbehalte, Vereine sollten sich nicht ins Privatleben ihrer Spieler einmischen, lässt er ebenso wenig gelten, wie die Herkunftsentschuldigungen. Ohne Disziplin gehe es nicht, sagt der Altstar, der in sechs Ländern als Spieler und Trainer gearbeitet hat, nur mit Talent komme niemand weit. Dafür seien die Vereine verantwortlich – und auch die Agenten der Spieler, die häufig nur schnelles Geld sähen, anstatt ihre Klienten menschlich zu beraten.

Ob es Zufall ist, dass Ronaldo Fenómeno gerade jetzt seinen Ausstieg für 2011 ankündigt? Das Wunderkind der WM 2002 kam immer mal wieder wegen ausufernden Partys oder wechselnder Gespielinnen in die Medien, aber noch treuer begleitete ihn ein anderes Disziplinproblem während seiner ganzen Karriere: die Vorliebe für Leckeres vom Grill und das daraus folgende Übergewicht. Ab 2011 darf der zum dritten Mal verheiratete Ronaldo endlich schlemmen wie er will. Er wird eine Eventfirma leiten, die außerdem auch Fußballerkarrieren betreut. Hoffentlich in Zicos Sinne.

Foto (Zico) gesehen bei: http://urubunews.com.br/francisco-aiello-novo-comentarista-o-zico-dirigente/

Freitag, 23. Juli 2010

Neue Banditen an die Macht?


Bald ist es wieder soweit. Das brasilianische Volk wird seine Vertreter wählen. Und die Banditen stehen schon Schlange. Das darf man sich getrost vorstellen wie ein direktes Erbe der Kolonialzeit: Damals haben die Herren einfach ihren den Sklaven und sonstigen Untertanen gesagt, wo es lang ging. Und als es dann etwas zu wählen gab, hieß das noch lange nicht, dass wirklich gewählt wurde. Denn natürlich gab es da immer noch Herren, die ihren Untertanen sagten, wo das Kreuz zu machen war.

Heute sagen die Bandenchefs auf den Hügeln vor allem von Rio de Janeiro schon den Kandidaten, ob sie überhaupt Wahlkampf machen dürfen, in dem jeweiligen Slum. Und vorsichtshalber auch noch den Bewohnern desselben, wen sie zu wählen haben. Natürlich vorzugsweise Leute aus den eigenen Reihen. Das klappt gut und ist schwer nachweisbar. Bei den letzten Wahlen hat das Wahlgericht in Rio recherchiert, dass mindestens 100 der Kandidaten für politische Ämter in der Stadt zur Zeit des Wahlkampfs des Mordes angeklagt oder sogar bereits wegen eines Mordes verurteilt waren. Untersucht hat das Gericht diese Fälle nicht etwa, um diese Kandidaten auszuschließen. Die Beamten forderten einen Metalldetektor am Eingang ihres Gerichtsgebäudes und brauchten dafür Argumente. Solange ihnen keine Verbindung zum organisierten Verbrechen nachgewiesen ist, durften Mörder so lange gewählt werden, bis sie in letzter Instanz verurteilt waren. Ganz legal.

Damit soll jetzt Schluss sein. Bei den jetzt bevorstehenden Wahlen soll bereits das neue Wahlgesetz in Kraft treten. Mehr als eineinhalb Millionen Menschen hatten ihre Unterschrift unter den Gesetzesentwurf gesetzt, der im Mai verabschiedet worden ist und strengstes Vorgehen gegen Wahlverbrechen vorsieht. Wegen bestimmter Verbrechen vorbestrafte Kandidaten sollen gar nicht mehr zugelassen, Stimmenkauf und Co. generell verhindert werden. Das klingt gut und ist sicher ein Fortschritt. Ob aber wirklich alle Banditen außen vor bleiben – da ist sich nicht mal der Präsident des Wahlgerichts sicher, wie er kürzlich in einem Interview der Zeitschrift Veja zugab.

„Man darf nicht vergessen, dass die politischen Parteien die ersten sind, wenn es darum geht, Kandidaten mit schmutziger Weste zu legitimieren“, sagte Nametala Machafo Jorge reichlich direkt. Und genau hier schließt sich der Kreis. Die Banditen auf den Hügeln sagen den Untertanen wo es langgeht, und welcher Kandidat der wichtigste ist. Wenn dadurch dieser Kandidat für eine Partei ein interessantes Gewicht bekommt, - dann wird wohl die Partei einiges für ihn tun. Schmutzige Vergangenheit lässt sich prima vertuschen. Dass theoretisch die Einträge ins Strafregister theoretisch im Internet abrufbar sind, stört dabei keinen großen Geist – erfahrungsgemäß gucken die Wähler da sowieso selten nach.

Die Statistik sagt nichts darüber aus, ob die Nicht-Nachgucker dieselben sind, die für das neue Gesetz gestimmt haben. Oder zu welchem Prozentsatz die 1,6 Millionen Befürworter des neuen Gesetzes aus den Armensiedlungen kommen, in denen laut Gerichtspräsident Nametala „nicht mal das Grundlegendste gesichert ist: dass die Wahlen in Freiheit stattfinden, wie es in einer guten Demokratie der Fall sein sollte.“ Ziemlich sicher scheint hingegen, dass auch diesmal Banditen an die Macht gelangen werden. Vielleicht immerhin ein paar weniger als vor vier Jahren.

Foto : ssp.se.gov.br
So sieht man die Herren Kandidaten natürlich nicht, das Foto zeigt normale Banditen, ganz ohne reingewaschene Westen.

Samstag, 17. Juli 2010

Das Ende eines Fußballmärchens


Wer arm geboren wird in Brasilien, kann problemlos sein ganzes Leben arm bleiben. Oder er steigt auf. Dass es ein Slumbewohner zum Bankdirektor schafft, ist bekanntlich eher selten. Die Chancen darauf, Profi-Fußballer zu werden, sind auch nicht so groß, wie viele träumen, aber im Vergleich stehen sie doch deutlich besser. Am einfachsten ist es immer noch, eine Karriere im Drogen- und Bandenmilieu zu machen. Kein Wunder, dass beides oft sehr nah beieinander liegt.

Wenn ein Nachwuchskicker einen Profivertrag bei einem der großen Vereine bekommt, kann er oft auf einen Schlag seiner Mutter ein Haus und sich selbst ein Auto kaufen. Er wird zum Frauenheld und gern gesehenen Gast auf jeder Party – und selbst die Feinde seiner Kindheit wollen seine Freunde sein. Meist muss er mit dem Vertragsbeginn aber auch hinaus in die Welt der anderen. Die anderen, bei denen er nie dazu gehört hat. Weil die anderen immer schon Geld gehabt haben. Weil sie eine gute Schule besucht haben. Weil sie immer schon eine sichere Zukunft hatten. Dass sie immer noch nicht dazu gehören, verkraften viele nicht.

Manche schmücken sich mit dicken Diamanten und coolen Sprüchen, wie Carlos Alberto, der immer noch bei Bremen unter Vertrag steht, aber wegen seiner Anpassungsschwierigkeiten schon an so viele brasilianische Vereine zurück ausgeliehen wurde, dass man schnell den Überblick verlieren kann. Oder sie verlieren sich in Alkohol und Frauengeschichten wie Adriano, der bei Mailands Inter eine so beneidenswerte Karriere hingelegt hatte. Irgendwann ist der Zwei-Meter-Mann zusammengebrochen und ist untergetaucht. Gesichtet wurde er nach Tagen zuhause in seinem Slum in Rio.

Von Adriano existieren Fotos mit erhobener Waffe – angeblich nur ein Spielzeug. Er hat zugegeben, einem Drogenboss größere Geldmengen zugeschoben zu haben – angeblich, damit dieser Nahrungsmittel an die Armen verteilen sollte. Sein Kollege Vagner Love wird regelmäßig auf Funkparties in zweifelhafter Gesellschaft gesichtet. Alles kein Problem? Alles nur Spielerei? "Wir können die Jungs nicht von ihren Wurzeln abschneiden, da kommen sie eben her" – heißt es gerne von Seiten der Vereine. Das mag stimmen. Aber jetzt ist es komplizierter geworden. Im Fall Bruno.

Bruno ist ein vielversprechender junger Torwart, unter Vertrag beim traditionellen Flamengo-Club in Rio. Der 25Jährige verdient momentan beinahe 100.000 Euro im Monat und hat sich von seinem neuen Reichtum bereits ein Haus in Belo Horizonte, eine Wohnung in Rio und einen Jeep gekauft. Unter anderem. In die Schlagzeilen ist er jetzt allerdings wegen einer anderen Sache gekommen. Bruno steht unter dringendem Verdacht, an einem Mord beteiligt zu sein.

Bei einer Party, die der junge Mann selbst als „Orgie“ bezeichnet, hat er eine junge Frau kennengelernt. Eliza sah gut aus, war jung und sie war vor allem scharf darauf, einen Profi-Fußballer zum Freund zu haben. Dafür war sie schon mit mehreren ins Bett gegangen. Vor gut einem Jahr tat sie das auch mit Bruno. Und wurde schwanger. Das Sex-Intermezzo hatte dem Torwart so gut gefallen, dass er es noch mindestens zweimal wiederholte. Die Folgen gefielen dem seit Jahren verheirateten Star gar nicht. Er soll Eliza deswegen mit folgenden Worten gedroht haben: Ich will dieses Kind nicht und ich bin zu allem bereit, damit du dieses Kind nicht bekommst. Du kennst mich nicht und weißt nicht, wozu ich fähig bin, denn ich komme aus der Favela.“

Eliza ist tot. Misshandelt, verprügelt und schließlich erwürgt, zerteilt und Rottweilern zum Fraß vorgeworfen. Es sieht ganz so aus, als habe Bruno das veranlasst, der junge Held aus dem Fußballmärchen. Wie ist so eine Barbarei zu erklären? Weil Bruno aus der Favela kommt? Weil das seine Wurzeln sind? Weil er bei seinem kometenhaften Aufstieg jegliches Gefühl für die Realität verloren hat? Oder ist er einfach ein Psychopath, der zufällig auch noch Fußballer ist?

