Mittwoch, 29. November 2006

Das Glück der Rush Hour

Wer in Recife abends um sechs in einen der Busse in die Vororte steigt, hat Glück. Glück, weil er es geschafft hat, sich in eine der fahrenden Sardinenbüchsen hineinzuquetschen. Glück, weil er damit zumindest schon mal auf dem Weg ist. Und Glück, weil die Rush Hour hier nicht ganz dasselbe ist wie in Deutschland.

An der Bushaltestelle an der Kaimauer des Cais Santa Rita riecht es um diese Uhrzeit nicht nur nach dem Wasser und Fisch des Capibaribe-Flusses, sondern vor allem nach akuter Smoggefahr und starken Parfums. In ordentlichen Schlangen wartet die arbeitende Bevölkerung neben dem alltäglichen Verkehrskollaps frisch gekämmt und parfümiert auf ihre Chance, nach Hause zu kommen. Um die Schlangen schwirren die Strassenhändler. Sie verkaufen Bonbons und Cola, Orangen und Kaugummis, Eis und Kekse und Bustickets für ein paar Cents weniger als beim Kontrolleur: Wer um diese Uhrzeit hier steht, muß mit jedem Cent rechnen. Die Busse fahren in mehr oder weniger weit entfernte Vorortviertel mit Namen wie: „Zwei Hammel“, oder „Halsstarriges Brasilia“. Viele davon sind nicht durch ordentliche Stadtplanung mit ebenso ordentlicher Namensgebung sondern durch illegale Besiedlung entstanden – irgendwann haben sich die Spitznamen einfach eingebürgert.

Namenlesen ist ein netter Zeitvertreib beim Warten auf den Bus. Keinesfalls darf man sich aber dadurch ablenken lassen, denn wenn in für auch nur schwach Kurzsichtige noch unlesbarer Entfernung der richtige Bus auftaucht, gerät Bewegung in die Schlangen: Manche ordnen nur brav ihre Plastiktüten, andere machen sich bereit zum Sprint. Eigentlich finde ich Vordrängen unfair. Aber ich warte hier schon 40 Minuten, bin seit drei Stunden unterwegs, habe mindestens noch zwei vor mir, und es wird langsam dunkel. Deswegen renne ich mit zwei graumelierten Herren los, auf die mehrspurige Strasse in Richtung Bus. Zum Glück hat der Fahrer Mitleid und läßt uns nicht mitten im Verkehr stehen, sondern öffnet die Tür zum Einsteigen.

Weiter als bis auf die erste Stufe komme ich nicht: Hätte ich an der Haltestelle gewartet, wäre ich stehen geblieben. Zwölf Personen zähle ich im Bereich der Fahrerkabine, wie viele danach kommen, ist nur am Stimmengewirr, der Hitze verschwitzter Körper und dem Duftgemisch der Deodorants, Haargels und Parfums zu erahnen. Die Tür schließt sich hinter mir, aber der Bus fährt nicht los - heillose Verstopfung auf der Strasse. „Heute wird die neue Beleuchtung im Abgeordetenhaus eingeweiht– da sind mehrere Strassen gesperrt“, erklärt einer. „Immer diese Politiker“, murrt ein anderer, „können die ihre Beleuchtung nicht tagsüber einweihen!“ „Ist es schon Mitternacht?“, fragt der nächste, dessen Stimme so klingt, als habe er nach Feierabend in rascher Folge ein paar Schnäpse gezwitschert. Inzwischen haben sich alle irgendwie eingerichtet, durch die Frontscheibe haben wir Kabinengäste freien Blick auf die verstopfte Strasse und den dramatischen Abendhimmel, und die meisten sehen ziemlich zufrieden aus.

