Mittwoch, 30. Mai 2007

Mozzarella-Orgien und die Sehnsucht nach dem Mangoshake

Die Hunde wissen es schon. Schleichen deprimiert durch die Gegend, sind anschmiegsam wie sonst nie und verfolgen jede meiner Bewegungen mißtrauisch. Das ist jedes Jahr das Gleiche. Sie glauben, ich werde sie verlassen, aussetzen, aus ihrem Leben verschwinden. Dabei fahre ich nur nach Deutschland. Was ich dort mache? Wie die Klischee-Tante staunen, weil die Neffen und Nichten schon wieder so gewachsen sind. Ein bißchen erschrecken, weil jedes Jahr auch die Eltern älter werden. Mich wundern, wie wenig wir Deutschen auf der Strasse, an der Bushaltestelle und in Supermärkten miteinander reden. Mich satt essen an allem, was mir den Rest des Jahres gelegentlich fehlt, wie echter Mozzarella, Spargel, Quark und Brot, das nicht an Schaumstoff erinnert. Die Runde machen in bekannten und unbekannten Redaktionen mit meinem Spezialitätenangebot: Texte und Fotos aus Brasilien.

Das ist jedes Jahr schön. Und weil ich im deutschen Frühjahr ankomme, friere ich auch nur am Anfang ein bißchen. Aber ich weiß jetzt schon, nach spätestens einem Monat hilft alles schwelgen in Mozzarella-Orgien nichts mehr. Dann habe ich alle Freunde und die halbe Familie getroffen, mal wieder gemerkt, dass das deutsche TV-Programm auch nicht besser ist als das hiesige, und mir von diversen Redakteuren erklären lassen, wie wenig Platz sie für exotische Themen haben. Dann fehlen mir die Spaziergänge am Strand, wenn ich beim Schreiben ins Stocken komme. Dann sehne ich mich nach meinem morgendlichen Mangoshake. Dann will ich auf dem Weg zum Supermarkt wieder mindestens ein Dutzend Menschen grüßen und dabei den neuesten Klatsch erfahren. Dann fehlt mir sogar die abendliche Telenovela, über die ich doch nur lästere, wenn ich sie hier sehe.

Dieses Mal wird mir auf der Reise wohl außerdem das Posten fehlen. Neun Monate gibt es den Blog „Ordem e Progresso“ jetzt. Nicht zu privat sollten die Posts werden, dafür eine Mischung aus Alltag, Alltagskultur und Politik beschreiben – nicht journalistisch ausrecherchiert und ausgewogen, sondern durchaus parteiisch, ironisierend, kommentierend. Manche haben das vor allem bei politischen Themen in den falschen Hals bekommen und mir in ihren Kommentaren vorgeworfen, ich könne das Land, das mich beherbergt, nicht ausstehen. Andere finden sich - vor allem bei den Alltagsgeschichten - in ihren eigenen Erfahrungen bestätigt. Egal ob Lob oder Kritik: Alle Leserposts in deutscher Sprache werden veröffentlicht, wenn sie sich nicht zu sehr wiederholen. Und es dürfen gerne mehr werden!

In den nächsten Wochen kann ich nicht aus Brasiliens Alltag berichten, weil ich in Deutschland sein werde. Anregungen und Kommentare aber kann ich lesen. Und mich darauf einstellen: Wovon sollte es gerne mehr geben, was will keiner so genau wissen, was fehlt womöglich ganz?


Voraussichtlich Mitte August melde ich mich nach meiner deutschen Sommerpause zurück. Mit Geschichten aus Alltag, Politik und allem, was sonst noch in „Ordem e Progresso“ hinein gehört. Dann wird hier langsam der Regen nachlassen, die Sonne wieder stärker brennen, die nächste Mangoernte nahen. Und die Hunde werden wie immer schon Tage vorher wissen, dass ich bald wieder da bin

Dienstag, 22. Mai 2007

Bigode der Buchhändler

Normalerweise freut sich ja keiner, wenn er hört, dass ein erwachsener Mensch Analphabet ist. Letztens ging mir das anders, wofür ich mich schäme, denn die leise Freude war von Profitgier bestimmt. Die Reportage über „Bigode“ lief beim Sender Bandeirantes, der gerne mal Randthemen aufgreift. Es ging um Verkäufer von gebrauchten Büchern im Allgemeinen und über besagten Bigode im Besonderen.