Foto: http://urubuzadams.wordpress.com/noticias/

Sonntag, 7. März 2010

Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf


Am Sonntag kosten die Bustickets hier im Großraum Recife nur den halben Preis, deswegen ist Sonntag Volkswandertag. Die meisten fahren an den Strand, manche vergnügen sich auch in vollklimatisierten Shopping Malls. Es gibt noch eine dritte Gruppe, die jeden Sonntag unterwegs ist. Sie besteht vor allem aus Frauen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen, die mit großen Picknicktaschen schon in aller Frühe aufbrechen: Sonntag ist Besuchstag in Pernambucos Gefängnissen.

Letztens bin ich mit gefahren. Weil mir eine Freundin so viele Geschichten erzählt hat. Von den Vier-Mann-Zellen, die mit 20 belegt sind, und den anderen, die auf den Fluren nächtigen müssen. Von den „Capos“, die Einzelzellen vermieten und anderen, die an Besuchstagen im Hof aus Bettlaken Zelte improvisieren, die ebenfalls vermietet werden. Wie einmal ein spielendes Kind ein solches Laken runtergezupft hat und dahinter ein splitterfasernacktes Paar gerade voll bei der Sache war – illegal, denn Intimbesuche sind nur mittwochs gestattet. Wie am Eingang die Besucherinnen sogar das Höschen runter lassen müssen, damit sie ja keine Drogen einschmuggeln, drinnen aber Crack-Steine offen über die Tische verschoben werden. Und dass auch nicht-verwandte Frauen besuchen dürfen.

Also bin ich am Vorabend schon in die Kreisstadt gefahren, um von dort den ersten Bus zu nehmen, bin um drei Uhr nachts aufgestanden und um halb vier mit den anderen zum Busbahnhof gewankt. Normale Busse sind sonntags um vier Uhr morgens leer. So können wir noch eine Weile dösen, bis wir in den ersten fahlen Lichtstrahlen in Recife ankommen. Am nächsten Umsteige-Busbahnhof ist dann gleich zu erkennen, wo es weiter geht: an der Haltestelle des Gefängnisbusses hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Wir drängen uns zwischen alten Mütterchen, tätowierten Minirockträgerinnen und allen nur denkbaren Varianten Frauen in den Bus, schwanken eine weitere halbe Stunde durch einsamer werdende Straßen und kommen an im Centro de Triagem Professor Everardo Luna.

Es ist sechs Uhr morgens, die Sonne deutet erst an, zu welcher Kraft sie sich in den nächsten Stunden steigern wird, und die Schlange vor dem Untersuchungsgefängnis ist bereits mehrere Hundert Personen lang. Tatsächlich sind es vier Schlangen: die längste ist unsere, in der Frauen mit Gepäck stehen. Auch ein Alupäckchen mit Essen ist Gepäck. Die anderen Schlangen sind kürzer und für Frauen ohne Gepäck, für solche mit kleinen Kindern, für über 65-Jährige sowie eine für Männer. Die warten auf gut Glück, denn selten dürfen an einem Sonntag alle wartenden Männer hinein, nach nur Verwaltungsangestelltem bekannten Regeln wird jeweils für den aktuellen Sonntag eine Höchstzahl festgelegt, die am nächsten Sonntag schon nicht mehr bindend ist. Auch sonst gibt es allerlei Regeln. Männer dürfen kein Schwarz tragen, Frauen weder kurze Röcke und Shorts, noch zu tief ausgeschnittene oder rückenfreie Oberteile. „Lächerlich“, sagt eine, „kaum sind sie drinnen, duschen die meisten und laufen dann in den Boxershorts ihres Mannes rum“. Für alle Fälle gibt es an mehreren Ständen, die neben der Warteschlange aufgebaut sind, dezente Hosen, Röcke, Blusen oder Jäckchen zu kaufen und zu mieten.

Überhaupt ist hier einiges geboten. Da weder Handys, noch Fotoapparate mit hineingenommen werden dürfen, ist eine Gepäckaufbewahrung organisiert, die umgerechnet 40 Cent kostet, komplett auf Vertrauen beruht und hervorragend funktioniert: die Habseligkeiten werden erst in eine Plastiktüte und dann in eine leere Kühlbox gestopft, bis die Besitzerin wieder nach Hause will. Da die Sonne schon um sieben empfindlich brennt, und sich in der Folge nur noch weiter steigert, sind auch Schirmmützen, Sonnenmilch und Sonnenschirme im Angebot. Und natürlich Snacks vom Wurstbrot bis zur frittierten Pastete, Zuckerrohrsaft, Kokoswasser oder Bier für die härteren Kandidatinnen. Auf die sicher hoch lukrative Idee, Klapphocker zu vermieten, ist noch niemand gekommen. Also hocken sich die Wartenden auf Ziegelsteine von einer nahen Baustelle, auf Kartonfetzen von einem nahen Müllhaufen, auf leere Plastiktüten oder Stücke Stoff, lehnen die Rücken aneinander und nehmen die Sonne ergeben hin.

Aus einem Kombi dröhnt Musik der Evangelikalen und kündet davon, dass es auch heute Wunder gebe, wenn man nur daran glaubt. Vielleicht gilt es schon als Wunder, dass wir es um elf bis in den Vorhof des Centro geschafft haben. Der ist von weißen Mauern umgeben, die das Licht unbarmherzig bündeln und jeden Luftzug zuverlässig abhalten. So muss sich ein Hühnchen auf dem Grill fühlen. Hätte mir doch eine Schirmmütze kaufen sollen, aber wer jetzt wieder hinaus geht, muss sich anschließend ganz hinten an der Schlange wieder anstellen. So wie eine leichtgeschürzte Blondierte, die sich wohl jetzt schnell noch ein Jäckchen besorgt. Gelegentlich gibt es ein paar Zentimeter Schatten, aus dem man am liebsten nie mehr heraus treten will. Wir kaufen Mineralwasser, um es auf unsere kochenden Häupter zu tröpfeln. Vorher haben die Frauen noch erzählt, von dem Mörder, der sich frech vor die Leiche des soeben von ihm ermordeten Kindes setzt, bis die Polizei kommt und zynisch kommentiert: „Unmenschlich so etwas“. Alle Anwohner wissen Bescheid, alle schweigen, denn „lieber feige leben als ehrenhaft sterben“. Von dem ungerecht eingesperrten Ehemann. Oder davon, dass sie zum ersten Mal hier sind und noch nie mit der Polizei zu tun hatten. Jetzt spricht keine mehr. Es ist sogar für Worte zu heiß.

In kleinen Grüppchen werden die ersten ins Gebäude eingelassen. Dort werden die Taschen und Plastiktüten durchleuchtet, die Frauen müssen sich ausziehen, das Höschen herunter lassen und dann dürfen sie hinein, zur Sonntagsfrische mit dem Liebsten, Bruder oder Sohn. Manche beziehen erst mal Prügel vom Ehemann, weil sie sich nicht benommen haben, wie es ihm gefällt. Manche haben draußen ihre Spitzel. Manche leiten von drinnen einen lukrativen Drogenhandel und wollen gar nicht mehr raus. Jetzt lässt der Wachmann an der Tür einen Riesenschwung auf einmal hinein. Bis zwölf Uhr werden Besucherinnen eingelassen, dann ist Mittagspause bis halb zwei. Wenn es in diesem Tempo weiter geht, könnten wir es gerade so eben schaffen. Da knallt der Wachmann die schwere Glastür zu und legt das Gitter vor. Um 11 Uhr 45. Für uns bedeutet das: eineinhalb zusätzliche Stunden hier im Hof, auf dem Hühnergrill.

Schade, dass ich meine Kamera draußen zur Aufbewahrung lassen musste. Das wäre jetzt das Bild: Manche Frauen haben sich das Oberteil ausgezogen und stehen im BH in der prallen Sonne, eine Übergewichtige stopft sich gerade gierig das Huhn in den Schlund, das sie vermutlich eigentlich dem Inhaftierten mitbringen wollte. Auf den wenigen Zentimetern Schatten direkt an der Mauer drängen sich so viele Menschen, wie man es nicht für möglich halten sollte. Wer nicht schnell genug in den Schatten gestürmt ist, steht in der Sonne, ergeben wie ein Schaf vor der Schlachtbank. Bekommt hier nie jemand einen Sonnenstich? Und wenn, interessiert das jemanden?

Ein Mann verkauft Zweiliterflaschen mit selbstgepresstem Fruchtsaft. Als wir den ersten Plastikbecher an die Lippen setzen, bemerken wir ein leichtes Fäulnisaroma. Beim dritten Becher haben wir uns daran gewöhnt. In der Mitte des Hofes geht zuweilen so etwas wie ein winziger Hauch. Den Kopf auf den Arm zu stützen bringt ein winziges bisschen Schatten. Um halb zwei bleibt die Tür geschlossen. Sie öffnet sich erst um zwei. Um halb drei bin ich dran. Und werde abgewiesen: mein Ausweis entspreche nicht der Norm. Ich könne ja mein Glück beim Oberaufseher versuchen, wenn der es gestattet, dann ja. Der Oberaufseher sieht mich nicht einmal an. Also wanke ich zurück zur Bushaltestelle. Inzwischen sind alle Busse rappelvoll, weil all die Billigticketnutzer von den Stränden und aus den Einkaufszentren wieder nach Hause fahren. Abends um sechs stehe ich im letzten Bus nach Hause. Manche Frauen machen diese Sonntagsausflüge jede Woche. Jahre lang. Auf dem Hof hatte eine Frau eine Tätowierung quer über den Rücken die besagte: Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf.

foto: wollowski

Freitag, 22. Januar 2010

Der Pferdeklau und ein Hauch von Unverständnis


Bekanntermaßen ist der Brasilianer an sich nicht so gerne direkt. Vor allem bei Konflikten. Oft ist das eine gute Sache, weil zwei Konfliktpartner sich in kleinen Dörfern immer wieder über den Weg laufen – und das fällt ihnen natürlich wesentlich leichter, wenn sie sich nicht bis aufs Blut gestritten, sondern in freundlichen Arabesken um den eigentlichen Streit-Gegenstand kreiselnd verständigt haben. Ich versuche also, in dieser Hinsicht lebenslanges Lernen zu verwirklichen und meine unpassende deutsche Direktheit abzulegen. Es gelingt mir immer öfter, nicht gleich wütend herauszuplatzen, wenn irgendwas passiert ist. Meist ist es auch mir als Fremder möglich, die mehr oder weniger eleganten Andeutungen zu verstehen, in denen sich Einheimische den eigentlichen Sachverhalt mitteilen.