„Und Lula?“, fragt die fröhliche Schnapsdrossel gerade. „Lass den Mann seinen Job machen“, antwortet sein Nachbar –der diesen Spruch aus Lulas Wahlwerbung wohl öfter gehört hat, als seinem Hirn gut tut. Da kommt eine Haltestelle in Sicht. „Nein“, brüllen wir auf, einig wie eine Horde Fußballfans, wenn das gegnerische Team ein Tor zu schießen droht: „Bitte nicht anhalten!“ Vielleicht fürchtet der Fahrer eine Meuterei, vielleicht findet er auch, daß wirklich keiner mehr reinpaßt – jedenfalls fährt er durch. Wir johlen glücklich und ich verdränge nahezu mühelos den Gedanken an die Wartenden da draussen, die jetzt womöglich noch 40 Minuten später nach Hause kommen. „Und Lula?“, fragt die Schnapsdrossel wieder. Langsam werden wir zu einer großen Familie, die auch kauzige Verwandte großzügig akzeptiert. „Lass den Mann seinen Job machen“, antworten jetzt schon mehrere im Chor. „Wie viele Touren mußt du heute noch fahren“, fragt einer mitleidig den Chauffeur, der tapfer jede Chance wahrnimmt, uns ein paar Meter voran zu kämpfen. „Noch drei“, sagt der, und das klingt, als sei er der Familienvater und nehme jede einzelne Tour als persönliche Herausforderung.

„Hey, mir hat jemand an den Hintern gegrapscht!“, quietscht eine Matrone zwischen Entzücken und Entsetzen. „Bin ich der Dame zu nahe getreten?“, fragt, na wer wohl? – genau, es ist die Schnapsdrossel. „Sagen Sie Madame, habe ich Ihnen etwas getan?“. Diskretes Kichern zieht durch die Traube der Kabinenfamilie. Madame schweigt und die Schnapsdrossel fragt triumphierend: „Und Lula?!“. Und „Ist es schon Mitternacht?“ „Mit Gottesfurcht und Vertrauen kommen wir heute noch an!“, beruhigt ihn ein anderer. Irgendwann klebt ein magerer Kerl an mir, kurz darauf steigt eine duftende Studentin mit großzügigem Dekolleté zu, und der Magere schmiegt sich in die andere Richtung. Danach folgt eine glückliche Phase, in der ein Zwei-Meter-Mann nach dem Zusteigen einfach mit dem Rücken zur Tür stehen bleibt und in der mehrere Haltestellen lang niemand unsere Fahrerkabine entern kann.

Es ist schon schwarze Nacht, als die ersten unserer Heimfahrerfamilie aussteigen. Ein frischer Luftzug weht vom offenen Fenster herüber, ein Sitzplatz wird frei und noch einer und noch einer. Ich sitze. Neben mir eine Schwangere mit einem Neun-Monats-Bauch, dahinter drängt eine mit Plastiktüten beladene Blondine. Eine nach der anderen reicht sie uns ihre Tüten. Das ist hier so üblich. Die Schwangere teilt ohne zu murren die Last gerecht auf, bis wir beide darunter fast verschwinden. Dann stapelt sie plötzlich auch ihren Tütenanteil auf mir. Hä? Was ist jetzt los? Ok, ich verstehe: Mit einem glücklichen Lächeln lädt sich die Schwangere jetzt die beiden Söhne der Blondine auf den Schoß und bettet ihre blonden Köpfe auf ihren Neun-Monats-Bauch. So ist das hier in der Rush Hour.

Samstag, 25. November 2006

Privatsphäre, was ist das?

Hier hat jeder Anteil am Leben der Anderen. Das fängt damit an, daß ich morgens um fünf Uhr wach werde, wenn die ersten Vögel anfangen zu singen. Nicht die Vögel wecken mich, sondern meine Vermieterin, die um diese Uhrzeit gerne ihr Geschirr wäscht. Da ihr Waschbecken nur durch eine magere Mauer von meinem Schlafzimmer getrennt ist, wäscht sie ihr Geschirr sozusagen neben meinem Bett. Wenig später hat der neue Hund meines Nachbarn seinen Einsatz: Der Nachbar arbeitet den ganzen Tag in seiner Bar, und der Hund bleibt derweil angebunden in seinem Hinterhof. So viel Privatsphäre findet der Hund gar nicht gut, also weint er. Oft stundenlang. Das scheint niemanden zu stören, ich bin durchaus nicht die einzige, die in Hörweite wohnt. Also versuche ich, das Leben in dieser Reihenhaussiedlung am Meer als meditative Übung ansehen und die Geräusche einfach nur wahrzunehmen, ohne zu werten. Am besten gelingt mir das mit den Schiffssirenen, die gelegentlich übers Meer herüber tröten. Die Samstagsnächte, wenn der Wind den Gesang der völlig verstimmten Pagode-Band vom Dorfplatz an mein Bett weht, überlebe ich nur mir Ohrstöpseln.