In Recife gibt es eine Menge Gebrauchtbuchhändler. Manche breiten ihre Ware auf dem Gehsteig aus, andere haben schmucke kleine Stände mit maßgefertigten Regalen. Manche verkaufen und tauschen nur Liebes- und Heftchenromane, andere sind auf Schulbücher spezialisiert, wieder andere führen nur religiösen Lesestoff. Bigode ist anders als alle von ihnen. Bigode verkauft Romane und Schulbücher und wissenschaftliche Werke und alles, was zwischen zwei Buchdeckeln Platz hat.

Er kann sich nicht spezialisieren wie seine Kollegen weil Bigode weder lesen noch schreiben kann. Er sortiert die Bände nach Farben, Formen, Dicke und Umschlagsgestaltung. Nach seinen ganz privaten optischen Kriterien bestimmt er auch die Preise. Das ist doch fantastisch. Wenn da etwa ein Original Jorge Amado aus den 1930er Jahren liegt, womöglich noch vom Autor signiert, der aber wegen seines Alters schäbig aussieht, ist der bei Bigode vermutlich total billig. Ich gestehe, dies waren meine ersten Gedanken.

Direkt danach war mir dieser Materialismus etwas peinlich. Noch peinlicher wurde er, als ich etwa eine Woche später – wieder bei Bandeirantes – eine weitere Reportage sah. Wieder kam Bigode vor. Nur war er jetzt nicht mehr allein: Eine blinde Lehrerin hatte die erste Reportage über den leseunkundigen Buchhändler verfolgt und beschlossen, dessen Leben zu ändern. Sie hatte seit ihrer Erblindung ein spezielles Alfabetisierungsverfahren für Erwachsene entwickelt. Dabei lernen die Lesewilligen, Buchstaben mittels Formen zu begreifen – praktisch, weil auch die blinde Lehrerin erfühlen kann, was gerade dran ist. Außerdem funktioniert ihre Methode besonders gut, weil sich vor einer blinden Lehrerin auch erwachsene Analfabeten nicht schämen, wenn sie lange suchen müssen, bevor sie ein Wort zusammen gesetzt haben.

Jetzt unterrichtet also die Blinde den Buchhändler. Kostenlos. Er macht gute Fortschritte, scheint es. Das ist doch toll, dass nicht jeder nur an Profit denkt. Und dass endlich mal was Positives in den Nachrichten kommt. Die Chancen auf spezielle Schnäppchen müssen deswegen nicht mal rapide sinken. Denn auch wer lesen kann, weiß ja noch nicht zwangsläufig, wer mehr wert ist: Sydney Sheldon oder José Saramago. Das war mein zweiter Gedanke. Ich schwöre. Zuerst habe ich mich für Bigode gefreut, ganz ehrlich.

Donnerstag, 17. Mai 2007

Bühne frei für den Notfall

Der Durchschnittspromillesatz der Wartenden im Eingangsbereich liegt vermutlich höher als der mancher Party. Und es ist auch sicher mehr los, trotz der Neonröhren, in deren Schein alle irgendwie ungesund aussehen. Sie sehen nicht nur ungesund aus, sie sind es auch. Sonst wären sie wohl am Samstagabend nicht hier auf der Krankenstation in der Warteschlange gelandet.

In Brasilien gibt es ein kostenloses Gesundheitssystem für alle. Ohne Vorbedingungen wird jeder behandelt, der das nötig hat – und nötig haben heißt in diesem Fall: verletzt oder krank sein. Einkommensnachweise werden ebenso wenig verlangt wie Wohnsitzbescheinigungen oder sonstige Dokumente, nicht mal von Ausländern. An der Rezeption der Gesundheitsstation nennt jeder seinen Namen und Wohnort und schon darf er sich unter die Wartenden einreihen.*

