Samstag, 26. Januar 2008

Folgenreiche Fotos im Orkut

Die Brasilianer haben ein besonderes Verhältnis zum Orkut. Von Anfang an. Fünf Monate, nachdem das Freundschaftsnetz gegründet wurde, hatten sie schon die größte Gemeinschaft beisammen – und damit die Gründer, die Amerikaner, überrundet. „Wir mobilisieren uns schneller!“, „Wir schließen schneller Freundschaften!“, „Wir sind stärker als wir denken!“ jubelten damals viele. Ein Jahr später reagierte Orkut-Betreiber Google mit einer portugiesischen Version für die inzwischen überwältigende Mehrheit der brasilianischen Orkut-Nutzer. Heute stellen die Brasilianer mehr als 70 Prozent der Acht-Millionen-Gesamt-Gemeinschaft. In dieser Entwicklung sehen manche euphorisch den Beweis für eine digitale „Alfabetisierung“ des brasilianischen Volkes, andere kommentieren bösartig: „Vielleicht sind wir auch nur weniger selektiv in unseren Freundschaften als andere“.

Dumme Menschen machen besonders gerne Lärm“ - behauptet Internaut Ricardo Bánffy. Lärm im Orkut könnte auch heißen: Exhibitionismus. Nirgends ist der öffentliche Raum so leicht zu erobern, wie in der virtuellen Welt. Der Exhibitionistenboom reicht von klischeemässig knapp bekleideten Strandschönheiten bis zu Mackern mit Knarren in der Hand (die Fotos sind vermutlich erst dann illegal, wenn die Knarren echt sind). Demokratisch ist der Orkut allemal. Während einerseits ebenfalls von Anfang an rassistische Gemeinschaften innerhalb des Orkut auftauchten – und ebensolange bekämpft werden - , wird aus der großen Gemeinschaft niemand wegen seiner Farbe, Religion und nicht einmal wegen echter Charakterfehler ausgeschlossen. Jeder, der sich einladen läßt, kann dabei sein. Ein Effekt davon ist: In der virtuellen Welt können Menschen miteinander Kontakt haben, die sich sonst womöglich nie begegnen würden. Das kann spannend sein und ein großer Fortschritt.

Internaut Vladimir hingegen klagt über sich und die anderen Orkut-Benutzer: „Mit raren Ausnahmen sind wir doch nur mit unserem eigenen Bauchnabel beschäftigt und nicht mit dem der anderen.“ Da hat er womöglich Recht. Qualitative Untersuchungen darüber, was die Masse der Orkutianer inhaltlich so bewegt, gibt es anscheinend keine. Das muss aber kein Nachteil sein. Manchmal ist es wunderbar, dass wir so mit unserem Bauchnabel beschäftigt sind und noch wunderbarer, dass es die raren Ausnahmen tatsächlich gibt.

Letzte Woche geschah nämlich Folgendes. Eine mit ihrem eigenen Bauchnabel beschäftigte brasilianische Dame fühlte sich befleißigt, von ihrem Strandurlaub mit ihrem Liebsten reichlich Fotos in den Orkut zu stellen. Inklusive einer Serie, die ihren Kerl in einer Badewanne voll Schaum und mit Rosa Brille zeigte. Waren offensichtlich ausgelassene Urlaubstage.

Bis jemand die Fotos sah, der nicht mit dem eigenen Bauchnabel beschäftigt war. Und in dem fröhlichen Schaumbader den „Barao do Pó“ erkannte, einen der größten Kokainhändler von Rio de Janeiro. Saulo da Rocinha, wie der 32Jährige auch genannt wird, war im Dezember 2005 aus dem Gefängnis ausgebrochen und seitdem untergetaucht. Er soll pro Monat eine Tonne Marihuana und 50 Kilo Koks in die Favelas der Stadt verschoben haben und sogar über ein eigenes Koka-Labor verfügen. Im Januar, dem brasilianischen Ferienmonat, machte auch der Koks-Baron Urlaub und badetet am Strand von Maragogí. Saulos Rückflug aus dem Urlaub in Alagoas am 21. Januar ging dann auf Staatskosten. Und in Handschellen. Dank der brasilianischen Gemeinde im Orkut. Und dank der Bauchnabelschau seiner Frau.

