Sonntag, 30. September 2007

Ein Volk in Trauer

Alles ist aus. Gestern war es endgültig soweit. Die Demokratie gelangte an ihre Grenzen, die Spielregeln wurden wieder von oben und nicht mehr vom Volk diktiert. Oben ist in diesem Fall der TV-Sender Globo. Der hatte sich im vergangenen halben Jahr und mehr als 170 Kapiteln geradezu erstaunlich nachgiebig der Meinung des Publikums gebeugt. Eigentlich war ja die Telenovela „Paraíso Tropical“ ganz anders geplant gewesen. Eigentlich hätten Ehrgeizling Olavo und Nutte Bebel nur Nebenrollen spielen sollen. Und jeder weiß, dass Telenovelas nicht das wirkliche Leben sind. Aber Gutmensch Daniel und seine bieder-treue Paula, die für die Hauptrolle vorgesehen war, blieben nicht nur unglaubwürdig, sondern langweilten entsetzlich: Sollte es solche Menschen wirklich geben, muss man die nicht auch noch kennenlernen.

Olavo und Bebel hingegen! Sex, Lies und Romantik. Die sympathische Copacabana-Nutte, die jedem ihre Meinung sagt und gleichzeitig so wunderbar blauäugig ist, wäre eine prima Freundin/Geliebte/Bekannte. Und bei Olavo klingen sogar Erpressungsversuche noch sexy. Und wenn sich dann noch zwischen den beiden die ganz große Liebe entwickelt... Das Leben in der Novela wird von den Einschaltquoten diktiert, also bekamen die beiden mehr und Frau Paula weniger Platz als ursprünglich vorgesehen. Was unter anderem dazu führte, dass Paraiso Tropical die erste Novela ist, bei der ich so ungefähr den Handlungsrahmen kenne. Ich bin ja immer noch Novela-Analphabetin: Normale Brasilianer verabreden sich abends für „nach der Novela“ – ich habe jahrelang keine Ahnung gehabt, wie viel Uhr das bedeutet. Normale Brasilianer diskutieren alle ethischen Probleme aus der Novela ausführlich mit ihren Freunden – so als diskutierten sie über Mißtritte im Bekanntenkreis: Für normale Brasilianer bedeutet die Novela eine Erweiterung des sozialen Umfelds.

Umgekehrt ist die Novela ein Spiegelbild der brasilianischen Gesellschaft. So eine Art größter gemeinsamer Nenner von Intellektuellen und Arbeitern. Die gucken nämlich alle zu. In Paraíso Tropical hat sich zum Beispiel das Publikum ausdrücklich gewünscht, dass das latent schwule Paar sich mehr zu seiner Liebe bekennen sollte – das führte zu Szenen des gemeinsamen Erwachens der beiden Männer im Ehebett, reichlich gewagt für eine Novela. Und die fiese Marion sollte nicht sterben, obwohl das ursprünglich so im Drehbuch stand. Was hat es wohl zu bedeuten, dass die Halunken diesmal so außergewöhnlich gut angekommen sind? Dass die ganze Nation die Nutte Bebel so ins Herz geschlossen hat, und Olavo seine Betrügereien verziehen hat? Haben wir uns hier so an die allgegenwärtige kriminelle Energie gewöhnt, dass ehrliche Menschen dagegen nur langweilig wirken können? Haben Korruption und Politikskandale uns rettungslos abgestumpft? Die Antwort wäre womöglich aus einem Showdown abzulesen, den das Publikum geschrieben hätte.

Hat es aber nicht. Für das letzte Kapitel war Drehbuchautor Gilberto Braga nicht mehr den Einschaltquoten, sondern Regisseur und Sender verpflichtet. Und die wollten, dass ganz schnell alle moralischen Werte wieder gerade gerückt werden. Weil vorher so viel aus dem Ruder gelaufen war, geriet das hektische Geraderücken streckenweise fast zum Slapstick: Für Familie und Treue mußten sich nicht weniger als vier getrennt lebende Paare ganz schnell wieder selig in die Arme fallen. Für Ordnung und Gerechtigkeit mußten drei Banditen noch schnell ihr Leben lassen – darunter auch Olavo. Marion hat zwar überlebt, muß aber ihr Geld mühselig durch Verkauf von Billigschmuck auf der Strasse verdienen. Und die langweilige Paula durfte triumphieren. Spaß gemacht hat das nicht.

Und jetzt ist alles aus. Keine Wetten mehr auf „wer ist der Mörder von Taís“, wofür sich zeitweise mehr Leute interessiert haben, als für die Absurditäten des Senatspräsidenten. Keine Bebel, kein Olavo, keine Marion. Ist ein bißchen so als habe man sich mit den Freunden zerstritten, die man sonst jeden Abend getroffen hat. So als sei ganz Brasilien plötzlich umgezogen und verliere seine vertrauten Nachbarn.

Morgen soll alles wieder von vorne losgehen: Morgen beginnt die neue Acht-Uhr-Novela. Mit neuen Intrigen, neuen Freunden und womöglich sogar neuen Einflußmöglichkeiten via Einschaltquote. So will es das Oben. Und das Volk? Das trägt noch Trauer.

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