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Montag, 15. Februar 2010

Wer zu spät kommt, trifft die Dämonen


Die Evangelikalen brüllen ihre Predigten noch lauter als sonst. Sogar die Candomblé-Priester rufen ihre Söhne und Töchter zusammen, zu einer pre-karnevalesken Reinigungs-Zeremonie. Als Schutz vor den Dämonen, die in diesen hemmungslos tollen Tagen so ungehemmt durch die Straßen jagen.

Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, am Eröffnungsabend am Freitag in der frischen Brise am Marco Zero in Recifes Altstadt zu stehen und das Konzert von Zeca Baleiro zu hören. Bloß klemmte ich länger als erwartet in diversen Bussen, die allesamt nicht ihre normale Route, sondern um die „Folia“ genannten feiernden Massen herumfuhren. Die ersten zwei Kilometer des verbliebenen Fußwegs gingen schnell – dann näherte ich mich der Folia.

Die drängte sich zutraulich zusammen wie eine betrunkene Schafherde und stank wie ein Müllwagen. Zu durchdringen war sie nur, wenn man sich an einen möglichst aggressiven Tremzinho anhing: so heißen die Zweck-Polonaisen, in denen sich Freundesgruppen im Karneval durch die Massen quälen. Dunklere Straßen waren zwar weniger bevölkert, dafür aber von Lachen und Seen eindeutiger Herkunft bestanden. Die Pinkler suchten sich längst nicht mal mehr dunklere Straßen, sondern drehten sich mitten in der Folia mal eben zur Seite an die Brücke, an das nächste Auto, an eine Plakatwand zur ungezwungenen Erleichterung. Ebenso ungezwungen schütteten sie sich gleichzeitig allerlei alkoholische Getränke ins Hirn.

Als ich es – nicht zur Bühne, die war unerreichbar – bis zu eine der Großleinwände geschafft hatte, sagte Zeca Pagodinho gerade : „Danke, Recife!“ – und dann erklärte einer der Organisatoren, es gäbe ja noch vier weitere Tage Karneval, wir sollten also nicht traurig sein! Traurig wurde ich erst, als ich die Schlangen am Busbahnhof sah.

Drei Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken versuchten, die Wartenden aus zwei konkurrierenden Warteschlangen per Reißverschlussverfahren in einen Bus einzufädeln bis der randvoll war. Dertweil stürmten ungesicherte Horden zwei weitere Busse, die unvorsichtigerweise bereits auf dem Weg zur Haltestelle ihre Türen geöffnet hatten. Aus einem dröhnten Hilferufe, es gäbe eine Schlägerei. Die Sicherheitskräfte zögerten kurz, erkannten dann aber, dass es, wendete sie sich der Schlägerei zu, voraussichtlich hier, wo sie jetzt standen, auch nicht mehr länger friedlich zugehen würde. Also blieben sie wo sie waren.

Ich schaffte es in den vierten Bus auf den letzten verfügbaren Platz. Als ich mich auf den bierklebrigen Sitz niederließ, drängte eine kleine Folia aus vielleicht sechs Leuten hinter mir in den Wagen. Sie stimmten alsbald in den höchsten Tönen fröhliche Karnevalslieder an, wie „Pega, pega minha rola*“, wobei ein Kleingewachsener mit nackte Oberkörper, der vor Anstrengung und Männlichkeit einen ziemlich strengen Geruch entwickelt hatte, mit voller Wucht gegen die Busdecke hämmerte. Erstaunlicherweise gab das keine Dellen, also versuchte der junge Wilde es mit den Füßen.