Donnerstag, 24. Januar 2008

Doch kein König ohne Kilos

Ob es daran gelegen hat, dass ihm die Krone bei der Krönungszeremonie bei nahe über den Kopf gerutscht ist? Kann denn ein König, der die Krone nicht füllt, trotzdem seine Rolle ausfüllen? „Ich mache mir keine Sorgen um Körpermasse, ich habe Tonnen von Ideen“, sagte Clarindo Silva, der magere Karnevalskönig, der gegen Protest in Bahia gewählt wurde in Interviews: „Ich bin gekommen, um Paradigmen über den Haufen zu werfen“, provozierte er. Die Prinzen hingegen – allesamt Gegenkandidaten mit einem Durchschnittsgewicht von 120 Kilo – drehten dem Gekrönten protestierend ihre imposanten Rücken zu.

Und jetzt ist es passiert, grade mal eine Woche vor Karnevalsbeginn: Clarindo muß die Krone zurückgeben!

Das Volk hat all die Tage regen Anteil an der Diskussion um den großen Traditionsbruch genommen. Zwar war der erste dicke Momo rein zufällig ein übergewichtiger Journalist, aber in den nächsten fünfzig Jahren wurde die überreichliche Körperfülle für den Karnevalskönig zur Tradition. Abgesehen davon, dass ein dicker König das Volk bestens repräsentiert, denn mehr als die Hälfte der Brasilianer sind übergewichtig. Die Meinungen zur Wahl Clarindos waren im Volk trotzdem geteilt und reichten von: Gib die Krone zurück, bevor du dich lächerlich machst, über: In Bahia gibt es eben nur Absurditäten bis zu: Es ist an der Zeit für einen Wechsel oder gar: Hat die Staatsanwaltschaft nichts besseres zu tun, als über Karnevalsfragen zu entscheiden?

Fakt ist: Einer der abgewiesenen dicken Kandidaten hat den Fall vor die Staatsanwaltschaft gebracht und die hat einen Formfehler entdeckt, der dazu führt, dass Momo-Clarindo zurücktreten muß: Er ist in diesem Jahr nicht, wie üblich, gewählt, sondern einfach ernannt worden. Also alle noch mal zurück auf Los. Wann die neue Wahl stattfinden wird, ist noch nicht bekannt gegeben worden. Aber es dürfen alle wieder antreten, die sich ursprünglich angemeldet hatten.

Die Kommentare zum Königsstreit werden derweil immer ironischer: In der einen Hand den Schlüssel der Stadt, in der anderen einen Truthahnschenkel – wünschen sich manche Bahianer den neuen, noch zu wählenden König. Andere loben, dass „endlich einmal die Justiz in diesem Land funktioniert“. Und besonders Freche raten dem wieder entthronten Clarindo: „Du hast noch eine Chance: Iss reichlich Nudeln und trink reichlich Limo, vielleicht schaffst du bis nächstes Jahr die nötigen Kilos mehr!“

Sonntag, 20. Januar 2008

Glücklich Geflüchtete

Da gab es doch letztes Jahr im August diese kubanischen Boxer, die noch während der Wettkämpfe in Brasilien beschlossen, anstatt zurück auf ihre Insel lieber von hier aus nach Hamburg zu wollen, erinnert sich noch jemand? Ihr Plan ging gründlich schief, weil auf promptes und persönliches Veranlassen des Präsidenten Lula – intimer Freund des greisen Inselchefs Fidel – die Boxer aus Brasilien ausgewiesen und nach Kuba deportiert wurden. Seit ihrer Zwangsrückkehr sollen die Profi-Boxer auf Kuba „eine ihren Fähigkeiten angemessene“ Tätigkeit ausüben – Boxen dürfen sie nicht.