Meine Nachbarin zum Beispiel, also nicht diejenige, die immer mit ihren Hühnern schimpft, sondern die andere, welche morgens mit einem Kinderstimmchen singend durch den Garten wandelt und gelegentlich auf ihrer Terrasse grollende Prediger empfängt. Meine Nachbarin also, wendet sich meist sehr freundlich an mich. „Frau Nachbarin“, sagt sie etwa, „ich wünsche einen schönen Guten Morgen“, und lächelt dabei. Dann fährt sie fort, immer noch lächelnd: „Frau Nachbarin, sammeln Sie etwa den Pferdemist als Dünger?“ „Nein“, sage ich wahrheitsgemäß, „den sammele ich nicht, den hat das Pferd gestern hier fallenlassen, als es gerade da war.“ „Ach“, antwortet die Nachbarin, jetzt sichtlich bekümmert, „Sie wissen gar nicht, wie unglaublich das gestunken hat, den ganzen Tag und die ganze Nacht“. Und dann wendet sie sich ab und verschwindet in ihrem Haus.

So weit, so klar. Meine Nachbarin ist einfach zu verstehen, sie hasst Tiere. Katzen verdächtigt sie, ausschließlich und ständig auf ihre Terrasse zu defäkieren – ungeachtet der Tatsache, dass Katzen keine glatten kalten Unterböden, sondern sandige weiche für solcherlei Tätigkeiten vorziehen. Sie kann Hunde nicht ausstehen, weil die sich sämtlich in ihrem Garten versammeln, um dort wilde Paarungen vorzunehmen. Und Pferde mag sie auch nicht, weil die ständig stinken. Insofern passen wir schlecht zusammen, aber ich tue mein Bestes, ihre Geduld mit der Tieranwesenheit auf meinem Grundstück nicht zu sehr auszureizen.

Schwieriger wurde es heute. Da suchte ich mein Pferd. Das hatte jemand von seinem Weideplatz entfernt, an dem es gestern im Morgengrauen noch angebunden stand. Da ich den ganzen Tag in der Stadt war, hörte ich erst abends im Dunkeln von seinem Verschwinden. Und erfuhr außerdem, dass jemand auf ihm reitend gesichtet worden war, spätnachmittags, im übernächsten Dorf. Das waren gleichzeitig schlechte und gute Nachrichten: gute, weil das Pferd noch in der Nähe war und nicht etwa unterwegs zum Pferdemarkt, auf dem jeden Sonntag reichlich Tiere verkauft werden, nach deren Herkunft niemand fragt. Schlechte, weil die Tatsache, dass jemand auf ihm durch die Gegend ritt, bedeutete, dass dieser jemand kein sonderliches Interesse daran hatte, mir das Pferd zurück zu geben.

Im Dunkeln suchen, ist schwierig, also wartete ich bis heute Morgen. Kaum war ich auf der Mutter des Vermissten losgeritten, traf ich einen Bekannten. Der guckte sich seltsam um, druckste etwas, und sagte dann, er wisse, wer mein Pferd habe. Nämlich Y, nennen wir ihn João. Der sei gestern auf ihm geritten. Morgens schon und abends wieder - im übernächsten Dorf. Aber das solle ich bitte niemandem sagen, dass er mir das verraten habe. Ein paar Hundert Meter weiter fand ich meinen Hengst. Angebunden vor der Tür eines Pferdebesitzers und Bekannten von João. Dieser Pferdebesitzer, nennen wir ihn Manoel, kam gleich aus seinem Haus, als er das freudige Willkommensgewieher meines Hengstes hörte und erklärte mir Folgendes: Ich solle doch bitte besser Acht geben auf mein Pferd. Weil der nämlich ständig hier aufkreuze und sein Pferd schon mal übel zugerichtet habe. João habe ihn herrenlos und ohne Seil herumirrend gefunden und netterweise hier angebunden. Gestern abends sei das gewesen. Und wenn ich nicht besser Acht gäbe, könne es ja sein, dass ich mein Pferd verliere, nicht jeder sei so nett, es gleich wieder anzubinden.

Das Pferd hatte einen blutigen Nasenrücken, typische Spur brutaler Reiter, die einen verletzenden Nasenbügel dazu einsetzen, das Pferd besonders markig zum Stehen zu bringen. Ich macht Manoel halbwegs elegant darauf aufmerksam, dass João mit meinem Pferd gesehen worden war. Nachmittags. Reitend. Im übernächsten Dorf. Hhm, sagte Manoel ausweichend. Der João habe so Anfälle, dann sei er unterwegs wie ein Verrückter. Er selbst sei schon manchmal sauer geworden deswegen, habe dann aber doch nichts gesagt, weil der João an sich ein guter Junge sei. Wenn er nicht diese Aussetzer habe. Aber auf mein Pferd solle ich wirklich Acht geben. So ein Hengst, der gut unter dem Sattel und vor der Kutsche geht, da gäbe es viele Interessenten. Ich speicherte Manoels Telefonnummer, um ihn in Notfällen anrufen zu können, bedankte mich für die Hilfe, ließ vorsichtshalber auch Dank an João ausrichten und ritt nachdenklich zurück.

Was wollte Manoel mir sagen? Dass João unzurechenbar sei und es nicht lohnen würde, ihn auf sein Verhalten anzusprechen? Dass er es auf mein Pferd abgesehen hatte, und es demnächst einfach verkaufen würde, wenn ich es nicht in einem abschließbaren Stall versteckte? Dass nicht nur João mein potentieller Feind war? Ich grübelte, bis ich mit meinem Hengst zuhause angekommen war, aber es blieb immer noch ein Hauch von Unverständnis: Manchmal ist deutsche Direktheit eine schöne Sache.


PS. Gehalten habe ich es dann doch lieber wie die Brasilianer: Habe überall - ohne Namen zu nennen - herum erzählt, dass einer angeblich mein Pferd gefunden habe, aber weit vorher bereits fröhlich herumreitend damit gesehen worden sei. Da hier jeder jeden kennt, wird das João garantiert zu Ohren kommen. So hat er einerseits sein Gesicht gewahrt, weiß aber andererseits Bescheid, dass ich Bescheid weiß. Ganz schön elegant, oder?

foto: rphebo

Sonntag, 1. November 2009

Endlich Frieden für die Banditen


„Bewohner von Mittelklasse-Vierteln werden die Favela-Agglomeration Complexo do Alemão, im Norden von Rios beneiden”, behauptete Dilma, Lulas Präsidentschaftskandidatin bei einem Besuch dort zu Anfang dieses Monats. Eine erstaunlich optimistische Prognose, wenn man bedenkt, dass der Complexo do Alemão zu den gefährlichsten Gegenden von Rio gehört und fest in den Händen ihres “Besitzers” FB liegt. Drogengroßhändler Fabiano Anastácio da Silva, besser bekannt als Fabiano der Geier oder eben kurz FB, herrscht wie ein König, er lässt auf dem Hügel „Alemão“, der 13 Favelas mit insgesamt 65.000 Einwohnern zusammenfasst, nach Belieben Menschen festnehmen, frei lassen oder töten.

Im September vergangenen Jahres etwa wurden diverse verkohlte Leichen von minderen Drogenhändlern aufgefunden. Damals hatten mehr als 800 Polizisten in einem Großeinsatz den Complexo gestürmt. Außer den Leichen fanden sie 20 Kilo Kokain, 30 Kilo Marihuana, 3 Maschinengewehre, 32 zwölf-kalibrige Schrotflinten und reichlich Munition. Es wäre naiv, anzunehmen, dies sei das gesamte Waffenarsenal gewesen, über das Fabiano der Geier verfügt.

Dennoch kündigte Rios Sicherheitschef José Mariano Beltrame damals statt weiterer Aktionen an, er werde seine Männer vom Complexo do Alemão abziehen. Weil ihre Gegenwart die Aktionen des PAC stören könnte. Seine euphemistisch verbrämte Aussage bedeutet im Klartext: Favela-Chef FB könnte sich durch die Anwesenheit der Polizisten gestört fühlen. Und wenn der totalitäre Herrscher dieses Reichs innerhalb der Stadt Rio sich gestört fühlt, dann wird auch aus dem PAC nichts. Und der PAC wiederum, soll ja laut Dilma dafür sorgen, dass die Mittelklasse-Bevölkerung demnächst lieber im Complexo do Alemão wohnen will, als in ihren Mittelklasse-Vierteln. Dafür sollen umgerechnet rund 260 Millionen Euro in den Complexo fließen – mehr als dreimal so viel als im Jahr 2008 in ganz Brasilien für neu angelegte städtische Kanalisationssysteme ausgegeben wurde.

Gebaut werden die größte Erste-Hilfe-Station des Bundesstaates Rio de Janeiro, Wohneinheiten für Bedürftige und sechs Drahtseilstationen. Die Drahtseilbahn soll die Bewohner des Complexo mit dem Stadtzentrum verbinden und so ihre Beweglichkeit erhöhen. Bis Ende 2010 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein. Ein großes Geschenk des Staates an seinen Gegenspieler, und das sollen die Menschen des Alemão natürlich mit Kandidatin Dilma verbinden. Damit sie gleich wissen, wem sie dankbar sein und wen sie also nächstes Jahr wählen sollen. Dilma zeigte sich bei ihrem – höchstwahrscheinlich mit Parallelherrscher FB abgesprochenen – Besuch beeindruckt von Qualität und Ausmaßen der Baumaßnahmen und äußerte die Ansicht, die Gewalt, welche die Gegend bislang prägt, werde sicher abnehmen. Weil der Staat ja nun seine Pflichten in der Slum-Agglomeration do Alemão nicht mehr ignorierte.