Danach fiel der fröhlichen Truppe eine vermutlich sinnlich gemeinte Schunkelvariante ein, bei der die Männer ihre Leibesmitte eng aneinander drängten und im Takt ihres Gesangs möglichst synchron vor und zurück schwankten. Gelegentlich geriet einer dabei ein wenig aus der Spur und torkelte einem Mitreisenden auf den Schoß. Aus anderen Bussen, die neben unserem im Stau standen, staunten uns langweiligere Passagiere zu. Mein Sitznachbar nahm einen tiefen Schluck aus seiner mitgebrachten Bierdose und kommentierte das Geschehen: „Alles Karneval, alles Spaß!“

Ich würde eher sagen: Wer im Karneval zu spät kommt, trifft die Dämonen.

foto geshen bei: g1.globo.com

Sonntag, 22. Februar 2009

Das richtige Klima im Karneval


In Recife fängt der Karneval mit dem Hahn an. Der „Galo“ rühmt sich, der größte Karnevalsumzug der Welt zu sein – ganz im Stil der brasilianischen Freude an Superlativen. Tatsache ist, dass schon Tage vorher diverse Straßen und eine Brücke gesperrt werden, um den Massenumzug vorzubereiten und den mehrere Meter hohen Deko-Hahn zu montieren, der dann am Karnevalssamstag lässig auf die krabbelnden Menschlein herunter guckt. Die kommen aus Vororten, Dörfern, Städten und sogar aus ganz Brasilien angereist, um beim Hahn dabei zu sein, zwei Millionen sollen es dieses Mal gewesen sein. Natürlich haben alle Läden geschlossen, fährt keiner zum Fischen, gibt es kein Capoeira-Training und auch sonst nicht viel am Karnevalssamstag, denn das ist der Tag des „Galo da Madrugada“. Erfunden haben den ein paar Trunkenbolde vor 30 Jahren, indem sie früh morgens fröhlich durch die Innenstadt lärmten. Deswegen ist es bis heute Tradition, schon auf dem Weg zum Galo allerlei Alkoholika zu konsumieren, damit die Stimmung stimmt: „entrar no clima“ heißt das auf Portugiesisch.

Das Klima ist bestens an diesem Samstag, Straßenverkäufer halten alle paar Meter am Straßenrand, an der Route des Galo, allerlei Sorten Bier und Schnaps und Fruchtsaft-Schnaps-Mischungen bereit. Blechbläserbands spielen die alten Karnevalshits im Frevo-Rhythmus, zu dem manche Einheimische in akrobatische Frevo-Tanzschritte verfallen, eine rasante Mischung aus Kasatschock und Funkenmariechen, die sie mit einem kleinen bunten Schirmchen ausbalancieren.

Für Zugereiste ist die Kunst des Frevo-Tanzens noch unerreichbarer als Samba. Zum Glück sind die Recifenser da großzügig: alle Unwissenden dürfen auch in braven Trippelschrittchen mittanzen, Hauptsache das Klima stimmt. Soweit alles prima mit dem Galo. Doch nach dem Galo will plötzlich das Klima selbst nicht mehr. Schon am Vorabend hatte es gegossen, als wolle die Regenzeit den Karneval auslöschen - und am Nachmittag des Galo zieht sich der Himmel wieder bedrohlich zu. Spontan beschloss ich, ganz aus dem Klima zu fallen und einfach nach Hause zu fahren. Sturzfluten und Sturmböen müssen bis zum Abend die große Open-Air-Bühne so verwüstet haben, dass die abendlichen Shows abgesagt werden mussten. Da war ich zum Glück bereits im Trockenen.

Und musste feststellen, dass das voreilig nasse Klima allerlei Verwirrung in der Tierwelt gestiftet hatte: Lange vor der Zeit hatten während des Galo die Flugameisen mein Haus heimgesucht, die einmal im Jahr, so gegen Winteranfang, kollektiv ihre Flügel abwerfen - und das am liebsten in menschlichen Behausungen. Letztes Jahr haben sie das bei mir im April getan. Wenn sie jetzt schon im Februar meine Regale, Bücher, Töpfe, Vorhänge, Spinnennetze und Sofas unter Flügeln begraben, werde ich dieses Jahr im April Ruhe haben? Oder kommen sie dann nochmal? Ebenfalls an den Winterausbruch glauben offensichtlich die nicht-fliegenden Ameisen, diese Fliegendreck-kleinen, die ganz besonders scharf beißen. In den Wänden von Küche und Wohnzimmer haben sich während meiner Galo-Abwesenheit mehrere Löcher aufgetan, aus denen die kleinen Mitesser in Tausendschaften anmarschieren, um allem Essbaren hier im Haus auf den Leib zu rücken. Dazu zählen sie mich offensichtlich auch.

