Donnerstag, 19. Juni 2008

Ein klitzekleines Sao Joao

Die Leute hier im Nordosten lieben Superlative. Vielleicht weil sie im besser organisierten und besser verdienenden Südosten als kulturlose Hungerleider nicht ernst genommen werden. Lass die anderen nur lachen: Wir haben den größten Karnevalszug der Welt. Wir haben das größte Freilichttheater der Welt. Und wir haben das größte Sao Joao der Welt. Das behaupten in jedem Jahr diverse Städte hier in Pernambuco von ihrer Juni-Party. Keine Ahnung, ob eine davon rechtmäßigen Anspruch auf den Titel hat. Eigentlich ist das auch völlig schnuppe. Denn Sao Joao darf nicht groß sein.

Mein erstes habe ich im Südwesten des Landes erlebt, auf einer einsamen Farm im Überschwemmungsgebiet des Pantanal. Der Johannistag war gleichzeitig der Geburtstag des Nachbarfarmers, der zur Feier seiner 70 Jahre jedem der Gästen aus der Ferne (außer mir waren auch alle anderen Urlaubsgäste von meinem Farmer eingeladen) auf dem Grill eine Rinderrippe von der Länge eines Männerunterarms aussuchte. Während wir von leichten Berührungsängsten geplagt das zähe Fleisch von unseren Rippen nagten, vertrieb ein haushohes Feuer die Mücken. Wenig später stimmte der alte Herr in seinem Schaukelstuhl schwermütige Tanzlieder auf der Gitarre an, und bald drehte sich ein halbes Dutzend Paare auf dem gestampften Lehmboden seines Hofs. Darüber funkelten die Sterne.

Jahre später habe ich mich dazu verleiten lassen, als Reporterin zu einem der größten Sao Joaos der Welt in die Hinterlandsmetropole Caruaru zu fahren. Caruaru ist eine häßliche Stadt, die niemand zu kennen braucht, außer vielleicht für deren womöglich größten Freiluftmarkt der Welt, in dessen endlosen Gassen ich mich schon öfter verlaufen hatte. Um es gleich zu sagen: Sao Joao war schlimmer.

Freiwillig würden kaum Touristen nach Caruaru fahren, deswegen haben sich die Planer dort irgendwann die Geschichte vom großen Sao Joao ausgedacht. Schon Wochen vor dem eigentlichen Tag spielen auf dem eigens angelegten Festgelände die größten Forró-Bands des Landes – denn erstens hätte es sich nicht gelohnt, so eine Infrastruktur für einen einzigen Tag im Jahr aufzubauen, und zweitens sind die Bands vor dem Stichtag billiger. Selbst drei Party-Wochenenden sind allerdings nicht Grund genug, dass Hoteliers an einem Ort Hotels bauen, also gibt es in Caruaru kaum Übernachtungsplätze. Dafür Zigtausende Festbesucher, von denen eine wesentliche Menge im Auto anreist. Deswegen standen wir im Stau. Stunden. Der Fremdenverkehrsmann, der sich auskannte, hatte mich aus dem Zentrum des Wahnsinns in einen kleineren Vorort kutschieren wollen, wo das Fest noch „richtig ursprünglich“ sein sollte. Auf die gleiche Idee waren allerdings diverse andere Autobesitzer ebenfalls gekommen. Also hörten wir Musik aus dem Autoradio, sahen zu, wie ein paar Leute am Straßenrand tanzten und dabei die Nacht hereinbrach.