Auch die Pagode-Band scheint außer mir niemanden zu stören. „Was?“, fragen die Leute hingegen, und dabei klingt ein entsetzter Unterton mit: „du wohnst allein? Ist das nicht schrecklich einsam?“ Allein ist relativ. Die Nachbarn leben maximal zehn Meter entfernt. Ich höre ihre Hunde, ihr Geschirr, das Klackern der Dominosteine auf ihren Tischen und ihren Ehekrach. Sie hören jede Musik die ich höre, jedes Telefonat, das ich führe, jedes Fernsehprogramm, das ich einschalte, kurz: jedes Lebensgeräusch von mir. Und weil das noch nicht reicht, rief es vor ein paar Tagen plötzlich „Cristina!“ von der Strasse. Meine Nachbarin beugte sich so weit über mein Gartentor, daß es fast aus den Angeln brach, und reichte mir eine Schüssel mit Reis: „Magst du mal probieren?“, fragte sie freundlich. Bis dahin hatte sich unser Verhältnis auf verhalten neugierige Blicke ihrerseits und freundliches aber einsilbiges Grüßen meinerseits beschränkt. Doch an diesem Tag gab es auf meiner Terrasse einen Mann zu sehen. Womöglich hielt der gerade Einzug in mein armes einsames Leben. Vermutlich war die Nachbarin besorgt, ob ich die richtige Wahl getroffen hatte.



Besorgt sind die Leute häufig. Als ich letztens ein paar neue Pflanzen setzte, hielt gleich der erste Passant an und beäugte mißtrauisch meine Tätigkeit. „Die pflanzt du besser da drüben hin“, erklärte er mir schließlich, „Rosen lieben Halbschatten.“ Derweil hatte sich ein zweiter Passant dazugesellt, der dem ersten Recht gab. Die dritte Passantin fragte, ob ich vielleicht Ableger von ihrem Hibiskus haben wolle. Und die vierte bot Orchideen an. Kaum ein paar Wochen später hatte sich die Pflanzenvielfalt in meinem Garten verdoppelt – alles Spenden freundlicher Passanten. Ein anderes Mal brüllte es draußen solange: „Cristina!“, bis ich mich trotz fieser Grippe ans Gartentor schleppte. Der Brüller war der kleine Nachbarssohn, der sich sorgte, weil er mich an dem Tag noch gar nicht gesehen hatte. Er brachte vorsichtshalber einen Teller Suppe mit und fragte, ob er für mich einkaufen solle. Seitdem versorgt er mich, wenn ich krank bin und meine Hunde, wenn ich verreise. Als Gegenleistung habe ich versucht, ihm zu erklären, warum die Menschen in meinem Land so gerne allein leben.



Wir Deutschen lieben unsere Privatsphäre. Wir reisen in der Bahn am liebsten auf einem Fensterplatz im Großraumabteil, würden uns im Restaurant nicht zu Fremden an den Tisch setzen, kennen im Mietshaus selten unsere Nachbarn und halten am Bankschalter ordentlich Abstand – aus Diskretion. Vornehm zurückhaltend kann man das finden. Oder ziemlich verschroben. Alles Ansichtssache.



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Montag, 20. November 2006

Zimtbraune und Weizenbraune sind nicht schwarz

Laut Statistik ist die Hälfte der Bevölkerung Brasiliens schwarz. Tatsächlich bin ich – zumindest hier im Nordosten - meist die Hellste weit und breit. Aber schwarz? Sind die meisten anderen auch wieder nicht. Wo fängt schwarz an, wo hört schwarz auf? Das sind Fragen, mit denen wir Deutschen nicht so viel zu tun haben, die Brasilianer hingegen reichlich. Vor Jahren, bei meinem ersten Brasilienbesuch habe ich mich gewundert, als in einer Frauenzeitschrift auf den Seiten mit Bekanntschaftsanzeigen die einsamen Jungs ausnahmslos alle betonten, sie seien „moreno claro“ – hellbraun. Hier ist das wichtig. Je heller, desto mehr Chancen im Leben und bei den Frauen. Mitten im 21. Jahrhundert heißen hier krause Haare immer noch „schlechte Haare“, verlangen Arbeitgeber in ihren Stellenanzeigen „angenehmes Äußeres“ und meinen damit: Die Kandidaten sollen weiße Haut haben.