Eben habe ich im Internet gesehen, dass die große Bühne in Recife wieder hergestellt ist und der Bürgermeister persönlich versprochen hat: Heute werden alle Konzerte stattfinden. Draußen vor dem Fenster türmen sich dunkle Wolken auf noch dunklere Wolken. Unten an meinen Füßen beißt es verdächtig. Schwere Entscheidung: Lenine im Regen? Oder Ameisenbisse und -flügel im Trockenen?

Fotos: Ricardo Phebo (Galo), Christine Wollowski (Frevo)

Donnerstag, 19. Juni 2008

Ein klitzekleines Sao Joao

Die Leute hier im Nordosten lieben Superlative. Vielleicht weil sie im besser organisierten und besser verdienenden Südosten als kulturlose Hungerleider nicht ernst genommen werden. Lass die anderen nur lachen: Wir haben den größten Karnevalszug der Welt. Wir haben das größte Freilichttheater der Welt. Und wir haben das größte Sao Joao der Welt. Das behaupten in jedem Jahr diverse Städte hier in Pernambuco von ihrer Juni-Party. Keine Ahnung, ob eine davon rechtmäßigen Anspruch auf den Titel hat. Eigentlich ist das auch völlig schnuppe. Denn Sao Joao darf nicht groß sein.

Mein erstes habe ich im Südwesten des Landes erlebt, auf einer einsamen Farm im Überschwemmungsgebiet des Pantanal. Der Johannistag war gleichzeitig der Geburtstag des Nachbarfarmers, der zur Feier seiner 70 Jahre jedem der Gästen aus der Ferne (außer mir waren auch alle anderen Urlaubsgäste von meinem Farmer eingeladen) auf dem Grill eine Rinderrippe von der Länge eines Männerunterarms aussuchte. Während wir von leichten Berührungsängsten geplagt das zähe Fleisch von unseren Rippen nagten, vertrieb ein haushohes Feuer die Mücken. Wenig später stimmte der alte Herr in seinem Schaukelstuhl schwermütige Tanzlieder auf der Gitarre an, und bald drehte sich ein halbes Dutzend Paare auf dem gestampften Lehmboden seines Hofs. Darüber funkelten die Sterne.

Jahre später habe ich mich dazu verleiten lassen, als Reporterin zu einem der größten Sao Joaos der Welt in die Hinterlandsmetropole Caruaru zu fahren. Caruaru ist eine häßliche Stadt, die niemand zu kennen braucht, außer vielleicht für deren womöglich größten Freiluftmarkt der Welt, in dessen endlosen Gassen ich mich schon öfter verlaufen hatte. Um es gleich zu sagen: Sao Joao war schlimmer.

Freiwillig würden kaum Touristen nach Caruaru fahren, deswegen haben sich die Planer dort irgendwann die Geschichte vom großen Sao Joao ausgedacht. Schon Wochen vor dem eigentlichen Tag spielen auf dem eigens angelegten Festgelände die größten Forró-Bands des Landes – denn erstens hätte es sich nicht gelohnt, so eine Infrastruktur für einen einzigen Tag im Jahr aufzubauen, und zweitens sind die Bands vor dem Stichtag billiger. Selbst drei Party-Wochenenden sind allerdings nicht Grund genug, dass Hoteliers an einem Ort Hotels bauen, also gibt es in Caruaru kaum Übernachtungsplätze. Dafür Zigtausende Festbesucher, von denen eine wesentliche Menge im Auto anreist. Deswegen standen wir im Stau. Stunden. Der Fremdenverkehrsmann, der sich auskannte, hatte mich aus dem Zentrum des Wahnsinns in einen kleineren Vorort kutschieren wollen, wo das Fest noch „richtig ursprünglich“ sein sollte. Auf die gleiche Idee waren allerdings diverse andere Autobesitzer ebenfalls gekommen. Also hörten wir Musik aus dem Autoradio, sahen zu, wie ein paar Leute am Straßenrand tanzten und dabei die Nacht hereinbrach.