Vor mir in der Schlange hier im kaltweißen Gang: eine rundliche rotblonde Mittvierzigerin, die ziemlich sympathisch und ebenso putzmunter aussieht – mit Apfelbäckchen trotz Neonbleichmachers. Ein besenstildürrer junger Mann mit durchscheinenden Segelohren, der wirkt, als bekäme er vor Angst gleich einen Herzinfarkt. Eine junge Mutter, die ein vermutlich erst Monate altes Baby an die Brust drückt und ständig auf und abläuft. Ein Gruppe still dasitzender Menschen mit gesenktem Blick, als seien sie direkt aus der Kirche hergekommen, die dabei riechen, als habe auf dem Weg mehr als eine Kneipe gelegen. Und ein paar kräftige Jungs, die nach diversen Schnäpsen kein T-Shirt mehr zum Wärmen brauchen. Alles in allem sieht das nach ordentlich Wartezeit aus. Aber dafür wird auch was geboten.

Die Dame, die hier in der Krankenstation den Sisyphos macht, also ständig mit dem Feudel gegen hereinwehenden Staub und Viren und Bazillen anwischt, läuft mit einem Gesicht rum, als trage sie allein mindestens das komplette Leiden Christi. Schuld an ihrem Unglück sind offensichtlich wir: bei jeder Drehung in der Ecke an der Tür streift Sisyphone die Wartenden mit einem Hass, der beinahe weh tut. Doch sogar der verliert für einen Moment seine Intensität, als eine lautstark heulende Frau im Rollstuhl hereingeschoben wird. Es ist nicht erkennbar, ob sie verletzt ist, eine Art Anfall hat oder was sonst ihr Problem ist, allein der Lärmpegel legt nahe: es ist ernst. Das erkennt auch die Oberschwester – obwohl ein echter Klischee-Feldwebel in Weiß mit Brille am Goldkettchen und ständig gezücktem Notizblock. Diskret nimmt sie die putzmuntere Rotblonde (die erste in der Schlange) zur Seite und fragt: „Meine liebe Dame, es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich diese Patientin vorziehe?“ Die Rotblonde nickt gnädig. „Ich verlange nur ein: nenne Sie mich nicht Dame, sondern Fräulein“, sagt sie dann streng.

Der brüllende Rollstuhl verschwindet im Behandlungszimmer. Drinnen ebbt das Heulen abrupt ab, aber das bemerkt kaum jemand, weil soeben ein kräftiger Mann in Badehose den Gang betreten hat, der seinen Zeigefinger seltsam unnatürlich hochhält. Er lächelt verlegen und sagt: „Ich wollte nur sicher gehen, ob er nicht gebrochen ist.“ Nur allmählich und mit vereinten Kräften entlocken wir dem Neuling seine Geschichte. Er war im Dunkeln auf den Felsklippen angeln, ist dabei ausgerutscht und mit seinem ganzen Gewicht auf den Finger gefallen. Danach stand der in die falsche Richtung ab. „Ich habe den gepackt und einfach wieder gerade gebogen“, erzählt der Fischer, als sei ihm das peinlich, „ging eigentlich prima, aber ich bin eben nicht sicher, ob er nicht doch gebrochen ist.“ Keine Diskussionen. Die Feldwebelin nimmt den Mann an der heilen Hand und zieht ihn in die hinteren Räume der Krankenstation zur sofortigen Kontrolle.

Derweil betritt die Szene eine schwer atmende junge Frau in bauchfreiem Top und Jeans. „Wo ist die Oberschwester?“, ächzt sie. Und erklärt der Herbeieilenden hechelnd: „Ich bekommen keine Luft mehr, ich habe so entsetzliche Atemnot“. Mit einem Seitenblick auf die Rotblonde fragt Frau Feldwebel: „Sie haben doch nichts dagegen?“ „Frollein“, beendet, die Rotblonde den Satz militärisch – und nickt gnädig. Da rollt die eben noch brüllende Notfallpatientin glücklich strahlend an uns vorbei und erklärt ihre Wunderheilung wie folgt: „Ich war eben nur so furchtbar wütend, weil ich doch mittags schon mal hier war und blöderweise das Rezept verloren hatte.“ Irgendwie schaffen es die Brasilianer, sogar eine Krankenstation in eine Bühne zu verwandeln.