Das sind schwierige Voraussetzungen für ein schwarzes Bewußtsein. Schwarze sind als Helden vor allem im Karneval, in der Musik und beim Fußball erlaubt. Auch am heutigen Gedenktag wird das schwarze Bewußtsein mancherorts nur mit Tanzgruppen und schwarzen Bands gefeiert – ganz dem Klischee verhaftet. Dabei könnte ein bißchen mehr Bewußtsein wirklich nicht schaden: Pünktlich zum Festtag (Feiertag in immerhin 225 Städten) gibt das Amt für Statistik Ibge bekannt, daß Schwarze immer noch halb so viel verdienen wie Weiße. Eine andere Untersuchung zeigte kürzlich, daß in den großen Firmen nur 3,5 Prozent der leitenden Angestellten Schwarze sind. Jetzt soll ein neues Gesetz Quoten für Schwarze einführen. An den öffentlichen Unis, im öffentlichen Dienst und sogar in Werbung und TV-Produktionen. Die Intellektuellen diskutieren seit Monaten eifrig darüber, ob das Gesetz ein Fortschritt ist – weil es bessere Chancen für Afro-Brasilianer garantiert. Oder ein Rückschritt – weil damit die Existenz unterschiedlicher Rassen erst juristisch zementiert wird.


Die andere Frage wird dabei oft vergessen: Wer ist eigentlich schwarz? Wer schwarze Eltern hat? Wer negroide Züge aufweist, „schlechtes Haar“ und dunkle Haut? Das scheinen die Brasilianer selbst nicht so genau zu wissen. In einer der Umfragen des Ibge sollten sie ihren Hautton selbst beschreiben: Mehr als hundert verschiedene Farben kamen dabei heraus – darunter so vielsagende Neuschöpfungen wie Zimtbraun, Weizenbraun, Sonnenverbrannt, Schmutzigweiß, Fastweiß, Hellbraun, Gebrochen Weiß oder Nußbraun. Also alle nicht schwarz. Gelten für die Zimtbraunen und Gebrochen Weißen die Quoten dann trotzdem? Oder werden sich mit Einführung von Quoten plötzlich alle Brasilianer als schwarz bezeichnen wollen? Bislang ist eher das Gegenteil der Fall. „Ich denke, daß alle Schwarzen im Fußball unter Rassismus zu leiden haben“, sagte Star-Fussballer Ronaldo letztes Jahr in einem Interview. „Ich als Weißer leide unter so viel Ignoranz.“

Dienstag, 14. November 2006

Ein kleines Hotel am Strand - deutsche Lebensträume in Brasilien

Wir Deutschen haben nicht gerade den Ruf, das phantasievollste Volk der Welt zu sein. Vielleicht fasziniert uns deswegen Brasilien mit seinen Überlebenskünstlern so. Die Deutschen stehen unter den europäischen Brasilienurlaubern an zweiter Stelle (gleich nach den Portugiesen), und die meisten kommen mehr als einmal. Kein Wunder, daß mancher irgendwann von einem Aussteigerleben unter ewiger Sonne an einem palmenbestandenen Strand träumt. Wie kann ich an einem solchen Paradies leben, und trotzdem Geld verdienen, fragen sich die deutschen Brasilienfans. Und finden flugs eine Antwort: Ja, klar, das ist es – ein kleine nettes Familienhotel an einem idyllischen Ort aufmachen. Wer nicht vom Hotel träumt, macht ein Restaurant auf, und damit ist die Bandbreite der Kreativität auch schon am Ende. Neun von zehn Deutschen, die ich hier treffe, haben ein kleines Hotel am Strand. Glücklich sind viele meiner Mit-Deutschen in Brasilien trotzdem nicht.