Das wäre an sich ja entmutigend genug. Die Realität auf der Insel muß noch entmutigender sein. Denn es sind wieder Kubaner heimlich hier geblieben. Diesmal machten sich Musiker davon und zwar gleich bei mir um die Ecke, in Recife. Das Sextett „Los Galanes“ war für mehrere Shows hier im Großraum angereist und hätte am letzten Abend, dem 11. Dezember, noch ein nettes Abendessen mit Kuba-freundlichen Menschen genießen sollen. Drei der sechs Musiker entschuldigten sich statt dessen mit Unwohlsein – und verschwanden spurlos. Später stellte ein Anwalt für die Flüchtigen prophylaktisch Antrag auf „Habeas corpus“. Der wurde abgelehnt – und es schien schon, als drohte ihnen das gleiche Schicksal wie den Boxern.

Dann kam doch noch alles anders. Zunächst beantragte der Anwalt für die drei politisches Asyl –und um diesem Antrag mehr Nachdruck zu verleihen, wandte er sich nicht nur an die Polícia Federal, sondern vorsichtshalber auch noch an den Abgeordneten Raul Jungmann. Der wiederum bat den Justizminister Tarso Genro persönlich um Unterstützung.

Drei Wochen später verkündeten die drei Musiker in einer Pressekonferenz fröhlich die Gründung ihrer Band Brascuba, zusammen mit zwei jungen Pernambucanos. Der erste Auftritt der multikulturellen Band war gleich im renommierten Paco Alfandega – und überhaupt haben sich die Kubaner in Rekordzeit hier integriert. In einem Chat auf dem Site der Tageszeitung JC sagte der Sänger Miguel Costafreda: „Die Musik, die Leute, ihr Charakter und das Klima hier sind sehr ähnlich wie auf Kuba“. Alle drei wohnen immer noch bei dem Tanzlehrerpaar, das ihnen bei der Flucht geholfen hat, geben Interviews und Konzerte, und lösen in Recife gerade eine Art Kuba-Boom aus. Wenn auch eher kulturell als politisch.

Mit ministerieller Unterstützung haben die drei Musiker bislang das Bleiberecht bis zur endgültigen Entscheidung über ihren Asylantrag erlangt. Aber große Sorgen müssen sie sich wohl nicht machen, dass sie Ende Januar, wenn der Ausschuss für Asylanträge zusammentritt, aus dem Land geworfen werden.

Fragt sich nur: Warum haben die Musiker so viel mehr Erfolg mit ihrer Flucht als die Boxer? Liegt es daran, dass ihr Anwalt sich an den Justizminister gewandt hat, bevor Fidel den brasilianischen Präsidenten anrufen konnte? Oder eher daran, dass die Musiker die brasilianische Kultur bereichern, während die Boxer nur Hamburger Boxclub-Besitzer bereichert hätten?

Sicher scheint: Von Brascuba wird noch einiges zu hören sein. Von den Boxern spricht schon lange niemand mehr.

Sonntag, 13. Januar 2008

Karneval ohne Kilos

Der neue Rei Momo von Bahia ist Clarindo Silva. Nachdem dies am Freitag bekanntgegeben wurde, stürmten diverse Verlierer-Kandidaten entrüstet das Fremdenverkehrsamt von Salvador. Es gab Geschrei und Tränen, Streit und Drohungen. Was ist da los? Können die Bahianer nicht verlieren? Wird nicht jedes Jahr der Momo neu gewählt? Gibt es nicht immer einen Gewinner und mehrere Verlierer?

Diesmal hat die Wahl in Bahia das Volk gespalten.

Es applaudieren:
- die Direktorin des Fremdenverkehrsverbandes
- der Soziologe Ubiratan Castro
- die Weight Watcher Bahias
- ein Teil der Bevölkerung

Es protestieren:
- der Vorsitzende der Dicken-Vereinigung von Bahia
- drei Ex-Momos und ebenfalls Kandidaten
- ein Teil der Bevölkerung

Den medienwirksamen Spaß-König – übrigens eine Erfindung von Journalisten - gibt es in Bahia seit fast 50 Jahren. Momo übernimmt vom Bürgermeister den Schlüssel der Stadt, er leitet und repräsentiert die ultimative brasilianische Party, kommt dauernd im Fernsehen und muß also vor allem gut und ausdauernd tanzen können und ständig gut drauf sein. Ausserdem, so eine Bahianer Zeitung: „darf er keine Vorurteile haben, muß den Karneval lieben und Zeit genug haben, um den vom Rathaus vorgegebenen Karnevals-Parcours zu absolvieren“. Die Regierung hat in diesem Jahr angeregt, dass der neue Momo zusätzlich ein paar Kenntnisse der Kultur Bahias mitbringen könnte.