Schon zwei Wochen später bekamen Dilmas schöne Worte einen hässlich zynischen Unterton, als Vertreter der Drogenmafia Comando Vermelho einen Polizeihubschrauber abschossen, der einen internen Konflikt zweier Fraktionen überflog. Beltrame verglich die Aktion dramatisch mit dem Angriff der AL Qaeda auf die USA. So überrascht waren nicht alle von diesem Gewaltausbruch: Die Ex-Polizeichefin und jetzige Abgeordnete Marina Magessi hatte bereits kurz nach der Rede der Kandidatin Dilma gewarnt: „Seit die Polizei wegen der PAC-Baumaßnahmen den Complexo do Alemão meidet, fliehen die ganzen Banditen dorthin.“.

Letzten Sonntag feierte der Complexo do Alemão mal wieder eine Funk-Party – ein Freudenfest anlässlich des abgeschossenen Polizei-Hubschraubers. Dabei sang DJ Will den beliebten Refrain: „Hier kommt die Militärpolizei nicht rein, hier gibt es nur Taliban, Terroristen der Al Qaeda!“.

Also hat Lula sein Ziel erreicht. Im Dezember des vergangenen Jahres hatte er angekündigt, er werde den Complexo do Alemão in ein „Territorium des Friedens“ verwandeln. Auch Dilma hat Recht: Der Complexo ist tatsächlich friedlicher geworden. Für die Banditen.

Foto (Banditen fackeln Busse ab): Ricardo Moraes/Reuters

Dienstag, 18. August 2009

Globo-TV und der Bischof


Wer hätte das nicht schon länger geahnt? Dass die ach so edlen Pastoren der vielen evangelischen Freikirchen und Sekten hier in Brasilien nicht immer rein spirituell motiviert sind? Hier auf dem Dorf jedenfalls ist nicht zu übersehen, dass neben dem Groß-Unternehmer nur der Pastor ein neues Auto fährt und ständig schicke Anzüge trägt. Beachtlich ist auch, dass es in unserem kleinen Dorf gleich drei Kirchen solcher Gemeinden gibt. Muss alles finanziert werden. Also gehört es zumindest zum Pastorendasein dazu, ordentlich Spenden einzutreiben.

Kürzlich zeigte TV Globo in den Abendnachrichten Filmausschnitte, die scharf darauf schließen lassen, dass für den Bischof der Igreja Universal, Edir Macedo, das Spendensammeln längst zur Hauptbeschäftigung geworden ist: Während eines fröhlichen Bolz-Zusammentreffens mit anderen Unter-Pastoren seiner Kirche erzählt er seinen Jungs, wie sie die Gläubigen am besten um ihr Geld erleichtern. Und wird dabei ziemlich deutlich. Die Schäfchen sollten das eindeutige Gefühl bekommen: wenn sie spenden, kommen sie in den Himmel, wenn nicht, gehe es abwärts in die Hölle. Und dass die Pastoren dabei nur nicht zu zimperlich vorgingen, mahnt ihr Kirchoberhaupt: „Bescheidene Pastoren machen keine Schnitte“. Poltern und donnern muss der geistliche Geldeintreiber „ständig im Kampf gegen den Dämon“, ein Held sein, ein Retter – und vor allem ein Kämpfer für die Kirchenkasse. Selbst kann Macedo das übrigens bestens.

Mit dem reichlich fließenden Ablass-Geld lassen es sich die Kirchenoberen gut gehen. Während es bei unserem Dorfpastor nur für ein neues Auto reicht, so hat Macedo sich neben anderen Immobilien gleich zwei Wohnungen in Miami leisten können. Gemeinsam mit anderen Seelenhütern feiert er seine Erfolge bei – ebenfalls gefilmten – Ausflügen in die Inselwelt von Angra dos Reis oder bei fröhlichen Tänzen mit den Kollegen. Besonders spirituell wirkt das alles nicht. Besonders neu ist es aber auch nicht.

Problematisch wurde die materielle Ausrichtung des Bischofs vor allem dadurch, dass er 2007 den TV-Sender Record kaufte – und seitdem eifrig daran bastelt, dem bislang nie herausgeforderten brasilianischen Einschalt-Sieger TV Globo knallharte Konkurrenz zu machen. Ungeniert kopiert Macedo die erfolgreichsten Globo-Formate – und macht seine Kopie nicht selten besser als das Original: Kein Problem mit den Spenden-Milliarden. So gut läuft die kirchliche Vergnügungsmaschinerie, dass sie TV Globo in letzter Zeit bedrohlich nahe kommt – und den Spitzenreiter in der Gunst des Publikums gelegentlich gar überholt. Genau das dürfte der Grund sein, warum TV Globo den Laien-Filme über Edir Macedo ganze neun Minuten bester Sendezeit gewidmet hat.

Schön ist das sicher nicht für die Gläubigen, zu sehen, wie ihre geistigen Vorbilder grölend lachen über ihre eigenen plumpen Sammelmethoden. Wie sie sich auf die Schenkel klopfen und so gar keinen Respekt für ihre Schäfchen zeigen. Seit dem 10. August sind der Bischof und neun seiner Mitstreiter außerdem angeklagt wegen Bandenbildung und Geldwäsche – weil sie das Spendengeld ins Ausland verschafft und wieder zurück geschmuggelt haben sollen, um es so für ihre Zwecke umwidmen zu können.

Natürlich konnte der Oberpastor solche Angriffe nicht ewig schweigend hinnehmen. Am Wochenende ließ er nun - in einer entsetzlich langatmigen Antwort-Sendung im eigenen Sender - verbreiten, dass TV Globo selbst allerlei Dreck am Stecken habe, angefangen von behaupteten illegalen Verflechtungen mit am Fall beteiligten Richtern und Staatsanwälten bis hin zum angeblich von Beginn an illegalen Erwerb des ganzen Senders. Höhepunkt der Sendung war schließlich ein Interview mit Macedo, zu dem dieser – ganz der einfache Gottesmann – im selbst gesteuerten Privatwagen anrollte, und frech behauptete, die Spenden-Millionen würden ausschließlich zum Bau von Kirchen und für gute Werke verwendet. Seine Gegner bei TV Globo hätten Angst vor ihm und seinem Erfolg, sagte der Bischof. Früher hätten sie Angst gehabt, er könne sich zum Präsidenten von Brasilien wählen lassen, jetzt fürchteten sie, er könne höhere Einschaltquoten erreichen.

Zu den in den Nachrichten gezeigten Filmen und seinen eigenen hässlichen Worten darin, sagte der Bischof nichts. Statt dessen sprach er von religiösen Vorurteilen und rief dazu auf, „die Kirche müsse in diesen Zeiten harter Angriffe besonders stark wachsen.“

Ich fürchte, die Schäfchen werden ihm auch das abnehmen. Was ist anderes von Menschen zu erwarten, die glauben, sie kommen in den Himmel, wenn sie nur genug Spenden abdrücken?

Das Foto zeigt eine der Immobilien des Bischofs.

Dienstag, 11. August 2009

Der Tod auf dem Müll und das verkaufte Sofa

Es gibt hier in Brasilien einen Witz über einen betrogenen Ehemann. Was macht der Betrogene, als er erfährt, seine Frau hat auf dem Wohnzimmersofa mit einem anderen geschlafen? Er verkauft das Sofa.


In Maceió, der Hauptstadt des Bundesstaates Alagoas*, ist am 30. Juli ein Kind zu Tode gekommen. Der zwölfjährige Carlos André da Silva Santos war auf dem städtischen Müllberg eingeschlafen, und wurde am nächsten Morgen von einem Traktor überrollt, dessen Fahrer das Kind unter einem Haufen Pappe nicht gesehen hatte. Der Traktor zerquetschte den Kopf von Carlos, das Leben des Jungen war nicht mehr zu retten.

Natürlich erhob sich im Volk Empörung angesichts dieses grausamen Todes. Was hatte der Junge auf dem Müllberg zu suchen, fragten manche. Als sei es nicht hinlänglich bekannt, dass ganze Familien auf und neben Müllbergen leben, weil sie aus diesen ihren Lebensunterhalt heraus sammeln. Warum ist er eingeschlafen, fragten andere. Als sei es unvorstellbar, dass ein zwölfjähriger Müllsammler abends erschöpft zusammensackt, ohne sich groß darum zu kümmern, wo er sich gerade befindet. Wer ist schuld an diesem Tod, fragten viele. Vor allem, als bekannt wurde, dass genau diese Müllhalde eigentlich schon seit zwei Jahren hätte desaktiviert werden sollen.

In so einer Lage erwartet das Volk eine Aussage vom Bürgermeister. Und was sagte Cícero Almeida? Er sagte: „Der Müllplatz wird sofort eingezäunt und außerdem werden wir ihn grell erleuchten.“ Da er keine näheren Erklärungen zu diesen geplanten Maßnahmen lieferte, bleibt nur, zu spekulieren: Kinder, die trotz des Zauns künftig auf den Müllplatz klettern, sollen dort wenigstens nicht einschlafen können, weil das helle Licht sie vom Schlafen abhält? Kinder, die auf den Müllplatz wollen, sollen das Ziel ihrer Wünsche nur noch im hellen Licht anstarren können, wie eine unerreichbare Schaufensterauslage? Kinder, die statt zur Schule auf den Müllplatz gehen, sollen dort auf eine ganz andere Weise erleuchtet werden?

Sollte Cícero Almeida je von seiner Frau auf dem Sofa betrogen werden, ist wohl anzunehmen, dass er umgehend das Sofa verkaufen würde.


* Alagoas ist der brasilianische Bundesstaat mit dem zweitniedrigsten Index für menschliche Entwicklung (IDH).

Fotos: Müllhalde - cwollowski, Carlos André - www.tudonahora.com.br

Montag, 27. Juli 2009

Romário, para onde?


Morgen, so berichtet die Zeitschrift Veja, wird eine Penthouse-Wohnung im Viertel Barra da Tijuca zwangsversteigert. Bisheriger Besitzer: Romário de Souza Faria, 43, Ex-Fußballer und einer der größten Stürmer der Fußballgeschichte. Während Ronaldo, das Phänomen, sich schwergewichtig und zielsicher in einen zweiten Aufstieg kickt, geht es mit seinem Ex-Kollegen steil bergab.