Irgendwann kamen wir doch zum Trubel im Zentrum zurück und da war dann immer noch eine sehr lange Nacht übrig, denn wir hatten kein Hotelzimmer mehr bekommen. Das gesamte Festgelände war ungefähr so dicht besucht wie ein Pop-Konzert: Die Shows von Elba Ramalho und anderen Stars konnten wir uns nur von ferne auf der Leinwand ansehen, die typischen Maisgerichte der Junifeiern waren zwar erreichbar, kosteten aber Fantasiepreise. Am nettesten war es an einer kleinen Bude, bei der ein Trio traditionellen Forró Pé de Serra spielte: ein polka-ähnlicher Rhythmus zu schmelzenden Liebesliedern, mit Akkordeon, Tamburin und anderen Rhythmusinstrumenten. Da tanzte ich dann unter einem städtischen Sternenhimmel weit über den Punkt hinaus, an dem ich nicht mehr konnte. Mein Bett war weit, und im Auto schnarchte bereits Julho, der Fremdenverkehrsmann.

Deswegen werde ich an diesem Sao Joao (seit Jahren das erste, das ich nicht voller Sehnsucht in Deutschland verbringe) nirgendwo hin fahren. Nicht einmal in den Nachbarort, in dem dann richtig was los sein soll.

Hier probt schon seit Wochen beinahe jeden Abend die dorfeigene Quadrille (höfische Tänze gehören ebenfalls zu einer echten Junifeier) auf dem Platz, und der scharfe Meerwind zerrt an den Röcken der Mädchen. Im Dunkeln röstet eine Nachbarin Maiskolben für hungrige Tänzer und Zuschauer. Nur eine, weil ja noch kein Festtag ist. Für den basteln seit ein paar Tagen die Stammgäste und Nachbarn der Kneipe von Eduardo in der hinteren Strasse an einer Palmhütte als Regenschutz. Es wird auch eine Forró-Band kommen. Mehr nicht. Das wird ein ganz klitzekleines Sao Joao. Um so besser.

Sonntag, 30. Dezember 2007

Missverständnisse am Jahresende

Heute habe ich meine weiße Jeans gewaschen, denn es ist ausnahmsweise mal tagsüber reichlich Wasser aus der Leitung gesprudelt – nachdem es in den letzten Wochen immer nur nachts oder morgens bis maximal 5 Uhr und meist nur spärlich getröpfelt hatte. Der Wassermangel ist hier jeden Sommer ein Problem, obwohl doch angeblich auf das brasilianische Amazonasgebiet als der größte Wasserlieferant des Planeten die meisten anderen Ländern der Welt begehrlich schauen. Die würden das Amazonaswasser – wenn sie es denn hätten - vermutlich problemlos in ihre entfernten Heimatländer schaffen, während es hier quasi um die Ecke dauernd nicht ankommt. Aber es geht mir mehr um die Hose. Denn morgen ist der letzte Tag des Jahres: Silvesternacht, in der jeder angemessen angezogen sein will, und das bedeutet in Brasilien weiße Kleidung.

Im ersten Jahr hier habe ich das nicht gewußt, und damit ging ein denkwürdiger Abend los. Weil mein damaliger Freund ein eher schweigsamer Typ war, rückte er mit der Info der weißen Klamotten erst am Abend des 31. heraus, nachdem er selbst sich in seine weiße Jeans und ein ebensolches Hemd gewandet hatte – die er beide sonst nie trug. Leider war es da zu spät, noch ein kleines Weißes für mich einzukaufen. „Schwarz geht auch“, sagte der Mann. Dass das eine Trost-Lüge war, merkte ich wenig später auf der Straße, auf dem Weg zu Bekannten, die uns eingeladen hatten. Niemand trug Schwarz. Niemand trug irgendwelche dunklen Farben. Nur ich.