Mein Nachbar hat einen halben Lebenstraum verwirklicht. Er besitzt etwas, das mal ein Familienhotel werden will. Auf seinem großen, sorgfältig gemalten Schild heißt es: „Pousada, hier sprechen wir Deutsch“ – beinahe wie im Film von Gerhard Polt. Pousada heißt Pension auf Portugiesisch. Auf dem Schild zeigt ein Pfeil die Richtung, aber eine Pension ist nicht zu entdecken. Statt dessen steht in der Pfeilrichtung ein Rohbau, davor wartet der Betonmischer auf Handwerker, die nie kommen: vielleicht ist dem Besitzer nach dem Schildermalen das Geld ausgegangen. Immerhin steht die Bauruine seiner Träume direkt am Strand – und vielleicht ist mein Nachbar glücklich. Vielleicht wohnt er auch gar nicht mehr hier: Ich habe ihn noch nie gesehen.

Karl hat seinen Lebenstraum aufgegeben. Er hatte sich ebenfalls in einen Strandort verliebt, hat eine Erbschaft gemacht und - ja genau - beschlossen, ein kleines Hotel aufzumachen. Weil Karl nicht – wie der andere - sein ganzes Geld für das Grundstück ausgeben wollte, kaufte er keine Strandlage. Und ist jetzt chronisch pleite und Besitzer eines kleinen Hotels mit neun Zimmern und einem großen Garten, das niemand findet, weil es in einer der kleinen Hinterstrassen des Orts versteckt liegt. Karl stellt schon lange keine Schilder mehr auf oder macht sonstwie Werbung für sein Hotel. Er lebt überwiegend in seinem Garten, wo er Orchideen züchtet und Bananen pflanzt: die Orchideen verkauft er gelegentlich an Sammler und die Bananen kann er immerhin essen.

Thomas hat seinen Lebenstraum satt. Dabei ist sein kleines Hotel fertig gebaut – für die letzten Zimmer hat sich Thomas seine Lebensversicherung auszahlen lassen, denn zurück wollte er sowieso nicht mehr. Dann ist sein Ort vom Geheimtipp für abgebrannte Rucksackreisende zum Lieblingsferienort für hippe Typen aus Europa und Brasilien avanciert und die einst einsame Lage von Thomas’ Hotel zum idealen Standort abseits des Trubels. Das heißt: Thomas kann von seinem Hotel leben. Er muß nicht mal mehr viel arbeiten, Zimmermädchen, Köchin und Gärtner machen ihren Job zuverlässig. Jetzt schaukelt Thomas meistens in der Hängematte und guckt auf den idyllischen Strand. Tolles Leben? Findet Thomas nicht. Die ersten Jahre, als das Geld endlich gereicht hat, seien ja noch ganz nett gewesen, sagt er. Aber immer nur auf den Strand gucken! Manchmal frage er sich schon, warum ihm nichts Besseres eingefallen ist.

Klaus-Dieter ist glücklich ohne Lebenstraum. Sein Traum war die Pension, die er vor zwanzig Jahren von seinen Ersparnissen gebaut hat. Die lief so schlecht, daß Klaus-Dieter sich schon bald als Fremdenführer auf Ökotouren durch den Wald versuchte. Aber den Brasilianern war es zu heiß im Tropenwald – Strandurlauber wollen hier lieber im Schatten sitzen, als bei sportlichen Aktivitäten zu schwitzen. Also hat Klaus-Dieter ein Restaurant aufgemacht. Nachdem er das Restaurant mangels Gästen wieder schließen mußte, hat er eine Räucherkammer gebaut und Hühnerbrüste und Fische geräuchert. Das war so exotisch, daß sich dafür sogar Kunden fanden. Nur zum Leben hat der Verdienst wieder nicht gereicht. Vor einiger Zeit erzählte mir Klaus-Dieter, er habe die Dauerpleite satt, er werde jetzt in die Politik gehen. Kürzlich traf ich ihn wieder: Klaus-Dieter hat jetzt einen Job als Umweltsekretär eines winzigen Ortes und dafür sogar die brasilianische Staatsangehörigkeit angenommen. Als Umweltsekretär verbringt er den halben Tag im eisgekühlten Büro und die andere Hälfte des Tages in stickigen öffentlichen Transportmitteln - am Strand ist er so gut wie nie. Aber glücklich ist Klaus-Dieter. Vielleicht, weil er selbst zum Überlebenskünstler geworden ist.