Irgendwann kamen wir doch zum Trubel im Zentrum zurück und da war dann immer noch eine sehr lange Nacht übrig, denn wir hatten kein Hotelzimmer mehr bekommen. Das gesamte Festgelände war ungefähr so dicht besucht wie ein Pop-Konzert: Die Shows von Elba Ramalho und anderen Stars konnten wir uns nur von ferne auf der Leinwand ansehen, die typischen Maisgerichte der Junifeiern waren zwar erreichbar, kosteten aber Fantasiepreise. Am nettesten war es an einer kleinen Bude, bei der ein Trio traditionellen Forró Pé de Serra spielte: ein polka-ähnlicher Rhythmus zu schmelzenden Liebesliedern, mit Akkordeon, Tamburin und anderen Rhythmusinstrumenten. Da tanzte ich dann unter einem städtischen Sternenhimmel weit über den Punkt hinaus, an dem ich nicht mehr konnte. Mein Bett war weit, und im Auto schnarchte bereits Julho, der Fremdenverkehrsmann.

Deswegen werde ich an diesem Sao Joao (seit Jahren das erste, das ich nicht voller Sehnsucht in Deutschland verbringe) nirgendwo hin fahren. Nicht einmal in den Nachbarort, in dem dann richtig was los sein soll.

Hier probt schon seit Wochen beinahe jeden Abend die dorfeigene Quadrille (höfische Tänze gehören ebenfalls zu einer echten Junifeier) auf dem Platz, und der scharfe Meerwind zerrt an den Röcken der Mädchen. Im Dunkeln röstet eine Nachbarin Maiskolben für hungrige Tänzer und Zuschauer. Nur eine, weil ja noch kein Festtag ist. Für den basteln seit ein paar Tagen die Stammgäste und Nachbarn der Kneipe von Eduardo in der hinteren Strasse an einer Palmhütte als Regenschutz. Es wird auch eine Forró-Band kommen. Mehr nicht. Das wird ein ganz klitzekleines Sao Joao. Um so besser.

Freitag, 13. Juni 2008

Triumph der Paraibas

Es war eine Heimlichtuerei wie bei kleinen Jungs. Niemand sollte wissen, wo die Spieler des Corinthians aus Sao Paulo vor dem Endspiel hier in Recife übernachten würden, damit keine gegnerischen Fans ihren Schlaf stören. (Zur Erinnerung: in Sao Paulo ließen Böllerschüsse die Spieler aus Recife kaum schlafen) Tage vor dem Endspiel der Copa do Brasil war außerdem nicht bekannt, wie die beiden Mannschaften genau aussehen würden. Nur die gegenseitigen Beschimpfungen waren schon in vollem Gang: „Carlinhos Balla, wer soll das schon sein“, taten die Corinthians-Fans den legendären Stürmer des Sport Clube Recife ab. „Ihr könnt ruhig kommen, aber stellt euch darauf ein: wir putzen euch weg“, erwiderten die Sport-Fans. 35.000 Eintrittskarten waren binnen eines halben Tages verkauft. Mein Bekannter Valdenio, dessen Leidenschaft für den Sport Clube seine Ehe bereits um einiges überdauert hat, war unter den ersten und hat umgerechnet rund 16 Euro bezahlt. Auf dem Schwarzmarkt später sollen die Tickets mehr als 120 Euro gekostet haben.

Ich habe keines gekauft, und war trotzdem bei so einigem dabei. Mein kleines Dorf ist nämlich angenehme vierzig Kilometer von Recife entfernt, und es gibt hier ein Fünf-Sterne-Hotel. Jawohl. Das liegt einsam am Ende des Dorfstrands und ist meistens so leer, dass mich der Bademeister auf seinem Wachturm begrüßt wie die letzte Überlebende eines Weltuntergangs, wenn ich mit den Hunden am Strand an ihm vorbei laufe. In diesem Hotel haben die Corinthians-Spieler sich versteckt. Die Medien haben behauptet, sie hätten gut geschlafen, bei Meeresrauschen und dem Surren der Air Condition. Vielleicht haben die Geräusche der Air Condition die Böller übertönt. Ich habe sie jedenfalls gehört, bis in die Morgenstunden. Vormittags rauschte dann der Bus mit den Spielern an mir vorbei. Keine Ahnung, wohin sie unterwegs waren, die Entscheidung war ja erst auf den späten Abend angesetzt.