Dabei hatte der Mann sich erst letztes Jahr in die Rente verabschiedet – nachdem er mit den 1000 Toren des Idols Pelé gleichgezogen hatte (manche behaupten, er habe beim Zählen geschummelt und auch Trainingstore mitgerechnet). Damals hatten allein die beiden Vereine Flamengo und Vasco Schulden in Höhe von umgerechnet fast 10 Millionen Euro bei ihm. Der als großzügig bekannte Romário hatte den Vereinen in Finanzschwierigkeiten mit Privatkrediten ausgeholfen, damit sie ihre Spieler bezahlen konnten. Zu seiner aktiven Zeit war Romário der bestbezahlte Spieler Brasiliens: er bekam knapp 170.000 Euro monatlich bei eben den Vereinen, denen er später half.

Die einen nennen ihn „großzügig“. Dafür spricht die Geschichte, als Romário einem Kumpel seinen Ferrari geliehen hatte. Der Kumpel fuhr den Wagen unbeabsichtigt ziemlich Schrott. „Po peixe*“, soll Romário nur gesagt haben, „jetzt ist mein Wagen hin!“ Der Wahrheitsgehalt der Story ist nicht belegt – aber sie ist nicht unwahrscheinlich. Großzügig ging der Großverdiener auch mit seinen finanziellen Verpflichtungen um. Manche vergaß er einfach. So soll er die Nebenkosten seines Penthouses seit 2003 nicht bezahlt haben – insgesamt eine halbe Million Euro. Dazu kommen Steuerschulden in Höhe von 370.000 Euro. Wegen verschleppter Unterhaltszahlungen an seine beiden ältesten Kinder in Höhe von mehr als 30.000 Euro war er kürzlich sogar 22 Stunden im Knast.

Andere nennen ihn „verschwendungssüchtig“. Der Profi-Fußballer lebte nämlich gerne wie ein kleiner König. Er hielt sich fünf Luxuskarossen gleichzeitig - neben dem Ferrari einen Porsche, einen BMW, einen Volvo und einen Hummer. Mit seiner dritten Ehefrau lebte er in seinem mehr als 770 Quadratmeter großen Penthouse mit eigener Sauna, Dampfbad und Heimkino. Und umgab sich mit einem Hofstaat, der ihn nicht immer gut beriet.

Die Folgen: Nicht genehmigte und schlecht ausgeführte Umbauten an seinem Heim haben Wasserschäden bei den Mietern unter ihm verursacht. Einer zog deswegen aus und verursachte so jeden Monat knapp 9000 Euro Mietausfall für den Besitzer der Wohnung. Der klagt auf mehr als 800.000 Schadensersatz. Eine ebenfalls nicht genehmigte Veränderung an der Fassade brachte zusätzlich einen Prozess von der Hausverwaltung ein. Das Mindestgebot für Romários Heim sind 3,3 Millionen Euro. Ungefähr ausreichend um die summierten Zahlungsverpflichtungen von 28 Prozessen zu begleichen. Dann bleiben immer noch mehr als 40 Prozesse übrig.

„Manchmal fehlte ihm die Orientierung“, sagt sein Berater aus den Jahren 1996 bis 2002 heute. Der musste damals gehen, weil er von den Umbauten abgeraten hatte.

Und wohin geht jetzt Romário?

* Peixe - also auf Deutsch "Fisch" nennt Romário gern seine Freunde
Foto: brasileirao.com

Montag, 23. März 2009

Haben wir uns wirklich daran gewöhnt?


Gestern abends saß ich mit Freunden im alten Hafenviertel von Recife unter Bäumen. Ein Schlagzeuger, ein Kontrabassist und ein Saxophonist spielten Jazzklassiker von Over the rainbow bis Summertime. Irgendwann kam eine uneitel wirkende junge Frau dazu und machte mit ihrer Stimme Töne zum Gänsehautbekommen, wie früher Ella Fitzgerald oder hierzulande Elis Regina. Das war so schön, dass den Zuhörern an den Bartischen manchmal momenteweise die Konversation erstummte. So etwas kommt nicht oft vor bei den gesprächsfreudigen Recifensern. Katharina, so hieß die Frau, mag ein bisschen mit schuld daran sein, dass es bis auf weiteres jeden Sonntag Jazz in Recife Antigo geben wird.

Bis auf weiteres heißt: Bis das Publikum der neuen Attraktion müde ist und die Bar durch die Musik keinen besseren Umsatz macht. Oder, bis die sensationelle Sängerin wieder abgereist ist. Katharina ist nämlich Engländerin, seit eineinhalb Jahren hier und hat Recife allmählich satt. Das erklärt ihr brasilianischer Freund und sieht dabei nicht sehr glücklcih aus. Sie hingegen sieht nicht im mindestens aus, als habe sie irgendetwas satt, in diesem Moment. Was gefällt ihr denn nicht? Ihr brasilianischer Freund druckst ein bisschen. Dann sagt er es doch. „Die Gewalt“.

Wer würde an einem solchen lauen Abend mit so wunderbarer Musik an Gewalt denken? Ich hatte nicht daran gedacht. Meine Freundin auch nicht. Vielleicht sind die Engländer da empfindlicher, überlegt sie, vielleicht haben wir uns einfach mehr daran gewöhnt, dass wir hier mit Gewalt leben müssen.

Damit leben müssen wir wirklich, keine Frage. Letztens zum Beispiel, wurde hier im Nachbarviertel einer umgebracht. Ein recht frisch Zugezogener, der eine gut gehende Kneipe führte. Niemand weiß, ob er einem alten oder einem neuen Streit zum Opfer gefallen ist. Aber eine schwerwiegende Angelegenheit muss es gewesen sein, denn die Täter haben ihn nach dem eigentlichen Mord noch gevierteilt. Die Kneipe des Opfers ist vielleicht drei Kilometer Luftlinie von meinem Haus entfernt. Für mich bleibt die Tat trotz der geographischen Nähe so unvorstellbar, dass die Geschichte etwas Irreales hat. Es geschehen gelegentlich Morde hier. Meist sind es Abrechnungen unter Drogenabhängigen und Drogenhändlern, gelegentlich Eifersuchtsdramen. Normalerweise erzählt mir eine Nachbarin so eine Geschichte, und ich versuche, mir keine Einzelheiten dabei vorzustellen.

Seit dem ersten Januar 2009 sind in Recife 957 Menschen ermordet worden, Heute waren es bislang 22, diesen Monat 216 – so vermeldet der PE Body Count, eine Privatinitiative, die auf Gewalttaten hinweist und dafür im Stadtteil Derby in Recife sogar einen öffentlichen Mord-Zähler aufgestellt hat. Der Body Count läuft seit mehr als einem Jahr – verbessert hat sich die Lage seitdem nicht. Statistiken zeigen: Vor allem junge männliche Täter erschießen junge männliche Opfer. Vor allem in der Peripherie, vor allem nachts, vor allem nach Alkoholgenuss. Wer nicht zur Zielgruppe gehört, mag sich so halbwegs sicher fühlen.

In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag ist im Vorort Jaboatao der Pfarrer Ramiro Ludeño erschossen worden. Der Padre war 64 Jahre alt und sein Fehler war es womöglich, einen Hilux zu fahren – ein Geländewagen in einer Preisklasse, die in Jaboatao Aufsehen erregt. In dieser Nacht die Aufmerksamkeit eines mageren jungen Drogensüchtigen, der sich erhoffte, vom Fahrer eines solchen Wagens sei ordentlich Asche zu holen. Vielleicht war der Pfarrer auch nicht ängstlich genug. Er händigte dem Dieb nämlich kein Geld aus, sondern griff statt dessen zur Gangschaltung. Darauf schoss der junge Mann und floh – ohne etwas erbeutet zu haben.

Der spanische Pfarrer Ramiro hatte 34 Jahre in Jaboatao gelebt. In dieser Zeit hat er sein Leben jungen Leuten ohne Perspektive gewidmet, denen er Jobs, Ausbildungsplätze und eine Zukunft besorgte. Menschen wie sein Mörder. Es haben viele geweint auf der Beerdigung von Padre Ramiro. Weil gerade die Bewohner der Peripherie sich nicht daran gewöhnen wollen, dass die Gewalt überall sein kann.

Am Sonntagabend spricht keiner vom Tod des Padre. Wir lauschen der Stimme der jungen Engländerin und spüren die nächtliche Brise auf der Haut. Heißt das wirklich, wir haben uns gewöhnt?

Foto: Casa da Moeda

Dienstag, 10. März 2009

Hundert Jahre Hybris


Hundert Jahre sind viel Zeit. Damals hat er es schon schwer gehabt, andere mit seinem Beispiel anzustecken. Und heute? Hier in Brasilien erscheinen zwar überall lange Lob-Artikel auf den rebellischen einstigen Erzbischof von Recife und Olinda, Dom Helder Camara, aber anscheinend sind mehr Journalisten als heutige Kirchenvertreter von dem Mann beeindruckt, der sein Dienstauto verkaufte und Bus fuhr, um dem Volk näher zu sein, der gegen Pomp und für Bescheidenheit plädierte und eine Kirche für die einfachen Leute wollte, statt einer für die Damen der besseren Gesellschaft. Von Dom Helder wäre so ein Diskurs nicht zu erwarten gewesen, wie ihn sein Nachfolger Dom José Cardoso Sobrinho, aktueller Erzbischof von Recife und Olinda letzte Woche von sich gegeben hat.

Der Hintergrund ist grausam: Bei einem neunjährigen Mädchen, das erst vor wenigen Monaten seine erste Menstruation erlebt hatte, wurde eine Schwangerschaft festgestellt. Von Zwillingen. Das Mädchen erzählte daraufhin, wie sie seit ihrem sechsten Lebensahr von ihrem Stiefvater vergewaltigt wurde. Der Stiefvater ist der Vater der Zwillinge. Selbst nach der ersten Menstruation ist eine Neunjährige ein Kind. Weder psychisch, noch physisch auf eine Schwangerschaft vorbereitet. Zur besseren Vorstellung: Das Mädchen ist ein Meter 33 groß und wiegt 36 Kilo. Selbst das erzkatholisch inspirierte brasilianische Recht erlaubt Abtreibung in einigen Sonderfällen, zum Beispiel,wenn Gefahr für Leib und Leben der Mutter besteht.