Samstag, 11. November 2006

Robertos Hausangestellte gibt ihm keine Tipps in Liebesdingen

Roberto hat eine Hausangestellte. Viele Brasilianer haben Hausangestellte, denn die sind hier nicht sehr teuer. Eine „Empregada“ putzt, wäscht und kocht an sechs bis sieben Tagen in der Woche von morgens bis abends für ihre Herrschaft. Dafür bekommt sie normalerweise einen gesetzlichen Mindestlohn im Monat (umgerechnet 125 Euro). In den Telenovelas im brasilianischen Fernsehen sind Empregadas häufig dick und geschwätzig und so etwas wie das Herz der Familie. Sie kochen dauernd Kaffee, hören alles, sehen alles und geben ihren Herrschaften trotz des knappen Lohns gerne kostenlose Tipps in Liebesdingen.


Bei meinem Nachbarn Roberto ist das alles ein bisschen anders. Seine Empregada ist dünn, schweigsam und mitnichten das Herz von Robertos Familie. Roberto ist nämlich Single und den ganzen Tag nicht da. Praktisch bewohnt also seine Hausangestellte Robertos Einzimmer-Küche-Bad-Mietwohnung mit Gartenanteil direkt am Meer. Sie kommt im Laufe des Vormittags, wenn Roberto schon in der Arbeit ist, kocht sich erst mal einen Kaffee und setzt sich unter den Mangobaum, um ein bißchen in Robertos Zeitung zu blättern. Danach fegt sie die Einzimmer-Wohnung und schüttelt die Laken aus. Dann ruht sie sich im Schatten des Mangobaumes aus. Später geht sie einkaufen. Mit Tüten beladen kommt sie wieder und macht sich ans Kochen. Roberto ißt gern, das sieht man ihm an. Seine Empregada kocht Gulasch und Fisch in Kokossauce, dass es nur so duftet. Manchmal backt sie auch Kuchen.


Jeden Tag um Punkt zwölf Uhr ist Mittagspause. Dann kommen die Gäste. Das sind drei Kolleginnen von Robertos Empregada, die in der Nähe arbeiten, ihr Ehemann, der auch in der Nähe arbeitet, ihr kleiner Sohn und an manchen Tagen auch noch ihre Schwiegermutter. Die kleine Gesellschaft rückt sich Robertos Gartenstühle zurecht, deckt den Tisch unter dem Mangobaum und fängt an zu schmausen. Gulasch gibt es und Fisch in Kokossauce und manchmal einen Kuchen. Das Meer rauscht im Hintergrund, eine zarte Brise bläst herüber, die Gäste reden ausgiebig über Liebesdinge und ihre Herrschaften, und oft brechen sie erst in der Dämmerung auf. Dann schreibt Robertos Hausangestellte noch den Einkaufszettel für den nächsten Tag und macht Feierabend.


Wenn Roberto abends nach Hause kommt, ist keiner mehr da. Er wärmt sich also allein den Gulasch auf oder den Fischeintopf, setzt sich allein an seinen Gartentisch und liest allein seine Zeitung. Danach wärmt er sich den Kaffee auf und genehmigt sich ein Stück Kuchen. Und niemand gibt ihm Tipps in Liebesdingen.

Mittwoch, 8. November 2006

Ficar - die ultimative Ausrede?

Es gibt ja so Worte, die sich Fremden in einer Sprache schwer bis gar nicht erschließen. Vom Portugiesischen heißt es, das Wort Saudade sei nicht übersetzbar, weil nicht einmal das Gefühl in anderen Sprachen wirklich nachfühlbar sei. Sehnsucht käme der Saudade nur bedingt nahe, weil ja auch noch Schwermut mit darin schwebe und diverse andere Nuancen. Spezialisten können da stundenlang an Annäherungen feilen.


Jetzt ist in Brasilien ein neuer Begriff aufgetaucht, der der Saudade an Unübersetzbarkeit kaum nachsteht: Ficar. Wörtlich heißt das „bleiben“. Ist also sehr wohl übersetzbar. In der einfachen Verwendung, wie: Ich bleibe noch auf der Party. Aber was ist gemeint, wenn Eva sagt: Ich bin gestern abend mit Pedro geblieben? Das neue Ficar hat etwas mit Intimitäten zu tun, so weit ist leicht geraten. Und weiter? Hat sie nun Händchen gehalten, rumgeknutscht oder war sie im Bett mit dem Kerl? Gesagt hat sie nur: "Fiquei – ich bin geblieben".