Clarindo, der neue Mann, verfügt über einige Allgemeinbildung. Er ist sportlich und raucht und trinkt nicht. Er kann tanzen, liebt den Karneval und ist auch sonst kein Unsympath. Das Problem: Clarindo Silva ist schlank. Nicht nur ein bisschen weniger fett. Lächerliche 58 Kilo wiegt der Mann bei 1,70 Metern Körpergröße.

Es geht nicht um Kultur oder Kenntnisse, es geht um Kilos im Karnevalsstreit von Bahia. Momo war immer dick. Immer schon. Keiner weiß, warum. Und jetzt wissen manche nicht so recht, warum das anders werden soll.

Ungerechtigkeit!, schimpfen die dicken Kandidaten. Wozu haben sie sich mühselig in monatelangen Pizza- und Nudelorgien ihre durchschnittlich 120 Kilo pro Mann angefuttert? Um jetzt gegen so einen Windhaken zu verlieren? Sich anzuhören, dass der Schlanke ein gesünderes Ideal verkörpert? Dass ihre Leibesfülle nur zum übertriebenen Konsum verführt?

Die verschmähten Kugelbäuche von Salvador sind beleidigt. Die Einladung, als „Prinzen“ am Spektakel teilzunehmen, haben sie empört und einstimmig abgelehnt. Manche wollen vor Gericht ziehen. Einer gibt an, die Wahl habe ihm den Appetit verdorben.

Wenn er lange hungert, hat er vielleicht im nächsten Jahr wieder Chancen auf den Titel.

Donnerstag, 10. Januar 2008

Ein Freund für den einsamen Urwaldbewohner

Morgens tirilieren hier die Vögel um die Wette wie in einem Garten Eden. Seit einiger Zeit wird das liebliche Getriller und Getschirpse ergänzt durch einen kräftigen Sägeton, ein bißchen so, als rutsche eine Eisensäge auf zu glattem Sägegut ab. Klingt sehr exotisch, ein bisschen wie im Urwald. Nur wohne ich bekanntlich nicht im Urwald, sondern in einem Dorf am Meer.

Aber wenn die Brasilianer Haustiere lieben, so sind es zuallererst Vögel, jedenfalls hier im Nordosten. Und zwar nicht etwa zahme Zucht-Kanaris. Am beliebtesten sind spät domestizierte Wildvögel, besonders solche, die sich nicht leicht fangen lassen – abgesehen davon, dass das Fangen natürlich absolut illegal ist. Das Illegale mag den Besitzreiz noch steigern. Dafür machen sich die Käfigvogel-Liebhaber einige Mühe mit ihren Gefangenen. Vor allem sehr früh morgens sieht man junge bis alte Männer (eine Frau habe ich erstaunlicherweise in all den Jahren noch nie gesehen) viele Kilometer weit durch die Landschaft spazieren – den Vogelkäfig immer schön am ausgestreckten Arm balancierend. Vielleicht ist das ein Trost für die Eingesperrten: Immerhin sehen sie das Grün noch, durch das sie nicht mehr fliegen können. Je mehr sie „raus kommen“, desto mehr singen sie, behaupten die Spaziergänger.

Manche tragen ihre Lieblinge nahezu immer mit sich herum, ich habe schon Bauarbeiter gesehen, die nicht ohne ihren Käfigbewohner zur Arbeit gingen – ob Baulärm und Staub die Singfreude steigern, mag ich allerdings bezweifeln. Ansonsten muß ich zugeben, das die Geräusche der Gefangenen meines Vermieters jeden Morgen überaus lieblich in mein Schlafzimmer klingen, auch wenn sie vermutlich nur verzweifelt schreien: Wo sind meine Kumpels? Lasst mich hier raus!