Ebenfalls vormittags flatterten am Nachbarstrand riesige Fahnen – in den Händen der Corinthians-Fans. Sie waren in Massen in Autokolonnen und angeblich 20 Reisebussen angereist. Die Reisebusse soll der Corinthians-Präsident aus der eigenen Tasche bezahlt haben, um seinen Jungs psychologische Unterstützung auf dem Platz zu garantieren. Und weil 20 Busse viele Freiplätze haben, waren da am Strand neben zivilisierten Fans auch durchaus martialische Gestalten dabei, brasilianische Hooligans eben. Die fragten die einheimischen Strandbesucher – vor allem Surfer – wo es denn verdammt noch mal Drogen zu kaufen gebe in diesem Kaff, sie hätten die ganze Reise gekokst. Als sie vormittags in diesem Kaff auf die Schnelle kein Koks bekommen konnten, ließen sie sich zu mehreren Hundert auf einem Felsen am Ende der Bucht nieder und kifften, dass die Rauchfahnen aufstiegen. Vor den Augen von drei Polizisten, die von unten zusahen. Die drei Ordnungshüter dachten gar nicht daran, auf den Felsen zu steigen: Dort oben hätten sie sich in ein Feindesheer begeben – und das Beweismittel wäre bis dahin ohnehin längst verschwunden. Über der Anarchie-Zone flatterte eine Bob-Marley-Fahne, auf welcher der Rastafari zu seinen Dreadlocks ein Corinthians-Shirt trägt.

Unten am Strand haben sich die wilden Männer übrigens außerordentlich brav verhalten. Zum Beispiel am Zuckerrohr-Saft-Stand von Lúcio. Der ist noch leidenschaftlicher Sport-Fan als Valdenio. Und als ein baumlanger Corinthians-Fan bei ihm einen Saft bestellte, brach es übermächtig aus dem schmächtigen Lúcio heraus: „Ihr werdet schon noch sehen, wie wir Euch vernichten werden, Ihr Stümperverein! Dass ihr euch überhaupt hertraut!“ Und so weiter. Grego, ein Surfer, erstarrte daneben auf seinem Barhocker als hoffe er, dadurch unsichtbar zu werden. „Ich hätte dem Typen die ganze Corinthians-Hymne vorgesungen, wenn der mich nur einmal schief angeguckt hätte. Ich hätte mir deren Wappen auf den Rücken tätowieren lassen, nur um aus der Situation heil rauszukommen“, erzählt er später. Aber der Hüne aus Sao Paulo nahm seinen Saft und trollte sich schweigend.

Es gab nämlich etwas zu verlieren: Außer der Fahrt hatte der Club-Präsident auch noch ein Mittagessen hier im schicken Hotel spendiert. Und dazu wäre der Mann nach einer Prügelei womöglich nicht mitgenommen worden. Wenig später rief eine Lautsprecheransage die Fan-Horden zurück zu den Bussen: Abfahrt zum Essen-Fassen. Die bösen Männer drückten ihre Joints aus, rollten ihre Fahnen zusammen und zogen ab. Wie Schulkinder auf Klassenfahrt.

Der Präsident muss sich ordentlich geärgert haben über seine Investition: die vielen Fans haben eine katastrophale 2:0-Niederlage seines Vereins am Abend nicht verhindern können. Es waren halt doch nur 1000 (laut Angaben der Corinthians) oder 3000 (laut Angaben des Sport Clube) Mannen aus Sao Paulo angereist. Von Polizei eskortiert, haben die erfolglosen Horden anschließend ihre Busse bestiegen, ohne Chance auf Ausschreitungen.

Seitdem tragen hier alle nur noch Schwarz-Rot, die Farben des Sport Clubs. Alte, Junge, Autos, Mopeds und sogar seine Terrasse hat einer in den Farben des Siegs angemalt. Öffentliche Busfahrer hupen im Rhythmus der Sport-Hymne, Fahrradfahrer klingeln sie, Schulkinder brüllen sie durch den Bus. Passenderweise ist morgen lokaler Feiertag Santo Antonio, da läßt sich nahtlos ins Wochenende weiter feiern. Es ist nämlich etwas Unglaubliches passiert: Die Paraibas* haben die Copa do Brasil gewonnen.

* so nennen manche Südbrasilianer, die sich für etwas Besseres halten, die Nordostbevölkerung verächtlich

Montag, 9. Juni 2008

Mit viel Volk unterwegs

Wer kein Auto hat, muss Bus fahren. Das sind hier viele Menschen, vor allem am Wochenende. Deswegen bin ich am Sonntag etwas unhöflich gleich nach dem Mittagessen bei einer Freundin aufgesprungen, habe meine Sachen gepackt und mich verabschiedet: um dem sonntagnachmittäglichen Stau der heimfahrenden Sonnenanbeter zu entgehen. Immerhin hatte ich vier Stunden und ebenso viele verschiedene Busse vor mir.

Als ich in den ersten einstieg, war der tatsächlich noch erholsam leer. Wenige Haltestellen später allerdings stiegen viel Volk zu, das wenig nach Strand aussahen. Ich erfuhr bald, warum: Meine Nachbarin erzählte mir, sie fahre ihren Mann jeden Sonntag besuchen, fünfmal müsse sie umsteigen, aber daran sei sie schon gewohnt. Schlimmer sei, dass sie diesmal noch zwei alte Damen dabei habe, die sich allein nie auf die weite Reise getraut hatten, obwohl ihre Söhne schon seit x Jahren säßen. Ich war in den Gefängnisbesucher-Stau geraten. Auf der Insel, auf der meine Freundin wohnt, befinden sich nämlich drei Gefängnisse, und deren Insassen dürfen nur sonntags Besuch bekommen. Deswegen füllte sich der Bus mit Frauen und Kindern allen Alters und unterschiedlichster Aufmachung: Von der Diva, die hinter riesigen Brillengläsern inkognito reiste bis zur ganzkörpertätowierten Klischee-Hafenbraut, deren Üppigkeit die Hot Pants zu sprengen drohte.

Am nächsten Umsteigebahnhof hatte sich schon bei unserer Ankunft eine typische Schlange an der Einsteigestelle Richtung Recife gebildet. Kuchen kauend, Cola schlürfend und schwatzend. Auf den letzten eineinhalb Metern sollten Metallgeländer die leicht chaotische Schlange zur Bustür hin kanalisieren. Nachdem der erste Bus sich bis an den Rand gefüllt hatte, gelangte ich tatsächlich bis zu dieser Zielgeraden. Leider war das ein Fehler: Als eine halbe Stunde später der nächste Bus hielt, blieb ich in genau diesem Metallkanal gefangen. Weil von der Seite allerlei ungehobelte Menschen sich gewaltig in den Bus hinein drückten und uns dabei den Weg versperrten. Ich schaffe es nur unter einem energischen Ellenbogeneinsatz, dessen Ungehobeltheit mich selbst ein bißchen erschreckte, den letzten freien Platz zu ergattern. Vor mir saß schon meine neue Bekannte, die inzwischen eine Tasche und ein Kind auf dem Schoß hatte.

Auf meinen Schoß ragte ein T-Shirt-loser Bauch, der zu einem jungen Mann gehörte, dem ich mindestens einen nervösen Tick, eher noch ein nasales Drogenproblem unterstellen würde, so pausenlos und trocken schniefend zog er unsichtbare Substanzen in seiner Nase hoch. Das ist übrigens als Folterinstrument ungefähr so wirksam wie ein unregelmäßig tropfender Wasserhahn. So richtig erleichtert war ich trotzdem nicht, als der Typ ausstieg, weil an einem anderen Umsteigebahnhof der Bus nicht mehr wollte. In der nächsten Schlange war ich schon beinahe entschlossen, selbst ungehobelt an der Seite in den Bus zu drängen. Bis ich sah, dass hier zwei freundliche Sicherheitsbeamte genau das sehr bestimmt zu verhindern wußten. Manchmal ist die Welt ungerecht.