Was zum Teufel heißt Ficar? Ich habe Lulu gefragt. Lulu ist achtzehn, ist bisher mit zwei Typen geblieben und noch Jungfrau. Lulu sagt: Ficar kann schüchternes Händchenhalten sein oder wildes Rumknutschen, kann voll bekleidet in der Öffentlichkeit stattfinden oder unbekleidet in einem Bett. Wenn also Eva sagt: ich bin mit Pedro geblieben, kann das heißen, die beiden haben Sex miteinander gehabt. Es kann aber auch heißen, sie haben sich nicht einmal geküßt, nur umarmt. Bleibt alles vage. Nur eine Sache ist sicher bei Ficar: Es ist nicht von Dauer.


In einem momentan ziemlich angesagten Forró-Stück heißt es: Eu nao quero compromisso, só quero ficar - Ich will keine Verpflichtung, ich will nur bleiben. Da klingt das rheinische „Rummachen“ an, eine vor allem im Karneval oder sonst bei alkoholisierten Gelegenheiten auftretende spontane Paarbildung von kurzer Dauer und ohne Verpflichtung. Und das kommt dem Ficar schon fast so nahe wie die Sehnsucht der Saudade.


Ficar ist hundertprozentig unverbindlich. Kann heute mit Pedro und morgen mit André sein, oder sogar auf der gleichen Party mit Luis und José. Wenn zwei miteinander geblieben sind, grüßen sie sich beim nächsten zufälligen Treffen, mehr Intimität zeigen sie normalerweise nicht. Wenn einer der beiden später mit anderen bleibt, ist keine Eifersucht zulässig. Es ist ok, mehr als einmal mit dem gleichen Partner zu bleiben. Aber nie, nie, nie, darf man über einen Zeitraum von mehr als ein paar Monaten mit dem gleichen bleiben. Dann wird es namoro, die beiden sind zusammen, und die üblichen Verpflichtungen brechen über sie hinein.


Der Kerl hat also eine feste Freundin, eine namorada, und macht auf einer Party mit einer anderen rum? Nicht ok. Ausser, der Kerl sagt. War nichts Ernstes, ich bin mit der anderen doch nur geblieben.

Klingt beinahe so, als sei Ficar die ultimative Ausrede für unstete Typen.

Sonntag, 5. November 2006

Die schönsten Pummelchen der Welt

Neben mir sitzt eine Dame mit blutunterlaufenen Augen, rotbraun gefärbtem schütterem Haar, reichlich Altersflecken auf der Hand – und der zarten Gesichtshaut einer 15Jährigen. Ihre Nachbarin hat was von Michael Jackson auf Brasilianisch: winzige Stupsnase, bleiche Haut, seltsamer Haaransatz, leicht schräge Augen. Ich sitze mit meiner Freundin im Wartezimmer von Henylda, einer der beliebtesten Schönheitschirurginnen Recifes. Henylda macht alles, von der Mini-Lipo bis zur Nasenkorrektur.

Beth will sich ihre Stirnfalten mit Botox wegspritzen lassen und fragt gleich mal in die Runde, ob jemand Erfahrung mit Botox hat. Und schon kommen alle ins Gespräch. Miss Michael Jackson will sich die Wangen liften lassen. Die hängen zwar gar nicht, aber Miss Jackson wohnt in den USA und da ist alles viel teurer. Hier sagt sie ihrem Mann einfach, sie gehe zum Friseur und läßt sich schnell ein paar Goldfäden in die Wangen ziehen. Wenn die dann irgendwann wirklich zu hängen drohen, kann sie die einfach immer nachspannen lassen, praktisch, oder? Eigentlich ist die Dame richtig sympathisch. Und das Lifting wird ihre erste Schönheits-OP sein – ihre Ähnlichkeit mit dem psychopathischen Popstar hat sie einem Verkehrsunfall zu verdanken. Klischees stimmen eben doch nicht immer.