„Alles Simulanten“, kommentiert das Frollein, und lächelt dabei. „Ich habe übrigens auch Atemnot wie die Göre, die sich eben vorgedrängelt hat, aber das muß ich ja nicht jedem auf die Nase binden. Wenn Gott will, komme ich auch so als nächste dran.“ Tatsächlich kommt ein winziges Baby mit fast 40 Fieber, gemessen hier vor unser aller Augen, und natürlich sind wir alle einverstanden, daß das Baby zuerst dran kommt. Sogar Sisyphone läßt kurz den Feudel ruhen und legt ihren bösen Blick ab. Allmählich wird es richtig gemütlich hier. Besser als auf mancher Party.

* So ist das bei akuten Fällen – Prophylaxe und längerfristige Behandlungen verdienen gelegentlich einen eigenen Post

Samstag, 12. Mai 2007

Blöd gelaufen für den König

Für eine gewisse Kontrollsucht ist er bekannt. Täglich werden die Telefone in seinem Haus geputzt, jahrelang hat er die Farbe Braun nicht ertragen, und zu seiner Obsessiv-Kompulsiven Störung (OKS) steht er sogar öffentlich. Aber so weit ist er noch nie gegangen. Er hat es noch nicht einmal für nötig gehalten, einen öffentlichen Kommentar abzugeben. Zur Bücherverbrennung. Der potentiellen, muß man fairerweise hinzufügen. Denn noch ist es nicht sicher, ob die 10.700 Bücher tatsächlich verbrannt werden, oder vielleicht doch nur in 2,5 Tonnen Altpapier recycelt. 670 Kisten stehen schon im Privat-Depot des „Rei“ in Santo André, letzte Exemplare werden noch aus den Buchläden zurückgerufen. Auf der Bestsellerliste der aktuellen Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Veja“ rangiert das Werk noch auf Platz 5 – weitere Käufer wird es nicht geben.

Der Mann ist mächtig. Nicht umsonst nennt man Roberto Carlos, den erfolgreichsten Herzschmerz-Sänger Brasiliens, den „Rei“, den König. Der Mann mit den schütteren Haarsträhnen und dem Schmelz in der Stimme singt sich seit 45 Jahren in die Herzen der Brasilianer. Mehr als 75 Millionen Platten hat er in dieser Karriere verkauft, damit ist er bis heute die Nummer eins im Land und finanziell so unabhängig, wie man nur sein kann.

Wie die meisten Berühmtheiten sucht auch der Rei mit gezielt gepflegten Marotten ein schmeichelhaftes Licht auf sich selbst zu werfen. So gibt er sich gerne religiös – schon seit den 1970er Jahren, aber vor allem seit dem Tod seiner Ehefrau Maria Rita – der er nach ihrem Ableben ein ganzes Album und unzählige Texte gewidmet hat. Zu ihren Lebzeiten soll er es, wie die meisten Berühmtheiten, mit der ehelichen Treue nicht so genau genommen haben. Als das ein ehemaliger Angestellter den Fans unter dem Titel „Der König und ich“ verkünden wollte, wurde der Rei richtig wütend. Kann man ja irgendwie verstehen. Wer mag es schon, wenn ihm nachgesagt wird, bei Frauen sei er so gar nicht wählerisch, was grad komme, sei recht, wenn er spitz sei...

Diesmal liegt der Fall anders. Der Historiker – und Carlos-Fan – Paulo Cesar Araujo hat keinen Enthüllungsroman sondern eine Biographie geschrieben. Über einen Mann, der seit 45 Jahren im Rampenlicht steht. Über den bekannt ist, daß er als Kind einen Teil seines rechten Beins verlor und seitdem eine Prothese trägt – auch wenn er das nicht dauernd betont. Nicht nur Fans wissen, daß Carlos gelegentlich ein Kind im Krankenhaus besucht, wenn er davon hört, daß eines einen ähnlichen Unfall erlitten hat wie er damals, um dem KInd Mut zu machen – auch wenn der Star damit nicht prahlt. Über die Obsessiv-Kompulsive Störung, die mit Zwangshandlungen und wiederkehrenden Angstvorstellungen einhergeht, hat Carlos selbst ausführlich in der Presse gesprochen.