Ich stieg als eine der Letzten ein, meine Bekannte saß schon: Sie hatte wegen des Kindes auf ihrem Schoß Vortritt gehabt, und bot sich an, meinen schweren Rucksack auch noch zu stemmen. „Ich wollte Dir ja einen Platz freihalten, hat aber nicht geklappt!“, entschuldigte sie sich. An der nächsten Umsteigehaltestelle verlor sie die alten Damen und verschwand laut rufend im Gewimmel.

Ich blieb nicht lange allein. „Wohin fährst du?“, fragte mich eine ältere Dame, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt. Ich sagte ihr den Ortsnamen. „Welche Haltestelle?“, wollte sie wissen. Bis zur Endstation, sagte ich. „Prima, dann steig mit mir ein, da kannst du sitzen!“ Wie bitte? „Ich hab ein Anrecht auf Begleitung“, sagte die freundliche Dame und hielt mir einen Ausweis unter die Nase: „Behindertenausweis“, stand da, „kostenlose Beförderung mit Anspruch auf eine Begleitperson“. Und: „Art der Behinderung: geistig“. Nicht gerade diskret. Meiner neuen Freundin schien das nichts auszumachen. Sie bugsierte mich geschickt in den vollen Bus, organisierte uns zwei Plätze und verwickelte mich in ein Gespräch über den Sinn oder Unsinn von Fußball. Dass die Fahrt wegen der Pannen eine Stunde länger gedauert hat als normal, habe ich erst zuhause gemerkt.

Mittwoch, 4. Juni 2008

Fußball, Emotionen und das Nord-Süd-Gefälle

Angefangen hat es damit, dass Botafogo gegen den Nautico zu verlieren drohte. Botafogo ist ein Club aus Rio de Janeiro, dessen Fans und Spieler sich normalerweise über den armen Nordosten und seine Fußballvereine erhaben fühlen – zumindestens, solange sie ihnen nicht gefährlich werden. Solches Denken ist Tradition für viele Cariocas, die ja auch Einwanderer aus dem armen Nordosten gerne mit „Paraiba“ bezeichnen, und das durchaus abwertend meinen. Geraten nun im Fußball solche Welten aneinander, kann das die Gemüter bis zum Siedepunkt erhitzen. So geschehen am vergangenen Sonntag, als Botafogo hier in Recife gegen den einheimischen Nautico spielte.

Botafogo geht es nicht besonders gut in den diesjährigen Meisterschaften. Aus dem Libertadores ist der Club schon draußen, aus der Copa do Brasil ebenfalls, bleibt nur noch der Brasileirao – und auch da ist sein 14. Platz nicht gerade Grund zur Freude. Und nun in Recife, gelingt dem Nautico das erste Tor. Panisch wechselt der neue Trainer als vermeintliche Rettung den Abwehrmann Luis André ein, der seine Ellenbogen so aggressiv auf Körperkontakt programmiert, dass er bald die gelbe Karte zu sehen bekommt und schließlich des Spielfelds verwiesen wird. Schimpfend trollt sich der Mann auf die Reservebank. Auf die er nicht gehört: Wer des Platzes verwiesen wird, gehört in die Umkleide. Jedenfalls: Weg vom Platz.