Vor ein paar Wochen kam der Urwaldsäger dazu. Den trägt nie jemand durch die Gegend. Er ist auch deutlich größer als die üblichen Eingesperrten. Und deutlich verzweifelter. Ich habe mal mitgezählt: Sein Sägen läßt er rund 18 Mal pro Minute ertönen, richtig glücklich klingt das nicht. Er ruft und sägt so laut, als müsse er damit seine Kumpels im Amazonaswald erreichen. Vielleicht versteht ihn das Kleingeflügel in der Nachbarschaft nicht. Dem Besitzer macht das ohrenbetäubende Klagen nichts aus. Als ich diskret angefragt habe, wo denn der Neuling herkomme, sagte der Rentner stolz: „Der Ferreiro kommt aus dem Urwald, toll nicht?“ Toll ja.

Toll verboten auch. Der Ferreiro-Besitzer hält außerdem einen Papagei gefangen, was ebenso verboten ist. Deswegen habe ich insgeheim schon überlegt, ob ich die Umweltbehörde „Ibama“ auf den Plan rufen sollte –für zwei illegal Gekidnappte würden die sich vielleicht sogar auf den Weg hier in die Pampa machen.

Dann ist vor ein paar Tagen etwas anderes passiert: Das Sägen hat deutlich an Frequenz, nicht aber an Intensität zugenommen. Manchmal klang es geradezu schüchtern. Zuerst dachte ich: Der Urwaldvogel wird schwach, wahrscheinlich geht er vor Einsamkeit ein. Bis ich gestern direkt an der (übrigens vergitterten! Der Besitzer steht wirklich auf Käfige!) Terrasse vorbei kam. Dort hingen der Säger und der Papagei in ihren Behausungen nebeneinander. Erst sägte der Säger. Dann sägte der Papagei. Ganz so, als sei er dabei, die Sprache des Exoten-Zugangs zu lernen. Beide sahen dabei sehr konzentriert aus. In Kürze können sie sich wahrscheinlich fließend unterhalten. Der Urwaldsäger und Eisenbearbeiter (Ferreiro) hat einen Freund fürs Leben gefunden. Soll ich die beiden jetzt etwa durch Denunzieren trennen?

Montag, 7. Januar 2008

Töchter abzugeben

Dona Fátima hat Sorgen. Das merke ich sofort, weil sie morgens deutlich lauter und länger mit ihren beiden Töchtern schimpft als üblicherweise. Die Töchter sind 13 und 15 Jahre alt – und das ist an sich schon Grund genug, sich aufzuregen, findet Dona Fátima. Momentan ist es aber einer der Söhne, der ihr noch mehr Kopfzerbrechen macht. „Ich habe ihm ja gleich gesagt: Du wirst noch im Gefängnis landen!“, schimpft Fátima.

Das Problem: Der Sohn - 21 Jahre alt, arbeitslos, Schulabbrecher, lebt bei Oma und Opa und schlägt sich so durch – hat sich verliebt. In eine 15Jährige. Tochter aus gutem Hause. Vom Verlieben zum Verführen war der Weg schnell und gedankenlos. Sich-Verführen-Lassen aber ist in ehrwürdigen Familien hier im Nordosten eine Sache, die mit den Worten „sich verlieren“ bezeichnet wird. Die Tochter hat sich mit Fátimas Sohn verloren. Das ist schlimm. Der Vater des Mädchens könnte Fátimas Sohn anzeigen, denn auch in Brasilien wird die sogenannte Unzucht mit Minderjährigen unter 16 Jahren auf Antrag strafrechtlich verfolgt. „Ich hab es ihm vorher gesagt!“, klagt Fátima. Das hat natürlich, wie fast immer bei verliebten Jugendlichen mit Hormonstau, nichts genutzt.