Gibt es noch Geheimnisse über Roberto Carlos? Aus Araujos Buch erfährt man sie jedenfalls nicht.

Warum also? Warum verhandelt der Superstar fünf Stunden lang mit dem Verlag, der die Biographie veröffentlicht hat, über moralische und materielle Schäden, die ihm das Werk beigebracht haben soll? Was meint sein Anwalt, wenn er sich auf Ehrverletzung beruft?

Konkret stört sich der Rei an drei Punkten des 504 Seiten-Schmökers.

1. Araujo erzählt von dem Zugunglück, das den Sänger Teile des Beins gekostet hat
2. Araujo erzählt von Carlos’ Sexualleben
3. Der Autor beschreibt die Todesstunde der krebskranken Ehefrau des Stars

Nichts davon ist ein Geheimnis. Carlos selbst hat zu all diesen Stichpunkten schon öffentlich gesprochen.

Und jetzt das. Ergebnis der zähen Verhandlungen beim Gerichtstermin zur gütlichen Einigung: Druckstopp. Auslieferungsstopp. Alle bereits gedruckten Bücher werden an Robeto Carlos ausgehändigt, der damit tut, was immer ihm beliebt.

Ein Detail ist dem Rei dabei entgangen: Die elektronische Version des Werks ist im Internet zu finden: als pdf-Datei zum Runterladen. Ungenehmigt. Unkontrolliert. Umsonst. Und sogar in mehreren Versionen.

Da hätte der König gar nicht so lange verhandeln müssen. Blöd gelaufen.

Dienstag, 8. Mai 2007

Ein ganz normaler Sonntag

Patrícia ist arbeitslos. Seit einer Woche. Eigentlich ist sie sogar irgendwie froh darüber, weil die kleinen Dauer-Sticheleien der Chefin ihren ohnehin hohen Blutdruck so gnadenlos weiter in die Höhe getrieben haben, daß sie mehr als einmal direkt von der Arbeit zur Notaufnahme ins Krankenhaus musste, weil ihr schwarz vor Augen wurde. „Bevor ich einen Herzanfall bekomme, ist es immer noch besser, arbeitslos zu sein“, sagt Patrícia.

Und weil heute außerdem der erste Sonntag seit zwei Jahren ist, an dem sie nicht hinter der Supermarktkasse steht (elf Stunden täglich an fünf Tagen pro Woche; am sechsten, dem Sonntag nur sieben Stunden, ohne Überstunden oder Feiertagszuschlag und das für einen Mindestlohn = umgerechnet 125 Euro), hat sie ein paar Freunde eingeladen: Eriane, ihre Supermarktskollegin, Beto ihren Cousin und neuerdings Ficante (vielleicht übersetzbar als Affäre) von Eriane, ihr drei Monate altes Patenkind Silene, deren Eltern Tito und Alcione und mich.

Patrícia hat es in zwei Jahren in einem mir unbegreiflichen Jonglierspiel mit allerlei Ratenzahlungen geschafft, sich im Garten ihrer Mutter ein eigenes Haus zu bauen. Das mag zwar außen nicht verputzt sein, innen ist es sogar gekachelt. Es hat ein Schlaf- und ein Wohnzimmer, Küche und Bad und all die Accessoires, die es hier so braucht, vom Salzkistchen, das überm Herd an der Wand hängt, bis zu den Plastikblumen auf dem obligaten TV-Regal.

Wir sitzen im Hof zwischen dem Safran- und dem Graviolabaum vor der unverputzten Mauer im Schatten, alle reden und trinken und hören dazu Forró und Brega und Samba, wild durcheinander. Es gibt reichlich Bier, keinen Cachaca und unendliche Appetithäppchen: gegrillte Hühnerflügel und gegrillte Würste und Wachteleier und selbstgeschnitzte Pommes.

