Heute habe ich meine weiße Jeans gewaschen, denn es ist ausnahmsweise mal tagsüber reichlich Wasser aus der Leitung gesprudelt – nachdem es in den letzten Wochen immer nur nachts oder morgens bis maximal 5 Uhr und meist nur spärlich getröpfelt hatte. Der Wassermangel ist hier jeden Sommer ein Problem, obwohl doch angeblich auf das brasilianische Amazonasgebiet als der größte Wasserlieferant des Planeten die meisten anderen Ländern der Welt begehrlich schauen. Die würden das Amazonaswasser – wenn sie es denn hätten - vermutlich problemlos in ihre entfernten Heimatländer schaffen, während es hier quasi um die Ecke dauernd nicht ankommt. Aber es geht mir mehr um die Hose. Denn morgen ist der letzte Tag des Jahres: Silvesternacht, in der jeder angemessen angezogen sein will, und das bedeutet in Brasilien weiße Kleidung.
Im ersten Jahr hier habe ich das nicht gewußt, und damit ging ein denkwürdiger Abend los. Weil mein damaliger Freund ein eher schweigsamer Typ war, rückte er mit der Info der weißen Klamotten erst am Abend des 31. heraus, nachdem er selbst sich in seine weiße Jeans und ein ebensolches Hemd gewandet hatte – die er beide sonst nie trug. Leider war es da zu spät, noch ein kleines Weißes für mich einzukaufen. „Schwarz geht auch“, sagte der Mann. Dass das eine Trost-Lüge war, merkte ich wenig später auf der Straße, auf dem Weg zu Bekannten, die uns eingeladen hatten. Niemand trug Schwarz. Niemand trug irgendwelche dunklen Farben. Nur ich.
Bei den Bekannten handelte es sich um ein trinkfreudiges Pärchen um die 45 mit zwei Kindern im Teenie-Alter. Sie wohnten in einem Haus in Klotzform mit Gittern vor den großen Terrassen und Balkonen. Die Dame des Hauses bat uns an einen niedrigen Tisch im ansonsten übersichtlich möblierten Wohnzimmer: ein Regal mit TV und Stereoanlage, ein anderes mit einer Sammlung alkoholischer Getränke. Es lief eine Silvestershow ohne Ton und eine Platte mit Brasil-Pop. Der Herr des Hauses bot mir entweder Whisky oder Cola-Zuckerrohrschnaps an, und da ich von Whisky Kopfschmerzen bekomme, wählte ich die zweite Möglichkeit.
Auf dem Tisch standen auch diverse Platten mit kaltem Truthahn, diversen Salaten, Früchten, Linsengerichten und anderem. Aber davon rührte niemand etwas an. Die Bekanntschaft war eher flüchtig, mein Portugiesisch eher dürftig, und mein Begleiter wie gesagt eher schweigsam. Also nippte ich an meinem Getränk und versuchte den Ausführungen der Dame des Hauses über Kindererziehung zu folgen. Besonders viele eigene Ideen zu dem Thema habe ich nicht eingebracht. Zum einen, weil ich keine Kinder habe, zum anderen, weil mein ohnehin karges Portugiesisch durch den Genuß mehrerer großzügig gemixter Longdrinks nicht gerade flüssiger wurde. Irgendwann rauschte die Stimme der Bekannten für mich nur noch als ein weiteres Hintergrundgeräusch neben der Musik und ich konzentrierte mich vor allem darauf, ein lautes Knurren meines Magens zu unterdrücken und nicht allzu begehrlich auf die Speisen zu starren. Warum zum Teufel bot mir hier niemand etwas zu essen an? Es ging langsam auf Mitternacht zu, ich war halb verhungert und mehr als halb betrunken. Waren die ganzen Leckerein nur zu Dekozwecken angerichtet und würden hinterher kollektiv in den Müll wandern?
Um kurz nach Mitternacht, als wir auch noch mit Sekt angestoßen und vom Dach aus einige wenige Leuchtraketen und ganz viele Böller bestaunt hatten schnitt der Hausherr endlich den Truthahn auf. Für mich war da alles schon zu spät, ich traute mich längst nicht mehr, in meinen mißhandelten Magen feste Nahrung zu verfügen. An alle Details der restlichen Nacht kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, dass dieses Silvester erst in der schon heißen Sonne am nächsten Morgen endete, weil wir am Strand eingeschlafen sind. Irgendjemand hatte uns eine Flasche Rum in die Hand gedrückt mit den Worten: Nehmt, ich kann nicht mehr. Wir konnten auch nicht mehr, tranken trotzdem willenlos weiter und deswegen habe ich sogar darauf verzichtet, das neue Jahr mit dem ebenfalls traditionellen Bad im Meer zu beginnen. Bei jemandem, der Schwarz trug, kam es darauf vermutlich auch nicht mehr an.
Das ist ein paar Jahre her und inzwischen weiß ich, dass die Unterschiede zwischen brasilianischer und europäischer Kultur viel vielfältiger sind, als ich damals auch nur geahnt habe. Zum Beispiel: Während wir an Silvester gerne über die Zukunft orakeln, Blei gießen und Karten legen, versuchen die Brasilianer lieber, gleich positiv Einfluß auf die Zukunft zu nehmen. Dafür gibt es reichlich Möglichkeiten – von denen nicht mal das einladende Pärchen von damals alle kannte. Denn das Mitternachtsmahl, das weniger der materiellen Ernährung als der spirituellen Glücksbeschwörung just zum Zeitpunkt des Jahreswechsels dient, sollte nicht unbedingt Geflügel enthalten: Hühner, Truthähne und Co scharren nämlich rückwärts und können so Rezessionen verursachen. Empfehlenswerter sind Fische oder Schweine - die nach vorne schwimmen oder rüsseln. Linsen bringen Wohlstand, wer Trauben ißt und deren Kerne hinter sich wirft, darf sich etwas wünschen, Granatäpfel garantieren Geld und Glück, und das Bad im Meer reinigt von allem Dreck des vergangenen Jahres.
Diesmal stimmt bei mir wenigstens die Kleiderfarbe. Ob ich die anderen Glücksbringer alle auf die Reihe bekomme, weiß ich nicht. Ich werde weit weg von zuhause und meiner eigenen Glücksküche sein. Weil am Strand von Boa Viagem Marina Lima singt. Kostenlos. In Boa Viagem, dem Strandviertel von Recife, soll das Silvester ansonsten ganz besonders spießbürgerlich sein, mit geschmückten und bespaßten abgeschlossenen Feierabteilen für die Wohlhabenden und ambulanten Grillspießstationen für die weniger Wohlhabenden – getrennt durch Kordeln und Sicherheitsbeamte und vollkommen anders als die berühmte klassen- und religionsübergreifende Feier am Strand von Rio. Um eine Einladung in eine der schicken Feierzonen haben wir uns nicht gekümmert. Bleibt: Sekt mitnehmen, warm trinken, Snacks knuspern, Marina Lima hören und auf den garantiert gräßlichen Kater am Neujahrstag pfeifen. Wenn ich den überwunden habe, melde ich mich wieder. Bis dahin Prosit Neujahr!
Sonntag, 30. Dezember 2007
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen