Mittwoch, 31. März 2010

Gnade den Geduldigen


Letztens war ich zum ersten Mal in einer Kirche der evangelikalen Pfingstgemeinden, die hier noch im winzigsten Dorf ihre Tempel aufstellen und vor allem unter den Ärmsten ihre Schäfchen finden. Der Mensch liebt es, an etwas zu glauben. An einen Sinn im Leben, eine Hoffnung auf Verbesserungen, an eine höhere Macht, die ihm wohl gesonnen ist. Viele Brasilianer glauben an den Präsidenten Lula. Weil er mit seiner Assistenzialismus-Politik viele von ihnen direkt mit guten Gaben beschenkt und den anderen zumindest Versprechungen macht. Außerdem glauben viele daran, dass Jesus Christus wieder kommen wird, und dass schon jetzt der Heilige Geist ihr Leben in die Hand nehmen und verbessern kann. Das sind die Pfingstler, und sie werden immer mehr.

Ich muss nicht mal das Haus verlassen, um ihre Gespräche mit Gott in der Kirche in der übernächsten Gasse zu hören: wenn sich gegen Ende des Gottesdienstes das Lobpreisen und Klagen zum Crescendo steigert, wird es so ohrenbetäubend, dass ich es nur mit Mühe durch Musik übertönen kann. Das hat mich irgendwann neugierig gemacht: Was treibt diese immer adrett gekleideten Menschen, die bei 40 Grad im Schatten nach langen, schlecht bezahlten Arbeitstagen lange Fußmärsche in Kauf nehmen, um sich in diesen Tempeln die Seele aus dem Leib zu brüllen? Eine Bekannte, die ich danach fragte, erklärte mir: „Ach, es ist einfach schön, so Halleluja zu brüllen.“ Da Cilene immer gerne laut ist, auch wenn sie singt oder redet, war das keine sonderlich erleuchtende Antwort.

Deswegen bin ich letztens im Nachbardorf in einen Gottesdienst der Assembléia de Deus gegangen. In die Assembléia, weil das die Pfingst-Kirche ist, die in Brasilien am schnellsten wächst. Und im Nachbardorf, damit nicht etwa missionarisch ambitionierte Brüder und Schwestern anschließend mein Haus aufsuchen, um mich zu weiteren Besuchen einzuladen. Üblicherweise sind die Gotteshäuser der Armen so schick, dass ich mich schon oft gefragt habe, ob die Gläubigen der neuen Kirchen etwa noch mehr als den obligatorischen Zehnten von ihrem schmalen Einkommen abzweigen, um all dies Pracht zu finanzieren. Der Tempel, zu dem mich die Cousine einer Freundin führte, war erstaunlicherweise ein schlichter Bau aus Holz, ordentlich in Weiß und Blau gestrichen, mit zeitlosen blau-weißen Plastikblumen geschmückt.

An diesem Abend ist der gesamte Gottesdienst eine Art Bezahlung für die Gnade, die Gott einem seiner Schäfchen erwiesen hat. Evanildo Santos hat mit Seiner Hilfe sein Lebensziel erreicht und einen Job als Busfahrer ergattert. Das erzählt er strahlend seinen Glaubensgenossen, worauf diese zustimmend „Gloria Deus“ und „Gepriesen sei Gottes Name“ brüllen. Dann hebt der Pastor an, laut und sehr falsch zu singen, was die Gemeinde zu weiteren „Gloria Deus“ veranlasst: wichtig ist offensichtlich nur die Leidenschaft, mit der gesungen, gebetet und gepriesen wird. Ob dabei einer jeweils scharf an den richtigen Tönen vorbei singt oder in jeden preisenden Satz mehrere Grammatikfehler baut, ist Nebensache.

Die Evangelikalen scheinen sich als ein auserwähltes Volk zu fühlen. Die Anderen bezeichnet der Priester abfällig als „Indianer“ – vermutlich in der kolonialen Tradition, Indianer als dumm und gottlos zu betrachten. Diese „Indianer“ feiern nämlich Erfolge mit vielen, vielen Kisten Bier, wie der Pastor mitteilt. Während die Gläubigen (und das klingt so, als seien nur die Evangelikalen Gläubige, nicht etwa Angehörige anderer Glaubensrichtungen) ihre Erfolge mit Lobpreisungen feiern. Solch wohlfeiles Verhalten wird von Gott belohnt: „Niederlagen gehören nicht zum Leben eines Gläubigen“ versichert der Priester.