30.000 Nautico-Fans auf der Tribüne brüllen den Mann nieder, doch Luis André will nicht gehen. Wütend zeigt er den gegnerischen Fans den Stinkefinger und schleudert eine Wasserflasche gegen die Sitzreihen. Es ist wie im Slapstick: die Wasserflasche fliegt in die Höhe, trifft einen älteren Herrn an der Brille und zerschmettert dieselbe. Derweil bittet die Polizistin Lúcia Helena den baumlangen wütenden Kerl, ihr doch bitte vom Platz zu folgen. „Wenn du mich festnimmst, verklag ich dich, du Scheiß-Polizistin“, meckert der Hüne. Woraufhin er wirklich festgenommen wird, die anderen Botafogo-Spieler sich auch noch aufregen und sogar der Vereinspräsident versucht, einzugreifen. Als sei wüstes Meckern und Beleidigen eben so die Art der Botafoguenses. Verloren haben sie dann außerdem, Drei zu Null, was Abrutschen auf Platz 15 bedeutet.

Und die Folge der Geschichte? Die Medien kommentieren nicht etwa das ungehobelte Auftreten von Luis André und seinem Vereinschef. Sie schreiben von Amtsmißbrauch der Polizei, von exzessivem Eingreifen, von „die Polizisten hätten beachten müssen, dass es sich um ein Sportereignis handelt.“ Wie jetzt? Im Fußball darf der Spieler Fans und Polizisten beleidigen, Leute verletzen und alles ist fein? Scheint so.

Vielleicht war es keine gute Idee, in der Macho-Welt des Fußballs ausgerechnet eine Polizistin loszuschicken, um den mehrere Köpfe größeren wütenden Spieler des Felds zu verweisen. Vielleicht war es auch gerade eine gute Idee, denn Lúcia Helena hat in der Stressituation einen weitaus kühleren Kopf behalten als der Macho. Nicht nur in der Situation selbst, sondern auch bei Star-Interviewerin Ana Maria Braga, welche Lúcia Helena Tage später aufs Glatteis locken wollte, frei nach dem Vorurteil: Polizisten sind eben nicht die Hellsten. Ätsch, reingelegt. Lúcia Helena ist durchaus helle und so gelang es ihr, alle Fangfragen so geschickt zu kontern, dass Frau Braga, anstatt sie bloßzustellen, ihr schließlich in allen Punkten Recht gab. Bravo.

Luis André sagte übrigens später auf Anraten seines Anwaltes nicht aus. Der Spieler hat sich durch schnelles Zahlen einer Strafe von 4000 Euro aus der Affäre gezogen. Trotzdem machen sich die Medien weiter über den Bundesstaat Pernambuco und dessen schlecht trainierte Polizei her. Und bestraft wird jetzt der heimische Verein und Stadionbesitzer: Das Stadion ist bis auf weiteres für Spiele gesperrt. Obwohl für die Sicherheit während des Spiels nicht der Club , sondern der örtliche Fußballverband zuständig ist.

So ist das, wenn ein emotionales Volk vom Fußballfieber gepackt wird. Und so ist das, wenn der arme nichtsnutzige, ungebildete Nordosten mit seinen „Paraibas“ Rio und den Süden herausfordert (hier herrscht eher ein Süd-Nord-Gefälle, umgekehrt zu europäischen Verhältnissen). Der Nautico liegt nämlich bislang auf dem dritten Platz im Brasileirao. Und unser Sport Club Recife wird noch heute in Sao Paulo ins Endspiel gegen den dort heimischen Corinthians gehen.

Übermüdet übrigens. Bis in die frühen Morgenstunden ließen Unbekannte Raketensalven vor dem Hotel der Nordost-Spieler explodieren. Es gilt nicht als bestätigt, dass es Corinthians-Fans waren, die den Schlaf der Gegner stören wollten. Trotzdem gehen Gerüchte, die Spieler aus Sao Paulo trauten sich nicht, vor dem Rückspiel in Recife zu übernachten – sie würden in eine benachbarte Stadt ausweichen. Da warnt der Fußballdirektor des Sport Clubs jetzt schon: Falls die Sport-Fans Raketen abfeuern wollen, werden sie dies auch in Maceió und Joao Pessoa tun! Mal sehen, was die Medien dann berichten.
 
Add to Technorati FavoritesBloglinks - Blogkatalog - BlogsuchmaschineBrasilien