Bei den Bekannten handelte es sich um ein trinkfreudiges Pärchen um die 45 mit zwei Kindern im Teenie-Alter. Sie wohnten in einem Haus in Klotzform mit Gittern vor den großen Terrassen und Balkonen. Die Dame des Hauses bat uns an einen niedrigen Tisch im ansonsten übersichtlich möblierten Wohnzimmer: ein Regal mit TV und Stereoanlage, ein anderes mit einer Sammlung alkoholischer Getränke. Es lief eine Silvestershow ohne Ton und eine Platte mit Brasil-Pop. Der Herr des Hauses bot mir entweder Whisky oder Cola-Zuckerrohrschnaps an, und da ich von Whisky Kopfschmerzen bekomme, wählte ich die zweite Möglichkeit.

Auf dem Tisch standen auch diverse Platten mit kaltem Truthahn, diversen Salaten, Früchten, Linsengerichten und anderem. Aber davon rührte niemand etwas an. Die Bekanntschaft war eher flüchtig, mein Portugiesisch eher dürftig, und mein Begleiter wie gesagt eher schweigsam. Also nippte ich an meinem Getränk und versuchte den Ausführungen der Dame des Hauses über Kindererziehung zu folgen. Besonders viele eigene Ideen zu dem Thema habe ich nicht eingebracht. Zum einen, weil ich keine Kinder habe, zum anderen, weil mein ohnehin karges Portugiesisch durch den Genuß mehrerer großzügig gemixter Longdrinks nicht gerade flüssiger wurde. Irgendwann rauschte die Stimme der Bekannten für mich nur noch als ein weiteres Hintergrundgeräusch neben der Musik und ich konzentrierte mich vor allem darauf, ein lautes Knurren meines Magens zu unterdrücken und nicht allzu begehrlich auf die Speisen zu starren. Warum zum Teufel bot mir hier niemand etwas zu essen an? Es ging langsam auf Mitternacht zu, ich war halb verhungert und mehr als halb betrunken. Waren die ganzen Leckerein nur zu Dekozwecken angerichtet und würden hinterher kollektiv in den Müll wandern?

Um kurz nach Mitternacht, als wir auch noch mit Sekt angestoßen und vom Dach aus einige wenige Leuchtraketen und ganz viele Böller bestaunt hatten schnitt der Hausherr endlich den Truthahn auf. Für mich war da alles schon zu spät, ich traute mich längst nicht mehr, in meinen mißhandelten Magen feste Nahrung zu verfügen. An alle Details der restlichen Nacht kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, dass dieses Silvester erst in der schon heißen Sonne am nächsten Morgen endete, weil wir am Strand eingeschlafen sind. Irgendjemand hatte uns eine Flasche Rum in die Hand gedrückt mit den Worten: Nehmt, ich kann nicht mehr. Wir konnten auch nicht mehr, tranken trotzdem willenlos weiter und deswegen habe ich sogar darauf verzichtet, das neue Jahr mit dem ebenfalls traditionellen Bad im Meer zu beginnen. Bei jemandem, der Schwarz trug, kam es darauf vermutlich auch nicht mehr an.

Das ist ein paar Jahre her und inzwischen weiß ich, dass die Unterschiede zwischen brasilianischer und europäischer Kultur viel vielfältiger sind, als ich damals auch nur geahnt habe. Zum Beispiel: Während wir an Silvester gerne über die Zukunft orakeln, Blei gießen und Karten legen, versuchen die Brasilianer lieber, gleich positiv Einfluß auf die Zukunft zu nehmen. Dafür gibt es reichlich Möglichkeiten – von denen nicht mal das einladende Pärchen von damals alle kannte. Denn das Mitternachtsmahl, das weniger der materiellen Ernährung als der spirituellen Glücksbeschwörung just zum Zeitpunkt des Jahreswechsels dient, sollte nicht unbedingt Geflügel enthalten: Hühner, Truthähne und Co scharren nämlich rückwärts und können so Rezessionen verursachen. Empfehlenswerter sind Fische oder Schweine - die nach vorne schwimmen oder rüsseln. Linsen bringen Wohlstand, wer Trauben ißt und deren Kerne hinter sich wirft, darf sich etwas wünschen, Granatäpfel garantieren Geld und Glück, und das Bad im Meer reinigt von allem Dreck des vergangenen Jahres.