Das gefällt natürlich allen und es hebt ein heftiges „Halleluja“ an. Ohne Geschrei geht es ja nicht bei den Pfingstlern. Als ich die Cousine meiner Bekannten frage, warum der Pastor in sein Mikro schreien muss und warum überhaupt alle nur mit höchst erhobenen Stimmen jubilieren, zitiert sie Jesaja, bei dem es heißt: „Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune!“. Wie eine verstimmt Posaune in diesem Fall, aber so kleinlich bin natürlich nur ich. Später darf der Begnadete noch einmal genauer berichten, wie lange er auf die Gnade gewartet hat und durch wie viele dunkle Täler er schreiten musste, immer im Vertrauen auf das Wunderwerk, das da irgendwo in der Zukunft seiner harren musste.

So stellen sich die Evangelikalen erfolgreich als bessere Alternative zu den Katholiken dar: Bei ihnen muss der Gläubige nicht aufs Paradies warten. Nur auf die Gnade. Und die kommt noch in diesem Leben. So einer genügend daran glaubt. Und um den steinigen Weg bis zur Gnade besser auszuhalten, gibt es ja jeden Tag lautstarke Gottesdienste. Die klingen wie eine kirchliche Urschrei-Therapie und scheinen auch so ähnlich zu wirken. „Nach dem Lonpreisen“, sagt die Cousine begeistert, „habe ich jedes Mal alle meine Sorgen vergessen.“

foto: wollowski

Donnerstag, 18. März 2010

Versuch eines Massenmords


Es soll endlich ein Ende nehmen. Ich will keine tierischen Schnüffler und Schnorrer mehr im Haus beherbergen. Schluss mit den ungebetenen Gästen. Gegen Beutelratten und andere Nager habe ich bereits vor Monaten die fiese Futtermischung aus Maisstreuseln und Zementpulver ausgelegt. Keine Ahnung, ob und wie viele sich tatsächlich damit den eigenen Magen zementiert haben. Jedenfalls scheint sich meine Unerbittlichkeit bei den Viechern herumgesprochen zu haben: die Säcke mit Pferdefutter bleiben seitdem unangenagt.

Anders erging es bis vor wenigen Tagen jeglichen Lebensmitteln, die ich in meiner Küche gelagert hatte. Tomaten, Papayas oder Äpfel, die ich zum letzten Nachreifen auf dem Küchentisch liegen ließ, wiesen immer exakt an dem Morgen, an dem sie perfekt gereift und zum Verzehr geeignet waren, hässliche vielleicht daumennagelkleine Knusperstellen auf. Zu klein für Nager. Angemessen für Schmarotzer geringerer Körpergröße. Als ich mir kürzlich nachts ein Glas Wasser aus der Küche holen wollte, wimmelte da der Beweis: Kakerlaken führten einen orgiastischen Tanz auf. Auf dem Fußboden, auf dem Tisch, in der Spüle zwischen den frisch gespülten Gläsern und Tellern.

Ich spüle jetzt jedes Küchenutensil mindestens zweimal gründlich: einmal, wenn ich es nach Gebrauch säubere, um es wegzuräumen. Und ein zweites Mal, wenn ich es aus dem Schrank oder vom Regal nehme, um es zu erneut zu benutzen. Unter den Schrank legte ich eine Art Maispulverimitat aus, das die Viecher töten sollte. Und im Internet recherchierte ich nicht sonderlich ermutigende Informationen: Kakerlaken haben auf dieser Erde bereits eine deutlich längere Geschichte als Menschen. Sie passen durch millimeterkleine Öffnungen, verstecken sich in Rohren und Ritzen, leben gerne in Sickergruben mitten in den menschlichen Exkrementen, können aber notfalls auch wochenlang ohne Wasser und Nahrung auskommen. Sie verpacken ihre (vielen!) Eier in kleinfingernagelkleine schmale Kapseln, die sie überall hinkleben.

Seitdem ich das gelesen habe, finde ich ständig Kakerlakeneierpakete: Im Schrank an ein sauberes Handtuch geklebt. In eine Ritze der Mauer geklebt. Unter einen Teller geklebt. Und letztens sogar in der Packung der papiernen Teefilter an einen solchen geklebt. Kakerlaken haben zwar einen winzigen Kopf, aber trotzdem ein gut funktionierendes Gehirn – das ist irgendwie dezentral untergebracht. Als ich abends auf meiner Terrasse Dutzende von Fühlern entdeckte, die wie Sensoren durch die Luft tentakelten, begann ich mich zum ersten Mal unterlegen zu fühlen.

Vermutlich gehörten diese Fühler Spionen, die für den Rest der Mannschaft heraus fand, was ich als nächstes gegen die Viecher unternehmen wollte –um dem Gift dann eben so sicher auszuweichen, wie sie es offensichtlich mit meinem Maispulver-Imitat handhabten: Das hatte nicht viel mehr ausgerichtet als meine Katze, die täglich zwar zuerlässig rund ein halbes Dutzend Kakerklaken erledigt, aber damit nur unwesentlich zur Verringerung des Bestands beiträgt. Experten raten dazu, in Abständen von mehreren Wochen wiederholt Kammerjäger einzusetzen, um so einer Plage Herr zu werden. Manche Forenbeiträge im Internet vertreten gar die Meinung, ein von Kakerlaken heimgesuchtes Haus würde erst dann kakerlakenfrei, wenn man es komplett abfackelt.

Abfackeln geht nicht, weil das Haus nicht mir gehört. Kammerjäger geht auch nicht, weil die unfehlbar Mittel und Gifte verwenden, die auf der Basis von Pyrethroiden hergestellt sind. Über Pyrethroide, ihre Wirkungen und Nebenwirkungen, sowie über Vereinigungen von Pyrethroid-Geschädigten habe ich vor vielen Jahren als Praktikantin der taz Hamburg einen Text geschrieben. Seitdem weigere ich mich, solche in meinem Wohnumfeld einzusetzen. Meine wochenlange Recherche in Supermärkten, Futterhandlungen und Apotheken ergab: auch alle im Haushalt üblicherweise eingesetzten Insektengifte basieren auf Pyrethroiden. Egal ob Pülverchen, Lockstoffe, Futterimitate, Giftlösungen oder Sprays. Pyrethroide stehen übrigens auf einer Greenpeace-Liste von Mitteln, die möglichst weltweit und möglichst rasch durch weniger gesundheitsschädliche ersetzt werden sollten.

Letzte Woche entdeckte ich ein Kakerlakengel. Doppelt so teuer wie die Pyrethroide, wird es in Spritzen à 10 ml angeboten. Seine Wirkung beruht auf „Sulfamid“. Sulfamid steht nicht auf der schwarzen Liste von Greenpeace. Es steht allerdings auch nicht auf der grünen Liste für die unbedenklichen Mittel. Über die gesundheitsschädigende Wirkung von Sulfamiden ist ganz einfach bislang zu wenig bekannt, um das Mittel zu beurteilen. Ehrlich gesagt befürchte ich, dass um mit einem so hartnäckig agierenden Wesen wie der Kakerlake fertig zu werden, nur absolut brutale Gifte taugen: Immerhin überleben die Viecher aller Voraussicht nach sogar einen Atomkrieg. Ich habe das Sulfamid trotzdem gekauft.

Vorgestern habe ich den Massenmord eingeläutet. Habe die Küche komplett ausgeräumt. Alle Schubladen, alle Regale, alle Schränke, alle Gewürze, alles Geschirr, sämtliches Besteck. Gewaschen, desinfiziert, Regale und Flächen mit Kerosin abgerieben. Alle Geschirrhandtücher mit garantiert höchst umweltschädlichem Chlor ausgewaschen. Alles, was zu deutliche Spuren kakerlakischen Lebens aufwies: weggeworfen. Alle nicht hundertprozentig glatten Flächen mit einem Versiegelungs-Harz gestrichen. Ich war den ganzen Tag beschäftigt, hatte hinterher zwei ehemalige Pferdefuttersäcke mit Müll gefüllt, eine Dose Harz und einen halben Liter Kerosin verbraucht. Bevor ich alles wieder eingeräumt habe, kam das Sulfamid zum Einsatz. Es ist ein bräunliches Gel, das mittels der Spritze in Ritzen in Wänden und Türen gedrückt werden kann, unter den Herd und neben den Kühlschrank. Nachdem ich eine ganze Spritze aufgebraucht hatte, habe ich vorsichtshalber das Haus verlassen: 0.05 Gramm sollten laut Packungsbeilage für einen Quadratmeter reichen, und ich hatte 10 Gramm in meinen maximal sechs Quadratmetern Küche und weitere 5 Gramm im noch kleineren Bad verbraucht.

Gestern habe ich mich wieder nach Hause gewagt. Im Bad lag etwa ein Dutzend Leichen. In der Küche lagen vier. Verdächtig wenig eigentlich. Aber eine wunderbar reife Tomate, die ich auf dem Tisch liegen lassen hatte, war unversehrt. Das lässt eine verführerische Hoffnung in mir wachsen: Angeblich sind Kakerlaken ja Kannibalen und fressen ihre eigenen Toten, inklusive dem Gift, das diese im Leib haben. Vielleicht gelingt mir diesmal doch noch ein richtiger Massenmord.

Foto: gesehen auf http://www.topgyn.com.br/conso00/noticias.php?ultima=1230

Sonntag, 7. März 2010

Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf


Am Sonntag kosten die Bustickets hier im Großraum Recife nur den halben Preis, deswegen ist Sonntag Volkswandertag. Die meisten fahren an den Strand, manche vergnügen sich auch in vollklimatisierten Shopping Malls. Es gibt noch eine dritte Gruppe, die jeden Sonntag unterwegs ist. Sie besteht vor allem aus Frauen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen, die mit großen Picknicktaschen schon in aller Frühe aufbrechen: Sonntag ist Besuchstag in Pernambucos Gefängnissen.

Letztens bin ich mit gefahren. Weil mir eine Freundin so viele Geschichten erzählt hat. Von den Vier-Mann-Zellen, die mit 20 belegt sind, und den anderen, die auf den Fluren nächtigen müssen. Von den „Capos“, die Einzelzellen vermieten und anderen, die an Besuchstagen im Hof aus Bettlaken Zelte improvisieren, die ebenfalls vermietet werden. Wie einmal ein spielendes Kind ein solches Laken runtergezupft hat und dahinter ein splitterfasernacktes Paar gerade voll bei der Sache war – illegal, denn Intimbesuche sind nur mittwochs gestattet. Wie am Eingang die Besucherinnen sogar das Höschen runter lassen müssen, damit sie ja keine Drogen einschmuggeln, drinnen aber Crack-Steine offen über die Tische verschoben werden. Und dass auch nicht-verwandte Frauen besuchen dürfen.

Also bin ich am Vorabend schon in die Kreisstadt gefahren, um von dort den ersten Bus zu nehmen, bin um drei Uhr nachts aufgestanden und um halb vier mit den anderen zum Busbahnhof gewankt. Normale Busse sind sonntags um vier Uhr morgens leer. So können wir noch eine Weile dösen, bis wir in den ersten fahlen Lichtstrahlen in Recife ankommen. Am nächsten Umsteige-Busbahnhof ist dann gleich zu erkennen, wo es weiter geht: an der Haltestelle des Gefängnisbusses hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Wir drängen uns zwischen alten Mütterchen, tätowierten Minirockträgerinnen und allen nur denkbaren Varianten Frauen in den Bus, schwanken eine weitere halbe Stunde durch einsamer werdende Straßen und kommen an im Centro de Triagem Professor Everardo Luna.

Es ist sechs Uhr morgens, die Sonne deutet erst an, zu welcher Kraft sie sich in den nächsten Stunden steigern wird, und die Schlange vor dem Untersuchungsgefängnis ist bereits mehrere Hundert Personen lang. Tatsächlich sind es vier Schlangen: die längste ist unsere, in der Frauen mit Gepäck stehen. Auch ein Alupäckchen mit Essen ist Gepäck. Die anderen Schlangen sind kürzer und für Frauen ohne Gepäck, für solche mit kleinen Kindern, für über 65-Jährige sowie eine für Männer. Die warten auf gut Glück, denn selten dürfen an einem Sonntag alle wartenden Männer hinein, nach nur Verwaltungsangestelltem bekannten Regeln wird jeweils für den aktuellen Sonntag eine Höchstzahl festgelegt, die am nächsten Sonntag schon nicht mehr bindend ist. Auch sonst gibt es allerlei Regeln. Männer dürfen kein Schwarz tragen, Frauen weder kurze Röcke und Shorts, noch zu tief ausgeschnittene oder rückenfreie Oberteile. „Lächerlich“, sagt eine, „kaum sind sie drinnen, duschen die meisten und laufen dann in den Boxershorts ihres Mannes rum“. Für alle Fälle gibt es an mehreren Ständen, die neben der Warteschlange aufgebaut sind, dezente Hosen, Röcke, Blusen oder Jäckchen zu kaufen und zu mieten.

Überhaupt ist hier einiges geboten. Da weder Handys, noch Fotoapparate mit hineingenommen werden dürfen, ist eine Gepäckaufbewahrung organisiert, die umgerechnet 40 Cent kostet, komplett auf Vertrauen beruht und hervorragend funktioniert: die Habseligkeiten werden erst in eine Plastiktüte und dann in eine leere Kühlbox gestopft, bis die Besitzerin wieder nach Hause will. Da die Sonne schon um sieben empfindlich brennt, und sich in der Folge nur noch weiter steigert, sind auch Schirmmützen, Sonnenmilch und Sonnenschirme im Angebot. Und natürlich Snacks vom Wurstbrot bis zur frittierten Pastete, Zuckerrohrsaft, Kokoswasser oder Bier für die härteren Kandidatinnen. Auf die sicher hoch lukrative Idee, Klapphocker zu vermieten, ist noch niemand gekommen. Also hocken sich die Wartenden auf Ziegelsteine von einer nahen Baustelle, auf Kartonfetzen von einem nahen Müllhaufen, auf leere Plastiktüten oder Stücke Stoff, lehnen die Rücken aneinander und nehmen die Sonne ergeben hin.

Aus einem Kombi dröhnt Musik der Evangelikalen und kündet davon, dass es auch heute Wunder gebe, wenn man nur daran glaubt. Vielleicht gilt es schon als Wunder, dass wir es um elf bis in den Vorhof des Centro geschafft haben. Der ist von weißen Mauern umgeben, die das Licht unbarmherzig bündeln und jeden Luftzug zuverlässig abhalten. So muss sich ein Hühnchen auf dem Grill fühlen. Hätte mir doch eine Schirmmütze kaufen sollen, aber wer jetzt wieder hinaus geht, muss sich anschließend ganz hinten an der Schlange wieder anstellen. So wie eine leichtgeschürzte Blondierte, die sich wohl jetzt schnell noch ein Jäckchen besorgt. Gelegentlich gibt es ein paar Zentimeter Schatten, aus dem man am liebsten nie mehr heraus treten will. Wir kaufen Mineralwasser, um es auf unsere kochenden Häupter zu tröpfeln. Vorher haben die Frauen noch erzählt, von dem Mörder, der sich frech vor die Leiche des soeben von ihm ermordeten Kindes setzt, bis die Polizei kommt und zynisch kommentiert: „Unmenschlich so etwas“. Alle Anwohner wissen Bescheid, alle schweigen, denn „lieber feige leben als ehrenhaft sterben“. Von dem ungerecht eingesperrten Ehemann. Oder davon, dass sie zum ersten Mal hier sind und noch nie mit der Polizei zu tun hatten. Jetzt spricht keine mehr. Es ist sogar für Worte zu heiß.