Es ist durchaus üblich, dass Väter ihre verlorenen Töchter nicht mehr haben wollen, sobald sie ihr anscheinend wichtigstes bis einziges Gut weggegeben haben. Hier im Nordosten überleben ja erstaunlich archaische Bräuche. Dazu gehört es, verlorene Töchter bei dem Verlierer einfach abzugeben. Ein Bekannter kam so recht unverhofft zu einer „Ehefrau“: Er hatte sich mit der Siebzehnjährigen eher locker verbunden gefühlt, bis diese ihrem Vater erzählte, dass sie sich verloren hatte. Am nächsten Tag erschien der Vater mit Tochter und einem Kleiderbündel bei meinem Bekannten und lieferte das Mädchen mit den Worten ab: „Jetzt kannst du sie auch behalten“.

Fátimas Lösungsidee war also folgende: sie hat dem Vater der verlorenen Tochter angeboten, das Mädchen bei sich aufzunehmen. Vielleicht würde er dann ja von einer Anzeige absehen. Doch der Vater lachte ihr nur ins Gesicht. „Meine Tochter“, sagte er, „ist ein anderes Niveau gewohnt, als das Ihre – Sie können ja nicht mal ihre Haarpflegeprodukte bezahlen!“ Einerseits war Fátima ganz froh, sagt sie, denn der Mann hatte insofern Recht, als allein ein weiterer zu fütternder Mund ihre wackelige Finanzplanung deutlich ins Wanken gebracht hätte. Andererseits: Wer war dieser Mann, dass er es wagen konnte, sie so zu beleidigen?

Das war vor ein paar Wochen, sagt Fátima. Und jetzt hat sich dieser Mann erneut bei ihr gemeldet und ihr gesagt, sie könne seine Tochter haben. „Was kann denn das nun bedeuten?“, fragt Fátima. „Die ist doch bestimmt schwanger. Da habe ich bald drei Esser mehr am Hals“. Die Sorgen um die 13- und 15jährigen Töchter bleiben ihr außerdem. Aber vielleicht kann sie die dann auch irgendwann woanders abgeben.

Freitag, 4. Januar 2008

Rückwärts scharren

Es war wirklich nur eine winzige Coxinha. Kaum größer als eine Kirsche. Und dieses kirschgroße Fettgebäck bestand garantiert zu mindestens 98 Prozent aus Teig. Die Füllung kann nicht mehr als ein paar Gramm gewogen haben. Das waren offensichtlich ein paar Gramm Huhn zu viel für ein Silvester-Mitternachtsmahl.

Am ersten Feiertag war noch nichts zu merken. Das übliche Gelärme der Sommerurlauber und Ferienhausgäste, die in jedem noch so kleinen Garten, auf dem Bürgersteig und sogar mitten auf der Strasse ihre Grillparties veranstalteten – und dabei auch reichlich Geflügel verkohlten – durften sie ja, war ja schon das neue Jahr.

Gestern klingelte dann das Telefon. Hätte ein lukrativer Auftrag sein können. Oder jemand aus Deutschland zum nachträglichen Guten-Rutsch-Wünschen. War aber Valéria von der Telemar, die sich neuerdings Oí nennt, weil böse Zungen aus Telemar frech „Telemal“* gemacht haben. Valéria rief bezüglich meiner Beschwerde an, diesbezüglich hatte sie nämlich eine Analyse vorliegen und die sagte ihr, dass meine getätigten und von mir reklamierten Anrufe aus dem Ortsnetz Ipojuca absolut legitimerweise als Ferngespräche berechnet wurden, da es sich eindeutig um Ferngespräche handelte. Um mir dies mitzuteilen, benötigte Valéria maximal 45 Sekunden, weswegen ich zunächst nicht alles verstand.