Diesmal stimmt bei mir wenigstens die Kleiderfarbe. Ob ich die anderen Glücksbringer alle auf die Reihe bekomme, weiß ich nicht. Ich werde weit weg von zuhause und meiner eigenen Glücksküche sein. Weil am Strand von Boa Viagem Marina Lima singt. Kostenlos. In Boa Viagem, dem Strandviertel von Recife, soll das Silvester ansonsten ganz besonders spießbürgerlich sein, mit geschmückten und bespaßten abgeschlossenen Feierabteilen für die Wohlhabenden und ambulanten Grillspießstationen für die weniger Wohlhabenden – getrennt durch Kordeln und Sicherheitsbeamte und vollkommen anders als die berühmte klassen- und religionsübergreifende Feier am Strand von Rio. Um eine Einladung in eine der schicken Feierzonen haben wir uns nicht gekümmert. Bleibt: Sekt mitnehmen, warm trinken, Snacks knuspern, Marina Lima hören und auf den garantiert gräßlichen Kater am Neujahrstag pfeifen. Wenn ich den überwunden habe, melde ich mich wieder. Bis dahin Prosit Neujahr!

Freitag, 7. September 2007

Endlich Sommer

Heute fahren alle an den Strand. Denn heute fängt der Sommer an. Anderswo in Brasilien mag das erst in ein paar Monaten passieren, aber hier im Nordosten ist heute „Abertura de verão“ – Sommer-Eröffnung. Wer wann und warum damit angefangen hat, den Sommer vorzuverlegen, weiß ich nicht. Vielleicht ist das so eine ähnliche Marketingmasche wie der antizyklische Karneval, der mancherorts im Oktober zusätzlich zum eigentlichen Termin ausgerufen wird. Jedenfalls kommt die vorverlegte Sommereröffnung hier allseits bestens an. Schliesslich haben alle Strandbarbesitzer und Schmuckhersteller und Buggyfahrer lange, karge, verregnete Wintermonate auf diesen Tag und seine Einnahmen hingewartet. Und auch die strandfern vor sich hin ackernden Binnenland-Brasilianer wollen nur zu gerne die letzten Monate vergessen, in denen der Regen Strassen in Schlammfluten verwandelt hat und Strände in graue öde Landschaften: In Massen strömen sie in alle stadtnah gelegenen Orte am Meer.

Das Wetter hat auf die Kolonnen Sommereröffnungs-Reisender wenig bis keinen Einfluß. Zum Stichtag sind traditionell sämtlich Zugangsstrassen zu Strandorten verstopft, dabei geschehen reichlich Unfälle wegen Trunkenheit am Steuer und wird vermutlich mehr Alkohol konsumiert als in den nächsten Wochen zusammen. Besonders Schlaue reisen schon am Donnerstag an. Hilft aber nichts, weil die Idee nicht so richtig originell ist: Gestern nachmittag etwa hat der Bus von Recife vor lauter Staus statt der üblichen zwei Stunden locker dreieinhalb gebraucht. Ganz zum Schluß hat der freundliche Busfahrer trotzdem für eine kleinere Gruppe Wochenendreisender außerplanmäßig gehalten: Sie hatten ihren Wochenendvorrat an Rum- und Colaflaschen, Bohnen, Reis und Nudeln, Chips, Flips, Milchpulver und Haarkuren in ungefähr vier Dutzend Plastiktüten dabei und brauchten allein zehn Minuten zum Ausladen.