In kleinen Grüppchen werden die ersten ins Gebäude eingelassen. Dort werden die Taschen und Plastiktüten durchleuchtet, die Frauen müssen sich ausziehen, das Höschen herunter lassen und dann dürfen sie hinein, zur Sonntagsfrische mit dem Liebsten, Bruder oder Sohn. Manche beziehen erst mal Prügel vom Ehemann, weil sie sich nicht benommen haben, wie es ihm gefällt. Manche haben draußen ihre Spitzel. Manche leiten von drinnen einen lukrativen Drogenhandel und wollen gar nicht mehr raus. Jetzt lässt der Wachmann an der Tür einen Riesenschwung auf einmal hinein. Bis zwölf Uhr werden Besucherinnen eingelassen, dann ist Mittagspause bis halb zwei. Wenn es in diesem Tempo weiter geht, könnten wir es gerade so eben schaffen. Da knallt der Wachmann die schwere Glastür zu und legt das Gitter vor. Um 11 Uhr 45. Für uns bedeutet das: eineinhalb zusätzliche Stunden hier im Hof, auf dem Hühnergrill.

Schade, dass ich meine Kamera draußen zur Aufbewahrung lassen musste. Das wäre jetzt das Bild: Manche Frauen haben sich das Oberteil ausgezogen und stehen im BH in der prallen Sonne, eine Übergewichtige stopft sich gerade gierig das Huhn in den Schlund, das sie vermutlich eigentlich dem Inhaftierten mitbringen wollte. Auf den wenigen Zentimetern Schatten direkt an der Mauer drängen sich so viele Menschen, wie man es nicht für möglich halten sollte. Wer nicht schnell genug in den Schatten gestürmt ist, steht in der Sonne, ergeben wie ein Schaf vor der Schlachtbank. Bekommt hier nie jemand einen Sonnenstich? Und wenn, interessiert das jemanden?

Ein Mann verkauft Zweiliterflaschen mit selbstgepresstem Fruchtsaft. Als wir den ersten Plastikbecher an die Lippen setzen, bemerken wir ein leichtes Fäulnisaroma. Beim dritten Becher haben wir uns daran gewöhnt. In der Mitte des Hofes geht zuweilen so etwas wie ein winziger Hauch. Den Kopf auf den Arm zu stützen bringt ein winziges bisschen Schatten. Um halb zwei bleibt die Tür geschlossen. Sie öffnet sich erst um zwei. Um halb drei bin ich dran. Und werde abgewiesen: mein Ausweis entspreche nicht der Norm. Ich könne ja mein Glück beim Oberaufseher versuchen, wenn der es gestattet, dann ja. Der Oberaufseher sieht mich nicht einmal an. Also wanke ich zurück zur Bushaltestelle. Inzwischen sind alle Busse rappelvoll, weil all die Billigticketnutzer von den Stränden und aus den Einkaufszentren wieder nach Hause fahren. Abends um sechs stehe ich im letzten Bus nach Hause. Manche Frauen machen diese Sonntagsausflüge jede Woche. Jahre lang. Auf dem Hof hatte eine Frau eine Tätowierung quer über den Rücken die besagte: Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf.

foto: wollowski

Dienstag, 2. März 2010

Intimitäten auf der Wartebank


In den Wartezimmern deutscher Frauenärzte habe ich noch nie mit jemandem ein Gespräch geführt. Das ergibt sich einfach nicht. Jede blättert in irgendeiner dieser Zeitschriften, die frau immer nur beim Arzt liest, bestenfalls wird beim Betreten des Raums gegrüßt, damit hat sich die Kontaktfreude erledigt.

Gestern war ich hier bei der Frauenärztin im kostenlosen öffentlichen Gesundheitssystem. Den Termin hatte ich erstaunlich leicht bekommen, ein Anruf unserer dörflichen Gesundheitsagentin hatte genügt, und ich habe nur zwei Wochen warten müssen. Dafür ist der Termin morgens um sieben in der Kreisstadt, 45 Busminuten von mir entfernt. Um halb sieben rühren dort nur ein paar Garnelenverkäufer in ihrer Ware, die in riesigen Styropor-Kisten auf Interessierte wartet, ein paar Übergewichtige mit schlechtem Gewissen drehen in Turnschuhen und Leggins ihre Runden durch die Innenstadt. Und ich weiß nicht so genau, wo ich hin muss.