Dem Erzbischof ist das egal. Er suchte schon vor Wochen Kontakt zur Mutter des Mädchens, um ihr ins Gewissen zu reden, dass die Zwillinge ausgetragen werden müssten, um "Leben zu retten". Die Mutter weigerte sich, mit dem alten Kirchenmann zu sprechen. In aller Stille wurde die Schwangerschaft des vergewaltigten Kindes beendet, bevor es noch mehr Schaden nehmen konnte. Und der Erzbischof? Der sagte, mit vom Alter etwas zittriger Stimme, aber fest in seiner Überzeugung: Er werde sowohl die Ärzte, als auch die Mutter des Mädchens exkommunizieren. Denn Abtreibung sei eine Todsünde.

Das war auch Präsident Lula zu heftig. „Es ist doch unmöglich, dass ein vom Stiefvater missbrauchtes Mädchen das Kind behält, wenn es in Lebensgefahr schwebt. Ich denke, aus diesem Grund hat die Medizin korrekter gehandelt als die Kirche. Die Ärzte haben das getan, was getan werden musste: das Leben eines neunjährigen Mädchens retten“, sagte der Präsident letzte Woche zu TV-Journalisten. Das Mädchen werde vermutlich ohnehin Jahrzehnte in psychologischer Behandlung brauchen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können.

Der Nachfolger von Dom Helder sieht das anders. Natürlich sei auch die Vergewaltigung ein Verbrechen. Aber Abtreibung ist schlimmer. Genau so hat der Biachof das gesagt. Im Klartext heißt das: Der Mann, der ein sechsjähriges Kind vergewaltigt, darf in der Kirche bleiben. Die Mutter, die das Leben ihrer misshandelten Tochter schützen will, wird ausgestoßen.

Vielleicht sollten die noch ausstehenden Gedenkfeierlichkeiten zu Dom Helder umbenannt werden: Nicht hundert Jahre liberales Denken in der katholischen Kirche gibt es zu begehen, sondern hundert Jahre Hybris.

Foto: Dom Cardoso Sobrinho / NN

Montag, 16. Februar 2009

Der Fall Paula Oliveira


Wut macht blind. Wissen wir alle. Vergessen wir ebenso alle, wenn es wieder einmal passiert. Wie in der vergangenen Woche. Eine 26jährige Brasilianerin sei in Zürich von Neonazis angegriffen worden, berichteten die brasilianischen Medien. Brutal mit einem Stilett zerschnitten. Die Misshandlungen hätten einen Spontanabort ausgelöst, direkt auf der Bahnhofstoilette habe die Juristin die Zwillinge verloren. Eine schreckliche Geschichte. Kein Wunder, dass der Fall vielerorts Diskussionsthema Nummer eins war - auch in dem kleinen Fischerdorf im Ceará, in dem ich gerade recherchierte.

„Was ist da los in Europa“, fragten die Leute entsetzt und ungläubig. Was sollte ich sagen? Fremdenfeindliche Gräueltaten sind ja leider auch in Deutschland schon häufiger vor gekommen. Kurz: Ich war ebenfalls entsetzt. Noch mehr, als es hieß, die Schweizer Polizei zweifle an der Aussage der Paula Oliveira und hege den Verdacht, die junge Frau aus Recife habe sich die Verletzungen selbst beigebracht. Absurd, ein Opfer, das bei der Polizei Anzeige erstattet, als Selbsttäter zu verdächtigen. Absurd, Beweise für eine offensichtliche Attacke zu verlangen. Fanden die Fischer. Fand ich auch. Peinlich für die Schweizer. Peinlich für alle Europäer. Sogar der brasilianische Präsident hatte gesagt, er könne nicht schweigen angesichts eines solch brutalen Angriffs auf eine Brasilianerin. Notfalls würde die brasilianische Regierung den Fall vor der UNO verhandeln.

Als ich von meiner Recherchereise zurück kam, klang die Geschichte ein wenig anders. Da erklärte der Vater von Paula in den TV-Nachrichten, er wisse nicht, ob es Beweise für die Schwangerschaft seiner Tochter gebe. Die Untersuchung durch den Schweizer Gerichtsmediziner hatte nämlich inzwischen ergeben, Paula sei zum Zeitpunkt des Überfalls gar nicht schwanger gewesen. Und überhaupt sei nicht klar, ob es einen Überfall gegeben habe: sämtliche Verletzungen seien oberflächlich und befänden sich an Körperteilen, die Paula problemlos selbst hätte erreichen können. Selbst erreichen können, muss nicht heißen, dass Paula sich selbst verstümmelt hat. Kann es aber.

Angesichts dieses Vorwurfs kochten die Emotionen erst richtig hoch. Da ließ sich sogar die ansonsten sehr seriöse Folha de Sao Paulo dazu verleiten, den Gerichtsmediziner mit Worten zu zitieren, die dieser nicht von sich gegeben hat. Andere Blätter vermelden widersprüchliche Geschichten: Einmal sollen sich Polizisten noch im Krankenhaus bei Paula und der brasilianischen Konsulin entschuldigt haben. An anderer Stelle leugnet die Konsulin, bei einem solchen Gespräch je anwesend gewesen zu sein. Einmal sagt Paulas Vater angeblich aus, die Fotos von den Verletzungen seiner Tochter habe dessen Verlobter auf seine Anregung hin aufgenommen. An anderer Stelle heißt es, der Vater habe mit dem Verlobten kaum gesprochen und dieser sei seit dem Vorfall spurlos verschwunden. Einmal heißt es, eine Arbeitskollegin wisse sicher, dass Paula ihren ersten Frauenarztbesuch zur Kontrolle der Schwangerschaft für den Tag nach dem Überfall geplant habe – wie hätte sie also wissen können, dass es Zwillinge und Mädchen sein würden? Anderswo wiederum wird erklärt, es gäbe eine Ärztin, die die Schwangerschaft begleitet habe, und mit der sei Paulas Vater in Kontakt.

Sieben Tage sind seit dem Vorfall vergangen. Während vor vielen brasilianischen TV-Geräten und an brasilianischen Kneipentischen bereits das gesamte Schweizer Volk des feigen Vertuschens beschuldigt wurde, haben andererseits auf manchen Internetseiten Schweizer User böse über die schwerwiegenden Anschuldigungen geschimpft, die aufgrund der Aussage einer psychisch Gestörten leichtfertig gegen ihr Volk vorgebracht würden. Die Schweizer Polizei bleibt äußerst zurückhaltend in ihren Aussagen. Die brasilianische Presse hat ihren Ton so weit zurück geschraubt, dass manche Medien eine Selbstverletzung nicht mehr komplett ausschließen. Gesicherte Erkenntnisse? Scheint es kaum zu geben. Zweifel? Immer mehr. Kann es sein, dass abends um 19 Uhr 30 eine Bahnstation im Großraum Zürich bereits so verlassen war, dass niemand die massiven Angriffe beobachtet hat? Wir ist es möglich, dass Paula während ihr schmerzhafte Schnittwunden zugefügt wurden, so still hielt, dass ihre Aggressoren säuberlich Buchstaben in ihre Haut ritzen konnten? „Paula ist ein Opfer“, zitiert der brasilianische Internetserver IG ihren Vater: „entweder ein Opfer von schweren psychologischen Störungen oder ein Opfer der Angriffe, von denen sie seit dem Anfang berichtet und an denen zu zweifeln ich keinen Grund habe.“

Sollte Paula Oliveira die Neonazis erfunden und sich selbst geschnitten haben, können sich viele schämen. Für die Vorverurteilung der Schweizer. Für ihre mangelnde Kritikfähigkeit. Für ihre blinde Wut. Ich gehöre auch dazu. Genau so blind wäre es allerdings, würden die Schweizer in einem solchen Fall sich auf den Triumph beschränken: Haben wir doch gleich gewusst.

In den letzten fünf Jahren hat es mehr als 200 rassistisch begründete Angriffe in der Schweiz gegeben, so der Schweizer Soziologe Jean Ziegler. Und die Schweizer Volkspartei, deren Initialen SVP in die Haut von Paula geritzt sind, benutze Fremdenfeindlichkeit tatsächlich als politisches Mittel. Das heißt: Grundsätzlich wäre wohl ein neonazistischer Angriff auf eine Brasilianerin in der heutigen Schweiz nicht unmöglich. Das ist schlimm. Egal, ob der Vorfall um Paula Oliveira nur in ihrer Vorstellung Realität gewesen sein mag. Und es sollte Grund genug sein, nicht für blinde Wut, sondern für überlegte Handlungen.

Foto: Marco Trapp

Samstag, 24. Januar 2009

Effizienz gegen Boxer und für Terroristen


Erinnert sich noch jemand an den Fall der kubanischen Boxer? Die im vergangenen August bei den panamerikanischen Spielen in Rio verschwanden, einen Vertrag mit einem deutschen Promoter unterschrieben – und bevor sie nach Deutschland ausreisen konnten, von der brasilianischen Polizei an einem Strand aufgegriffen wurden, als sie gerade den Sonnenuntergang betrachteten? Aufgegriffen, verhaftet und in Rekordzeit nach Kuba abgeschoben? Bis heute ist unklar, ob die ungewohnte Effizienz bei dieser Aktion auf ein kleines Telefonat unter den Amigos Lula und Fidel zurück zu führen ist oder nicht. Justizminister Tarso Genro leugnete damals jegliche Einflussnahme der kubanischen Regierung auf den Fall.

Dieses Mal hat Lula den bewiesenen Bitten der italienischen Regierung nicht nachgegeben. Battisti wird nicht ausgeliefert, sondern darf hier bleiben. Als politischer Flüchtling. Zu Hause drohe ihm Gefahr für sein Leben, sagt Minister Tarso Genro über den Asylbewerber, der in Italien für zweifachen Mord und zweifacher Beteiligung an Morden zu lebenslänglicher Haft verurteilt ist. Er habe keine Gelegenheit zu seiner Verteidigung gehabt, sagt Tarso über den 54jährigen, und: Sei Battisti rechter Extremist, wäre seine Entscheidung nicht anders ausgefallen. Von wegen, schimpfen Kritiker. Tarso habe nach dem Gefühl entschieden. Nur weil der ehemals selbst militante Linke mit dem Italiener sympathisiere, habe er Battistis Asylantrag statt gegeben.