So vorausgedacht haben längst nicht alle; heute mittag hatten die anderen Kurztrip-Besucher den einzigen Supermarkt hier im Dorf beinahe leergekauft. Kein Saft mehr und kein gekühltes Bier, kein Trockenfleisch und kein Brot - was man halt so braucht für ein gemütliches Wochenende mit Freunden. Dafür sind die Strassen um so voller. Dutzende Urlauber in Bikinis oder Shorts laufen durchs Dorf - auf der Suche nach Getränkenachschub für ihre Terrassen, wo der Rest der Familie mit Freunden bei Musik zusammensitzt. Manche machen die Bierdosen gleich vor dem Getränkemarkt auf und improvisieren auf der Mauer des Süssigkeitenladens daneben eine Privatkneipe. Wildfremde setzen sich dazu und bald ist die Party im Gang. So viel los ist hier im Dorf vermutlich erst wieder an Karneval.

Natürlich ist heute Feiertag. An Arbeiten wäre auch gar nicht zu denken: Musikfetzen aus Bossa Nova, Samba, Rio Funk und Schmalzschinken mischen sich zu einem völlig neuen Musikstil, während dicke Schwaden Grillwolken verführerisch durch die Gassen ziehen. Und weil sie so froh sind, dass endlich Sommer ist, feiern viele Ferienhausmieter in Schichten – während eine Hälfte ausruht, singt und trinkt die andere weiter – nur die Stereoanlage macht durch. Manche verlassen ihre Terrasse das ganze Wochenende nicht. Bei der Sommereröffnung geht es nämlich gar nicht darum, wirklich den Strand und das Meer zu sehen. Es geht darum, hinterher sagen zu können: Wir sind am Wochenende an den Strand gefahren und haben mal wieder so richtig gefeiert. Endlich Sommer!

Dienstag, 20. Februar 2007

Nimms mir nicht übel, es ist doch Karneval

Zum Karneval geht Mann nicht einfach so. Er will da schon gern wen kennenlernen. Vielleicht ein paar Küsse ernten. Oder ein paar Blicke wenigstens. Dafür tut jeder, was er kann. Oder was ihm gerade so einfällt.

Am Montagmittag in Olinda versuchen zwei Jungs ganz wörtlich, sich Damen zu angeln. Aufreizend lassen sie ihre Köder in die Menge baumeln: Kreditkarten, ein schickes Handy, der Film „Was Frauen mögen“ und als letzter Trumpf ein Dildo –aus Styropor. Vielleicht haben sie die Frauen zu materialistisch eingeschätzt: Recht viel Erfolg haben die zwei nicht, wenigstens nicht, solange ich zugucke.

Besser kommt die wandelnde Duschkabine an: Bei Mittagstemperaturen von über 30 Grad und keinem Schatten weit und breit drängeln sich erhitzte Mädels gerne unter den kühlen Strahl des Duschmanns.

Fast genau so unwiderstehlich sind die Jungs mit den „Lutsch mich!“-T-Shirts, an denen reichlich Bonbons kleben, die sich Interessierte abreißen können. Oder der Süße, der kleine Honigpäckchen an Schnüren zum Abreißen anbietet.

Andere versuchen sich als Superhelden aufzuwerten, im Zorro-Kostüm nach Antonio Banderas auszusehen oder im Batman-Dress nach George Clooney – unter dem Umhang lassen sich prima weniger perfekte Rundungen verbergen.
Manche werden lieber gleich aktiv:

Ein Pseudo-Blinder klöppelt ausgiebig jede ab, die ihm spannend erscheint, ein Mediziner setzt gleich sein Stethoskop auf strategisch wichtige Körperteile, martialischer Veranlagte erschießen ihre Auserwählte mit einer möglichst beeindruckenden Wasserpistole. Besonders Mutige gehen einfach los und küssen. Schliesslich ist Karneval, und da geht Mann nicht einfach so hin:
Vou te beijar agora

Ich werde dich jetzt küssen

Nao me leve a mal

Nimm’s mir nicht übel

Hoje é carnaval

Heute ist Karneval
Heißt der Text eines Karnevalshits. Und der ist über 50 Jahre alt.
 
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