Da vorne rechts und dann wieder abbiegen, erklärt mir eine Frau, die ein Kind hinter sich her zerrt. Folgsam biege ich in eine Straße ein, die eher in eine Favela zu führen scheint, als zu einer Gesundheitsstation. Bevor ich mich in den Gassen verliere, frage ich eine weitere Frau, die ein Kind vor sich her schiebt. „Zum Gesundheitsposten?“, fragt die, „da muss ich auch hin, geh einfach mit mir“. Und läuft vor mir her bis zu einem Fertigbau-Bungalow, der in seinem vorigen Leben recht schmuck ausgesehen haben muss. Davor warten ein halbes Dutzend Patientinnen aller Altersklassen. Da bei diesen kostenlosen Terminen alle Patienten zur gleichen Uhrzeit bestellt werden, müssen sie sich selbst merken, in welcher Reihenfolge sie eingetroffen sind und also später behandelt werden. Ich werde nach einer fröhlichen jungen Frau im Ringelshirt an der Reihe sein.

Während die Sonnenstrahlen allmählich unangenehm auf jedem entblößten Quadratzentimeter Haut brennen, reden wir über Sozialsiedlungen, die seit einigen Jahren rund um das Stadtzentrum irgendwo in die Pampa gesetzt werden. Planquadrate von ein paar Hektar, auf denen einige Dutzend Schuhschachtelheime mit exakt gleichem Grundriss dicht nebeneinander gesetzt werden. Dann werden die neuen Heime im neuen „Viertel“ unter Bedürftigen verteilt. „Ich wollte da nicht hin“, sagt eine ältere Dame im knallroten Leibchen, aus dem reichlich zu verbrennende Haut herausschaut. „Ich habe mir lieber hier ein Haus gekauft, bevor sie mich beschenken konnten, Gott sei mir gnädig!“ Ihr selbst erworbenes Eigenheim, so erfahren wir, hat sie knapp 1200 Euro gekostet. So günstig wohnt es sich nur in – bei Regenfällen durch Abrutsch bedrohten – Hanglagen, aber das erwähnt sie nicht, sondern betont stattdessen: „Sozialwohnungen können mir gestohlen bleiben, da ist man doch seines Lebens nicht sicher, in diesen Verbrecherbunkern!“ „Wo ich wohne, ist es wunderbar!“, hält eine magere junge Frau im Blümchenkleid dagegen: „alle Anwohner haben sich zusammengetan und wir bezahlen drei Sicherheitsmänner – wir lassen sogar unsere Wäsche auf der Leine hängen, wenn wir aus dem Haus gehen, kein Problem!“

Als eine halbe Stunde nach unserem kollektiven Pauschal-Termin endlich eine Mitarbeiterin die Gesundheitsstation aufschließt und wir in der Intimität des Warteraums auf kühlen Betonbänken Platz nehmen können, wendet sich das Gesprächsthema. Die fröhliche Ringelshirt-Trägerin erzählt von einem Mann aus ihrem Viertel, der „ungelogen!“ ausgestattet sei wie ein Hengst, „der findet keine Frau, ist mit über 40 immer noch Single, nur manchmal zeigt er sein Organ Passantinnen – und die rennen schreiend weg, so groß ist das!“

In der nächsten Stunde lernen wir außerdem ihre Mutter kennen, die heute noch eine Krise bekommt, wenn die verheiratete Tochter einen Tagesausflug macht, ohne vorher Bescheid zu sagen, oder die den Schwiegersohn in Schutz nimmt, wenn der mal wieder reichlich über den Durst getrunken hat und nachts nicht nach Hause kommt. „Mein Mann liebt seinen Zuckerrohrschnaps“, betont die Geringelte, °aber er hat deswegen noch nie auf der Arbeit gefehlt“ – als mache das die allwochenendlichen Schnapsorgien des Ehemanns irgendwie wieder wett. Und mit einer anderen gesehen habe sie ihn auch noch nicht.

Als sie gerade anhebt, zu erzählen, wie sie sich einmal trotzdem beinahe von ihrem Angetrauten getrennt hätte, bin ich dran. Eigentlich hätte ich gerne noch ein Weilchen länger zugehört. Aber vielleicht gibt es ja ein nächstes Mal.

Foto: Robson Ventura /Folha Imagem
 
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