Beto und Eriane sind weitgehend miteinander beschäftigt, wie das bei frisch Verbandelten so üblich ist. Und weil Beto achtzehn ist und damit kaum älter als Erianes zwölfjähriger Sohn, witzeln alle anderen ein bißchen mehr als sonst über das Geturtel der beiden. „Wer über mich lästern will, soll ruhig lästern, ist mir ganz egal – ich nehme jedenfalls niemandem den Ehemann weg“, sagt Eriane dazu und versinkt im nächsten Kuß.

Vielleicht davon inspiriert erzählt mir Alcione in einer Babyfütterpause in der Küche von der Gebliebten ihres Kindsvaters, die sie dauernd auf dem Handy anruft und sagt: „Ich werde auf Tito niemals verzichten!“ Ob es stimmt, daß er seit sechs Monaten auch mit dieser Frau zusammen ist? Oder lügt die andere, weil sie ihn gerne erobern würde? Soll Alcione Tito verlassen? Ein Ultimatum stellen? Einfach schweigen? „Was würdest du tun“, fragt Alcione, „würdest du bei ihm bleiben?“.

Schwere Frage. Derweil erzählt Tito im Garten von Descartes und Seneca und seinem beinahe abgeschlossenen Philosophiestudium und seinem beinahe abgeschlossenen Jurastudium und versucht recht eindeutig, damit die soeben eingetroffene ziemlich hübsche Psychologiestudentin Fabrícia zu beeindrucken.

„Du mußt da kein Mitleid haben“, sagt Patrícia später zu mir, „Alcione kann gar keine Ansprüche stellen: als sie Tito kennengelernt hat, war der noch verheiratet...“
Irgendwann liegen Beto und Eriane im Wohnzimmer auf dem Sofa, die kleine Patentochter im Schlafzimmer im Bett, von irgendwoher sind noch ein halbes Dutzend uneingeladene und sehr willkommene Gäste eingetroffen, und Patrícias Mutter erklärt Tito, Männer könnten ohne Frauen nicht überleben, Frauen ohne Männer aber sehr wohl. Tito nennt sie daraufhin nur noch „Bleichgesicht“, weil er nämlich Indio sei, jawoll, mit echter Geburtsurkunde von der Indianerbehörde Funai. Was das mit der Frauenfrage zu tun hat, erklärt er nicht.

Alcione würde eigentlich ganz gerne nach Hause gehen mit der Mini-Tochter, aber das geht nicht. Tito muß ja noch Patrícia erklären, wie ihre arbeitsrechtliche Situation aussieht. Und mir, daß es einen irre schönen Sitio zu verkaufen gibt, ganz bei mir in der Nähe. Und Patrícias Mutter, daß er unbedingt noch ein Bier braucht. An diesem Punkt stimmen dann alle anderen zu, und Alcione kann immer noch nicht gehen
Irgendwann ist es dunkel, alle sind ein bißchen betrunken, aber nicht sehr, Alcione schafft es tatsächlich, ihren Mann einzupacken und ist sich nicht mehr sicher, ob sie weiterhin am Wochenende mit ihrer Mutter zur freikirchlichen Sekte gehen will oder doch lieber mit Tito tanzen. Ich weiss die Wegbeschreibung zu dem tollen Sitio, Beto und Eriane haben sich für heute sattgeknutscht, und Patrícias Mutter hat sogar ein bißchen Geld verdient, weil wir das Bier von ihr gekauft haben.

Und Patrícia hat ganz nebenbei so viele Tipps bekommen, wo neue Supermärkte aufmachen, welche großen Firmen gerade Leute einstellen und wie sie sich am besten bewerben muß, daß sie womöglich nicht mehr lange arbeitslos ist.

Ein ganz normaler Sonntag eben.

Donnerstag, 3. Mai 2007

Lass dein Haar zu Hause

Die neusten Gefahren in brasilianischen Metropolen finden sich zuerst im Vermischten. Da gibt es ständig etwas zu lernen. Etwa: Frisöre, schneidet keine kriminellen Haare, oder: Mädel, lass dein Haar zu Hause.