Brasilianerinnen sind schön. Auch wenn sie übergewichtig sind. Auch wenn manche zu kurze Beine haben. Oder blutunterlaufene Augen. Die bekommt man, wenn man sich die Tränensäcke wegschneiden läßt, erklärt die Dame mit der sonst so rosigen Gesichtshaut. Geht aber bald wieder weg. Und Botox ist gar kein Problem, das dauert nur fünf Minuten, beteuert eine attraktive Rothaarige undefinierbaren Alters, die neben ihrer pummeligen Freundin sitzt. Was machen denn die beiden hier? „Ich mache eine Lipo am Bauch“, sagt die Pummelige, „der stört mich zwar nicht wirklich, aber irgendwie ist es blöd, größere Kleidergrößen zu brauchen als meine Mutter“. „Ich hab schon so ziemlich alles gemacht“, kichert die Mutter gutgelaunt. „Zuerst Botox, dann die Fältchen an der Oberlippe aufpolstern lassen, dann Lipo...“ Heute begleitet sie nur ihre Tochter. Aber das mit den Tränensäcken, das wäre natürlich eine Überlegung wert. Überhaupt sind hier alle ganz locker. Nicht so, als müßten sie traumatische Defekte an ihrem Körper beseitigen.

Müssen sie auch nicht. Die Brasilianerinnen haben nämlich ein ganz anderes Verhältnis zu ihrem Körper als wir Europäerinnen. Erstens können sie ihn nicht über die Hälfte des Jahres verstecken, weil Wintertemperaturen von 28 Grad keine dicken Klamotten rechtfertigen. Zweitens wollen sie ihn gar nicht verstecken. Egal, ob sie aussehen wie Gisele Bündchen, oder doch eher wie Maria XXL. Die ersten XXL-Marias in knappen Miniröcken und bauchfreien Shirts habe ich noch für ihren Mut bewundert. Mit der Zeit habe ich gemerkt, daß sie gar keinen Mut brauchen. Eine Bauchbesitzerin kann – ganz besonders hier im Nordosten - mehr Erfolg haben als eine Bauchlose, Vor allem, wer seine „Gostosura“* mit dem rechten Hüftschwung präsentiert, kann sich bewundernder männlicher Blicke sicher sein. Aus europäischer Sicht verunsichert das erst mal. Gibt es hier keine Diäten? Muß hier niemand kaschierende Flatterkleidchen über die Fülle hüllen? Hautenge Tops und Lycrajeans für alle? Ist das denn ästhetisch? Und wozu dann noch Schönheitsoperationen?

Meine Antworten nach ausgiebiger Feldforschung:

- Lycra für alle? Ja! Aus hautengen Tops quellende Üppigkeit findet viele Fans.

- Diäten? Machen manche Mädels trotzdem – um sie spätestens bei der nächsten Strandparty konsequent abzubrechen. Das ist erstens sympathisch und zweitens garantiert gesünder für Körper und Geist.

- Flatterkleidchen als Versteck? Nicht mal in der Körperkult-Hauptstadt Rio sind alle Frauen elfengleiche Models. Die anderen tragen auch Tangas und sonnen sich auch an der Copacabana.

- Schönheitsoperationen? Sind hierzulande vermutlich eher mit einem Frisörbesuch zu vergleichen als mit tiefenpsychologisch wirksamen Persönlichkeitsveränderungen: Schauspielerin Sonia Braga hat sich gerade generalüberholen lassen und präsentiert das Ergebnis stolz in der aktuellen Telenovela, nach dem Motto: „Guckt mal, wie hübsch das geworden ist!“
Das brasilianische Selbstbewußtsein ist übrigens so ansteckend, daß schon wenige Wochen Brasilien reichen, um sich den ersten Minirock zu kaufen. Nach spätestens einem halben Jahr ist der erste einheimische Bikini fällig – neben dem alle europäischen Modelle zwingend so aussehen, wie aus Urgroßmutters Klamottenkiste. Keine Ahnung, wie lange es dauert, den Hüftschwung zu erlernen. Der die Brasilianerinnen zu den schönsten Pummelchen der Welt macht. Selbst wenn sie keine Pummelchen sind. Aber das ist ja zum Glück Nebensache.



* Gostosura bedeutet so etwas wie lecker Rundungen
 
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