Dafür spricht die Tatsache, dass Tarso Genro im Fall Battisti auf das üblicherweise vorgeschriebene Urteil des Obersten Gerichtshofes verzichtete und lieber gleich selbst den Fall regelte – gegen die Analysen sowohl des Nationalen Flüchtlingskomitees als auch der Oberstaatsanwaltschaft. Das diplomatische Verhältnis zwischen Italien und Brasilien hat das empfindlich gestört. Auch andere europäische Stimmen reagierten kritisch: Der britische Economist schreibt sarkastisch, in Rio lasse es sich für europäische Verbrecher offensichtlich gemütlich leben. Schließlich hatte schon der britische Posträuber Ronald Briggs viele Jahre ungestört in Rio gelebt, statt in England seine Strafe abzusitzen.

Battisti erwartete seit 2007 in Haft in Rio das Urteil über seinen Asylantrag. Er leugnet jede Beteiligung an den Morden in den 1970er Jahren. Laut Tarso Genro stützt sich seine Verurteilung auf die Aussage eines einzigen Zeugen – ebenfalls ehemaliges Mitglied der linksextremen Organisation PUC, die der Roten Brigade nahe stand. Vielleicht ist Battisti tatsächlich zu Unrecht verurteilt. Vielleicht ist er sogar tatsächlich in italienischen Gefängnissen lebensgefährdet.

Aber was verleitet den brasilianischen Justizminister zu der Annahme, in Rio sei Battisti sicherer? Dafür fehlt es der hiesigen Polizei womöglich doch noch an Effizienz.

Fotos: www.tribunalatina.com und www.republicca.it

Freitag, 7. November 2008

Maria da Penha konnte Ananda nicht retten

Maria da Penha ist heute 62 Jahre alt und seit beinahe einem halben Jahrhundert querschnittsgelähmt. Eigentlich hatte ihr Ehemann sie umbringen wollen, aber der Schuss ging daneben. Das war 1983, und in einem zweiten Anlauf im gleichen Jahr versuchte der Universitätsprofessor, seine Gattin durch einen Stromschlag und Ertrinken zu töten. Maria überlebte auch diesen Mordversuch, zeigte ihren Mann an und wartete, was passieren würde. Acht Jahre später wurde er zu acht Jahren Haft verurteilt, weitere 11 Jahre später endlich eingesperrt. Zwei Jahre lang.

Als er schon zwei Jahre wieder in Freiheit lebte, wurde 2006 das Gesetz Nummer 11.340 verabschiedet. Es heißt „Maria da Penha“ und sieht strengere Strafen und Maßnahmen im Fall familiärer Gewalt vor. Präventivhaft für aggressive Ehemänner ist seitdem ebenso möglich wie der Hinauswurf des gewalttätigen Mannes aus dem ehelichen Heim und die Verhängung von Sicherheitsabstand. Bereits am ersten Tag, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, wurde ein Mann festgenommen, der seine Ex-Frau erwürgen wollte.

Brasilien liegt weit vorne in der Gewalt gegen Frauen. Und der Bundesstaat Pernambuco liegt ganz vorn innerhalb Brasiliens. Zwischen 1.1. und 30.9.2008 hat die Leiterin des Frauenforums Pernambuco 205 Mordfälle an Frauen gezählt: nahezu eine für jeden Tag. Vielleicht hat Maria da Penha deswegen hier in Recife im letzten Jahr einen Verdienstorden bekommen, weil sie vom Rollstuhl aus gegen Gewalt an Frauen kämpft. Besonders häufig vergreifen sich die hiesigen Männer an Frauen, von denen sie bereits getrennt sind. Nach dem Motto: Wenn ich sie nicht haben kann, soll sie auch kein anderer haben.

Anfang September haben hier im Bundesstaat der Gouverneur und die Frauenministerin Brasiliens einen nationalen Pakt zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet, in dessen Rahmen umgerechnet mehr als eine Million Euro für Anti-Gewalt-Projekte in den Bundesstaat fließen sollen. Ende September gingen mit dem gleichen Ziel 100 Frauen im ländlichen Goiana auf die Straße. Am 5. November lud die Frauenzeitschrift Claudia Maria da Penha zum Forum der brasilianischen Frau nach Recife, weil „es hier eine Tradition gibt, häusliche Gewalt zu bekämpfen.“ Am 6. November rollte die Namensgeberin des Gesetzes zu einer Feierlichkeit in der Anwaltskammer in Recife: anlässlich des zweiten Geburtstags des Gesetzes soll eine Briefmarke mit ihrem Porträt gedruckt werden.

So richtig euphorisch konnte die Stimmung nicht werden auf der Feier. Denn am Vortag, dem 5. November, während die Chefredakteurin von Claudia den Einsatz der Pernambucanerinnen lobte, wurde sechzig Kilometer entfernt Ananda do Ò beerdigt. Die 19Jährige wurde am 4. November von ihrem Ex-Mann durch einen Kopfschuss getötet. Obwohl sie bereits zwei Monate vorher auf dem örtlichen Polizeirevier um dringenden Schutz gebeten hatte. Obwohl sie danach noch mehrmals die Polizei aufsuchte, zuletzt an ihrem Todestag.

Laut Gesetz hat der Richter 48 Stunden Zeit, um über Anträge auf Schutz bei häuslicher Gewalt zu entscheiden. Am 11. September leitete der Polizeikommissar Anandas Gesuch weiter. Am 21. Oktober hat der Richter laut Angasben des Gerichts entschieden: der Ex dürfe sich Ananda oder ihrer Familie nicht auf weniger als 200 Meter nähern oder auf andere Weise Kontakt zu ihr aufnehmen. Mitgeteilt hat der Richter das weder Ananda noch dem Mann.

Am 2. November tauchte der Ex bei Ananda auf, ohne zu wissen, dass ihn das ins Gefängnis hätte bringen können, wenn alles richtig gelaufen wäre. So aber gerieten die beiden an der Haustür in einen handgreiflichen Streit, bis der Ex schließlich verschwand, Stunden später bewaffnet wieder kam und seine Ex in den Kopf schoss. Ananda hatte am nächsten Tag mit den vorgeschriebenen drei Zeugen auf der Polizeiwache ihre Bedrohung beweisen wollen. Sie starb auf der Stelle. Als ihre Nachbarn die Schüsse hörten und begriffen, was geschehen war, wollten sie den Täter lynchen. Als er sich einschloss, steckten sie ersatzweise sein Auto in Brand. Zu Anandas Beerdigung kamen 300 Menschen.

Wir haben unsere Pflicht getan, sagt der Polizeikommissar. Wir auch, sagt das Gericht. Klingt beinahe so, als rechneten die Bürokraten damit, dass alle so geduldig warten können, wie Maria da Penha selbst. Ananda hat nicht so viel Zeit gehabt - Maria da Penha hat sie nicht retten können.

Fotos: Domingos Tadeu (oben) und Folha de Pernambuco (unten)

Sonntag, 19. Oktober 2008

Exklusives Fressen


Es ging ihr um die Quote. Nicht nur ihr. Aber sie war die einzige, die es geschafft hat, den jugendlichen Entführer mitten in der Entführung exklusiv und live in ihre Sendung zu bekommen. Synchron zu dieser journalistischen Sonderleistung kritisierte der Moderator eines anderen Senders das „unverantwortliche Verhalten“ der Kollegin und gab zu bedenken, immerhin seien Entführer psychisch labile Personen. Blödsinn, muss sich Sonia selbstbewusst gedacht haben, als sie sich in ihrer Sendung forsch zur „Vermittlerin“ zwischen Entführer Lindemberg und seiner Familie aufschwang.

Der 22Jährige hatte die Wohnung seiner 15jährigen Ex gestürmt, die er zwar einen Monat zuvor verlassen hatte, nun aber gerne zurück haben wollte. Nach eigener Aussage wollte er sie zu einem Gespräch zwingen. Da die Schülerin gerade mit Freunden lernte, traf er drei weitere Jugendliche an, und machte aus dem Überraschungsbesuch eine Spontan-Geiselnahme. Zwei Revolver und eine ganze Tüte voller Munition hatte er dabei. Wieso, hat ihn Sonia nicht gefragt. Zum Zeitpunkt des Live-Interviews hatte er die anderen Jugendlichen bereits frei gelassen, und Spezialisten der Polizei verhandelten bereits seit mehreren Tagen mit ihm über eine Freilassung auch von Eloá.

Als Sonia Abrao den Geiselnehmer Lindemberg auf seinem Handy anruf, erbot der sich freudig, in ihrer Sendung live über seine Lage zu reden. Das brachte Sonia und dem eher unbedeutenden Sender TV! Fünf Minuten lang gleiche Quoten mit den „Großen“ Record und SBT.

“Da sag nur einer, ich habe die Verhandlungen gestört, das ist nicht wahr. Niemand hier handelt unverantwortlich, ich kann das machen, und würde es auch wieder tun. Falls etwas passiert, dann nicht wegen uns“, da habe sie ein reines Gewissen.

Nach dem Live-Interview lief alles anders. Plötzlich wollte der junge TV-Star die letzte Geisel nicht mehr herausgeben. Noch plötzlicher schlüpfte die bereits freigelassene Freundin Nayara spontan zurück in die Wohnung zu Eloá und dem Geiselnehmer. Ein Schuss fiel. Das Sondereinsatzkommando stürmte – mit Gummikugeln in den Waffen – die Wohnung. Weitere Schüsse fielen.

Das geschah am Freitag Nachmittag. Gestern nachts um 23 Uhr 30 wurde bei der Schülerin Eloá infolge der schweren Kopfverletzung der Hirntod festgestellt. Ihre Freundin Nayara erholt sich von einem Kopfschuss. Lindemberg ist unverletzt in Polizeigewahrsam,.

Manche geben die Schuld dem brasilianischen Polizeisystem. Manche nur dem Polizeichef, der das Stürmen der Wohnung beschlossen hat. Manche fragen, wieso eine 15Jährige überhaupt seit fast drei Jahren einen Freund haben kann.

Lindemberg soll vor Polizisten nur ständig wiederholt haben, er liebe Eloá, er wolle nur Eloá, sie sei alles in seinem Leben. Die Beamten sagten der Presse, der junge Mann sei offensichtlich vollkommen verstört und sich der Geschehnisse nicht bewusst. Sein Anwalt lehnt es ab, ihn weiter zu vertreten. Das Volk will ihn lynchen. Zur eigenen Sicherheit wurde er deswegen in ein anderes Gefängnis verlegt.