Es gibt ja hierzulande – auch in ärmeren Stadtvierteln – noch den ehrbaren Beruf des Barbiers. Vertrauenspersonen, denen die Kunden ihren nackten Hals ebenso wie ihren Skalp ausliefern. So einer war Clarismundo. Freundlich, zuverlässig, gutmütig. Abgebrannte Stammkunden schor er schon mal umsonst wochenendfein. Das kam bei Carlos Eduardo öfter vor. Und auch als Carlos Eduardo mit dem neuen Haarschnitt diesmal nicht recht zufrieden war, wurde Clarismundo nicht ungeduldig: „Wart einen Moment, dann bessere ich nach“, bat er freundlich. Statt dessen verließ Carlos Eduardo den Salon, angeblich um Wechselgeld zu holen. Als er wieder kam, schoß er den Friseur nieder und floh. Clarismundo starb wenige Stunden später. Er hatte Carlos Eduardo die Haare geschnitten, seit der ein Kind war. Die Polizei vermerkt: Der weiterhin flüchtige Carlos Eduardo war schon mehrfach erkennungsdienstlich auffällig geworden, in den meisten Fällen wegen Bedrohung und Drogenkonsum.

Zum Schock darüber, wie der kleine Drogenkonsument Carlos Eduardo mal eben das Verbrechen Mord banalisiert, kommt ein weiterer: Die Familie des Frisörs plant, aus dem Viertel wegzuziehen. Nicht, weil sie traumatisiert ist. Sie fürchtet „Repressalien“ von seiten der Angehörigen des Mörders. Will sagen: Sie nimmt an, daß diese Clarismundo und die Schuld dafür geben werden, daß Carlos Eduardo ihn umgebracht hat.

So gesehen ist womöglich auch Mirna selbst schuld. Immerhin wurde sie nicht umgebracht. Sie wurde nur in einem Linienbus in Rio überfallen. Soweit, so normal: Drei Diebe, einer davon bewaffnet, nahmen der Verkäuferin Handtasche, Handy und Dokumente ab. Das Besondere ist, daß die Diebe sich unter allen Passagieren nur für Mirna interessierten. Und daß sie noch etwas klauten. Mirnas Haare.

Die 22jährige hatte glatte, braune Haare, die ihr bis auf die Hüften fielen. Solches Haar fällt auf. Und solches Haar ist eine Ware. Echt-Haare für Perücken, Haarverlängerungen und Ähnliches werden nach Gewicht verkauft, der Preis ist besonders hoch bei „jungfräulichem Haar“, das noch nie gefärbt, geglättet oder sonstwie chemisch bekeult wurde. Solches Haar hatte Mirna. Es mag bis zu 300 Reais gebracht haben. Mehr als die meisten Handys auf dem Schwarzmarkt. Vermutlich war es Haarraub auf Bestellung, glauben Leute vom Fach, die anonym bleiben wollen. Seriöse Perückenmacher kaufen nur vom lebenden Objekt – und mit dessen Einverständnis, sagen andere.

Tatsache ist, daß der Haarmarkt im Jahr 2005 eine Million Reais umgesetzt hat, Tendenz steigend. Der Fall Mirna war in Rio der zweite innerhalb von zwei Monaten. Wenn der Haarklau Schule macht, werden womöglich demnächst in Rio Schleier und Turbane Mode. Oder es tut sich ein neuer Markt für Haar-Versicherungen auf. Dass die Cariocas kollektiv zum Kurzhaarschnitt übergehen, kann sich nicht wirklich vorstellen, wer deren Liebe zu ihrer Haarpracht schon erlebt hat.

Ein verschreckter Vater bietet im Internet vorsichtshalber die Locken seiner siebenjährigen Tochter zum Kauf an: „Angesichts der jüngsten Haarraubgeschichten in den Strassen von Rio will ich ihr Haar lieber verkaufen“, schreibt er in seiner Annonce auf dem virtuellen Haarmarkt

(http://inforum.insite.com.br/cabelos-compra-e-venda/).

Die beklaute Mirna gab nach dem Raub zu Protokoll: „Ich versuche immer, unauffällig zu bleiben, wenn ich ausgehe – aber wie hätte ich mein Haar zuhause lassen sollen?“ Inzwischen soll sie sich neues hüftlanges Haar gekauft haben – hoffentlich zum abnehmen.
 
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