Hintergrund der Geschichte ist, dass die Telemal mir jeden Monat, seit ich hier wohne – also seit über einem Jahr - unberechtigterweise Ferngespräche auflistet. Für die Leute von der Telefongesellschaft (an der übrigens der Sohn des Präsidenten große Anteile hält) gibt es anscheinend nur Ferngespräche – jedenfalls berechnen sie ein solches selbst dann, wenn ich nur ins Nachbarviertel telefoniere. Dabei sollten alle Anrufe innerhalb des Großraums Recife Ortsnetz sein – versuche ich, eine Vorwahl zu wählen, korrigiert mich eine automatische Ansage: Dieses Gespräch ist ein Ortsgespräch, bitte lassen Sie die Vorwahl weg.

Leider stimmen die Leute aus dem Rechnungswesen nicht mit der Meinung der Ansagestimme überein. Ich muß mich jeden Monat aufs Neue beschweren, manchmal machen sie dann Simulationen, stellen fest, dass ich wirklich keine Vorwahl benutzen kann, manchmal berufen sie sich auf erfundenen Gesetzesparagraphen, die ihnen angeblich erlauben, so zu rechnen, wie sie rechnen, manchmal antworten sie erst bei der dritten Beschwerde. Einmal haben sie für alle ihre Überprüfungen so lange gebraucht, dass sie mir zwischendurch schon das Telefon abgestellt hatten – wegen ausbleibender Zahlung.

Irgendwann endet es aber immer damit, dass sich eine freundliche Telefonstimme sehr entschuldigt, umgehende Besserung verspricht und eine berichtigte Rechnung, von der alle falschen Ferngespräche entfernt sind. Die bezahle ich dann. Weil das recht ermüdend ist, habe ich die Telefongesellschaft schon Anfang des letzten Jahres verklagt. Der erste Schlichtungstermin im Mai wurde auf Antrag der Gegenanwältin vertagt – damit sie prüfen könne, zu welcher Gemeinde mein Ortsteil gehört. Er gehört zum Cabo de Santo Agostinho, das hätte sie auch flott der Postleitzahl entnehmen können, die auf den Rechnungen steht, aber warum eine einfache Lösung suchen. Der nächste Schlichtungstermin im Oktober 2007 wurde wegen Schlichter-Mangels verschoben auf Mitte 2008. Seitdem haben die Damen und Herren am Beschwerdetelefon mir immerhin jedes Mal zügig eine berichtigte Rechnung versprochen, ohne gross rumzuzicken.

Jedes Mal vor Valéria. Valéria ist nicht freundlich, nicht einmal verbindlich. Ihre mit vielen „bezüglich“, „betreffend“, „im Rahmen“ und „gesetzmäßig“ gespickten Sätze scheint sie von einem Teleprompter abzulesen. Kurzes Resümé: Alle bisher berichtigten Rechnungen beweisen gar nichts und wurden nur aus Kulanz geändert, behauptet Valéria. Tatsächlich sind alle Ferngespräche berechtigt berechnet, weil ich statt in meiner Gemeinde Cabo in der Nachbargemeinde Ipojuca wohne, behauptet Valéria. Keine Ahnung, wo ihr Call-Center liegt, aber sicher nicht in Pernambuco. Bisher seien noch nie technische Prüfungen vorgenommen worden, sagt Valéria, nur Kulanzrückzahlungen seien erfolgt. Aber ihre Analysen ergeben, dass bezüglich ... Undsoweiter, immer wieder von vorne, ganz egal, was ich dazu sage.

Das passiert mir selten, aber ich werde laut mit Valéria. Der Streit dauert eine Stunde. Das Höchste, was ich erreiche: Sie wird eine technische Prüfung in die Wege leiten, sagt sie. Ein Techniker wird bei mir vorbei kommen (um zu gucken, wie meine Gemeinde heißt? Der Name steht am Gesundheitsposten, nicht zu übersehen!) und die Sache prüfen, sagt sie. Wann das passieren wird, sagt sie nicht. Und ich dachte, die Sache sei schon diverse Male geprüft worden.

Ach hätte ich bloß auf diese vermaledeite Coxinha verzichtet! Ich habe es doch vorher gewußt: Wer in der Silvesternacht Geflügel isst, muß im neuen Jahr damit rechnen, rückwärts zu scharren.

*"mar" heisst Meer, hingegen bedeutet "mal" schlecht oder mies
 
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