Eloás Eltern haben derweil beschlossen, die Organe ihrer toten Tochter zu spenden.

Statistiken zeigen: Die Sender, die ihre Programme für die Live-Berichterstattung über das Geiseldrama unterbrochen haben, hatten die besseren Quoten. War ja auch ein besonders exklusives Fressen.

Foto (ig.ultimosegundo):AE
Trauernde Freunde von Eloá

Samstag, 23. Februar 2008

Banale Gedanken zu banalern Morden

Recife liegt beim neuesten Ranking auf Platz eins oder neun, je nachdem wie man zählt. Seit 1981 besetzt die Stadt, in deren Großraum ich wohne, regelmäßig einen der obersten Plätze. Das ist allerdings eher ein Grund zum Weinen als zum Feiern, denn es geht hier um die vom Gesundheitsministerium herausgegebene Statistik zu den brasilianischen Städten mit den meisten Mordfällen. Es weint trotzdem niemand: Mord ist hier etwas ziemlich Banales.

In beinahe acht Jahren Brasilien habe ich meine eigene Erlebnissammlung zur allgegenwärtigen Gewalt: Zuerst erlebte ich, wie bei einem Fest auf dem Dorfplatz Schüsse fielen. Danach konnte ich die halbe Nacht nicht schlafen. Monate später sah ich am selben Dorfplatz in einer Kneipe dabei zu, wie ein paar Meter weiter ein Volltrunkener einen anderen mit einem Revolver bedrohte - wobei seine Hand dermaßen unsicher war, dass das Ding locker ungewollt losgehen und auch mich hätte treffen können. Ich werde nie vergessen, wie der Barbesitzer sich unbewaffnet zwischen die Streithähne stellte und den Revolverheld ruhig aufforderte, nach Hause zu gehen. Machte der tatsächlich. Ich ging wenig später und habe, so weit ich mich erinnern kann, gut geschlafen.

Jahre später hörte ich nachts beim Feiern mit Freunden ein schußähnliches Geräusch ganz in der Nähe und wir witzelten darüber: Da hat bestimmt jemand einen abgeknallt. Am nächsten Morgen erfuhr ich: dem war tatsächlich so. Der Mörder war ein junger Typ, den ich vom Sehen kannte und der mich immer freundlich gegrüßt hatte. Angeblich hat er den anderen erschossen, weil der ihm keine Zigarette schenken wollte. Eine Zeitlang habe ich danach allerlei flüchtige Bekannte beim Grüßen etwas mißtrauisch angesehen: Jeder konnte ja der nächste Mörder sein.

Irgendwann gab sich das Checken wieder. Nicht, weil weniger passierte, eher im Gegenteil: Unbekannte haben den Freund einer Bekannten in einer Kneipe erschossen– vermutlich, weil er irgendwelche Crack-Schulden hatte, ein ehemaliger Nachbar ist an einem Heiligabend abgestochen worden, weil er einen Streit wegen eines rauchenden Feuers angezettelt hatte, ein gerade Volljähriger aus der Nachbarschaft hat einen anderen erschossen, weil beide um den Verkaufserlös eines Schweins stritten, das beiden gehört hatte – und so weiter.

Mich haben dabei mehrere Dinge schockiert: Wie jung Mörder und Opfer meist sind. Wie leicht die Täter offenbar eine Schußwaffe gelangen. Wie banal die Gründe für so einen Mord im Affekt sein können. Und: wie mir selbst solche Nachrichten immer banaler vorkommen, je mehr sie sich häufen. Warum so viel gemordet wird? Ich bin keine Soziologin. Aber Júlio Jacobo Waiselfisz, der Herausgeber einer Studie über die Gewalt im Land, ist einer. Und der sagt: Vierzig Prozent der in Pernambuco Befragten hätten angegeben zu wissen, wo sie sich einen Revolver beschaffen könnten. Und Probleme mit der Waffe zu regeln sei typisch pernambucanisch. Klingt banal, oder?

Eine ander Geschichte ist noch banaler. Beim Untersuchen der Mordberichte ist irgendwem aufgefallen, dass die Bluttaten sich auf bestimmte Faktoren konzentrieren: In immer denselben Vierteln sterben vor allem junge Männer vor allem zwischen 23 und 5 Uhr morgens in oder in der Nähe von Etablissements, die Alkohol ausschenken. Im November 2005 erließ die Regierung Pernambucos das Gesetz „Lei seca“ – eine Art selektive Prohibition: In den ermittelten gewaltreichen Vierteln durfte niemand zwischen 23 und 5 Uhr öffentlich alkoholische Getränke ausschenken. Die Folge: Im Vergleich zum Vorjahr gingen die Gewaltopfer in diesen Gegenden um 43 Prozent zurück.

Ein wunderbarer Erfolg. Eigentlich. Nur manche Alkoholausschenker waren hinterher nicht so glücklich über ihre Verdiensteinbußen. Manche Linke waren auch nicht glücklich und sprachen von „faschistoider Ausgangssperre“. Der nächste Bürgermeister- von der Arbeiterpartei PT - schaffte deswegen das umstrittene Gesetz mit der Begründung wieder ab, es seien davon ungerechterweise nur arme Viertel und damit die arme Bevölkerung betroffen. Das war Ende 2006. Im Januar 2007 sollen die Mordraten in mindestens einem der betroffenen Viertel sofort um 100 Prozent in die Höhe geschnellt sein.

Zwei junge Journalisten unterhalten seit über einem Jahr die Website www.pebodycount.com.br, auf der sie aktuell die Morde im Bundesstaat mitzählen, über Mord-Umstände berichten, Angehörige zu Wort kommen lassen und Handlungsbeispiele gegen die explodierende Gewalt zitieren - etwa aus Kolumbien. Dort hat es die Hauptstadt Bogotá in den letzten Jahren geschafft, von einer der gewalttätigsten Metropolen Südamerikas zur einer der friedlichsten zu werden. Unter anderem durch ein hartes „Lei-Seca“-Gesetz. Was mir dazu einfällt? Schnaps macht Leichen. Ganz banal.

Samstag, 26. Januar 2008

Folgenreiche Fotos im Orkut

Die Brasilianer haben ein besonderes Verhältnis zum Orkut. Von Anfang an. Fünf Monate, nachdem das Freundschaftsnetz gegründet wurde, hatten sie schon die größte Gemeinschaft beisammen – und damit die Gründer, die Amerikaner, überrundet. „Wir mobilisieren uns schneller!“, „Wir schließen schneller Freundschaften!“, „Wir sind stärker als wir denken!“ jubelten damals viele. Ein Jahr später reagierte Orkut-Betreiber Google mit einer portugiesischen Version für die inzwischen überwältigende Mehrheit der brasilianischen Orkut-Nutzer. Heute stellen die Brasilianer mehr als 70 Prozent der Acht-Millionen-Gesamt-Gemeinschaft. In dieser Entwicklung sehen manche euphorisch den Beweis für eine digitale „Alfabetisierung“ des brasilianischen Volkes, andere kommentieren bösartig: „Vielleicht sind wir auch nur weniger selektiv in unseren Freundschaften als andere“.

Dumme Menschen machen besonders gerne Lärm“ - behauptet Internaut Ricardo Bánffy. Lärm im Orkut könnte auch heißen: Exhibitionismus. Nirgends ist der öffentliche Raum so leicht zu erobern, wie in der virtuellen Welt. Der Exhibitionistenboom reicht von klischeemässig knapp bekleideten Strandschönheiten bis zu Mackern mit Knarren in der Hand (die Fotos sind vermutlich erst dann illegal, wenn die Knarren echt sind). Demokratisch ist der Orkut allemal. Während einerseits ebenfalls von Anfang an rassistische Gemeinschaften innerhalb des Orkut auftauchten – und ebensolange bekämpft werden - , wird aus der großen Gemeinschaft niemand wegen seiner Farbe, Religion und nicht einmal wegen echter Charakterfehler ausgeschlossen. Jeder, der sich einladen läßt, kann dabei sein. Ein Effekt davon ist: In der virtuellen Welt können Menschen miteinander Kontakt haben, die sich sonst womöglich nie begegnen würden. Das kann spannend sein und ein großer Fortschritt.

Internaut Vladimir hingegen klagt über sich und die anderen Orkut-Benutzer: „Mit raren Ausnahmen sind wir doch nur mit unserem eigenen Bauchnabel beschäftigt und nicht mit dem der anderen.“ Da hat er womöglich Recht. Qualitative Untersuchungen darüber, was die Masse der Orkutianer inhaltlich so bewegt, gibt es anscheinend keine. Das muss aber kein Nachteil sein. Manchmal ist es wunderbar, dass wir so mit unserem Bauchnabel beschäftigt sind und noch wunderbarer, dass es die raren Ausnahmen tatsächlich gibt.

Letzte Woche geschah nämlich Folgendes. Eine mit ihrem eigenen Bauchnabel beschäftigte brasilianische Dame fühlte sich befleißigt, von ihrem Strandurlaub mit ihrem Liebsten reichlich Fotos in den Orkut zu stellen. Inklusive einer Serie, die ihren Kerl in einer Badewanne voll Schaum und mit Rosa Brille zeigte. Waren offensichtlich ausgelassene Urlaubstage.

Bis jemand die Fotos sah, der nicht mit dem eigenen Bauchnabel beschäftigt war. Und in dem fröhlichen Schaumbader den „Barao do Pó“ erkannte, einen der größten Kokainhändler von Rio de Janeiro. Saulo da Rocinha, wie der 32Jährige auch genannt wird, war im Dezember 2005 aus dem Gefängnis ausgebrochen und seitdem untergetaucht. Er soll pro Monat eine Tonne Marihuana und 50 Kilo Koks in die Favelas der Stadt verschoben haben und sogar über ein eigenes Koka-Labor verfügen. Im Januar, dem brasilianischen Ferienmonat, machte auch der Koks-Baron Urlaub und badetet am Strand von Maragogí. Saulos Rückflug aus dem Urlaub in Alagoas am 21. Januar ging dann auf Staatskosten. Und in Handschellen. Dank der brasilianischen Gemeinde im Orkut. Und dank der Bauchnabelschau seiner Frau.
 
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