Freitag, 31. Oktober 2008

Vorsicht Suchtgefahr - Capoeira


„Capoeira kann süchtig machen.“ Sprach Mestre Nenel zu mir, Sohn des berühmten Mestre Bimba, der die Capoeira regional erfunden hat. Das war vor einigen Jahren während eines Telefoninterviews, vor dem ich nicht viel mehr wusste, als dass die Capoeira mit den Sklaven aus Angola gekommen sein soll und sich die Schwarzen damit fit hielten. Später habe ich die akrobatischen Spiele der durchtrainierten Capoeiristas von Salvador bewundert – und mich über die aggressive Art geärgert, mit der manche davon die Zuschauer um Geld angehen. Auf die Idee gekommen, es selbst auszuprobieren, bin ich erst viele Jahre später. Im vergangenen Sommer. In Berlin.

Meine Schwester wollte zu einem Probetraining gehen als ich gerade zu Besuch war. All die weißen Gestalten in den weiten Capoeira-Hosen sahen für mich zunächst ungewohnt aus – beinahe ein bisschen verkleidet. Dann ging es los. Ohne die eindringliche Musik aus dem einsaitigen Instrument Berimbau, der großen Trommel Atabaque und dem Pandeiro, dem Tamburin. Trocken sozusagen. Aber rasant. Schon die Grundbewegung, die Ginga, in der sich die brasilianischen Tänzer so scheinbar mühelos wiegen, ist ein Oberschenkeltraining gegen das sämtliche Callanetics, Pilates und wie sie alle heißen, einpacken können. Die Knie bleiben nämlich dabei gebeugt. Die ganze Zeit. Nach Minuten waren wir schweißüberströmt, kurz darauf keuchten wir, während die anderen mit komplizierteren Bewegungsabläufen, Tritten, Sprüngen und Drehungen anfingen. Alle ordentlich mit den portugiesischen Namen bezeichnet: esquiva lateral, für das seitliche Wegducken, martelo für den seitlich aus der Hüfte vorschnellenden Tritt, meia-lua für die Drehung des Beins und so fort. Das wirkte aus den deutschen Mündern dann wieder seltsam, und natürlich konnte ich mir nichts merken und fast nichts nachahmen.

Nach den eineinhalb Stunden Training hatte ich mehrere Liter Flüssigkeit verloren und Blut geleckt. Am nächsten Tag taten mir Muskeln weh, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte – abgesehen von allen anderen am gesamten Körper. Ich konnte mich kaum bewegen. Aber mein Entschluss stand fest: Ich wollte weiter machen. Der Capoeira-Lehrer im Nachbardorf war mir als durchaus gelassener, ein wenig langsamer Mensch bekannt – bei dem würde das Training sicher nicht so hart ausfallen.

Die Gruppe hier übt in einem Mehrzweckraum der Anwohnervereinigung, dessen Zementboden gefährliche Löcher aufweist, in denen sich schon manch einer den Zehennagel abgerissen hat. Keine Klimaanlage, nicht einmal ein Ventilator. In einer Ecke steht eine 20-Liter-Flasche lauwarmes Wasser. Die Musik kommt während des Trainings aus einem Transistorradio, erst wenn es ans Spielen in der Runde geht, bedient der Chef das Berimbau. Beim ersten Mal konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten, als es nach Stunden soweit war für die Runde, die roda, in der zwei Spieler aufeinander treffen. Keine Gnade, ich musste auch rein – obwohl ich noch nicht mal die Ginga richtig verstanden hatte. Von wegen langsam. Hochkonzentriert und flüssig zieht der Mann hier ein dreistündiges Training durch, das für Spitzensportler angelegt sein muss. Das Aufwärmen allein kostet mehr Schweiß als der Normalmensch pro Tag zur Verfügung hat. Hinterher dauerte es dreimal so lange wie sonst, den Hügel bis zu meinem Haus herab zu steigen.

Das ist drei Monate her. Wenn ich nicht gerade auf Reisen bin, gehe ich seitdem zu allen Abend-Trainings. Selbst eine Hornhautentzündung konnte mich kürzlich nicht abhalten. Der Hügel macht mir inzwischen weder bergauf noch bergab etwas aus. Der Rückweg im sanften Mondlicht ist regelmäßig einer der größten Glücksmomente des Tages. Manche Refrains kann ich schon mitsingen. Und so ganz allmählich bekomme ich auch eine Ahnung davon, was damals Mestre Nenel gemeint hat, als er von der Philosophie der Capoeira sprach. Mit den Muskeln scheint auch die Gelassenheit zu wachsen. Ich habe selten irgendwo so eine absolut konkurrenzfreie Stimmung erlebt, wie beim Training: Jeder freut sich über die Fortschritte der Anderen, egal auf welchem Niveau. Geduldig zeigt uns der Lehrer auch zum hundersten Mal die gleiche Bewegung. Und Konflikte werden lachend gelöst.

Letztens kam zur Runde, schon abends gegen 22 Uhr unerwarteter Besuch. Erst wehte eine Schnapsfahne in den Raum, dann kam ein Mann hinterher. Er wollte mit spielen. Trat energisch in die Roda und drängte einen der beiden Spieler mit eher groben Fußtritten hinaus. Zurück blieb einer unserer besten Capoeiristas. Der jagte den Fremden in einem Irrsinnstempo durch die Runde, schleuderte ihm die Beine rechts und links über die Schulter, ließ ihm Tritte millimetergenau vor dem Gesicht stoppen, und machte sich nach Strich und Faden dabei über den Eindringling lustig. Bis alle sich vor Lachen hielten. Und der Schnaps-Mann sich betreten zurückzog.

Grandiose Philosophie. Mir fehlen allerdings bis zu ihrer Umsetzung in der Runde noch ein paar Jährchen. Ich glaube ab jetzt mache ich das Morgentraining am Samstag auch noch mit.

foto: wollowski (wie immer, wenn nicht anders angegeben)

Montag, 27. Oktober 2008

Die Sorgfalt der grünen Männer

Hier im Dorf funktioniert die Müllabfuhr ganz hervorragend. Fleißige grüne Männer durchziehen in aller Herrgottsfrühe die wenigen Straßen und reichlich steilen Gassen, und laden alle am Wegrand abgestellten oder auf Pfosten gehängte Plastik-Mülltüten ein, die sie so finden können. Gelegentlich sieht man sie auch akribisch wildwuchernde Pflanzen vom Straßenrand weghacken oder Einzelabfall aus Wasserrinnen herausfischen. Nie habe ich gesehen, dass die grünen Männer wer kontrollieren würde – die ganze Sorgfalt ist freiwllig.

In den Straßen (Hauptverkehrsadern) kommen die grünen Männer jeden Morgen vorbei. An meinem Haus, das oben auf dem Hügel steht, immerhin dreimal pro Woche. Das heißt, der Dorfplatz ist auch nach einem turbulenten langen Wochenende spätestens am Montag Mittag wieder sauber. Ebenso wie die Rinnsteine neben dem Getränkemarkt oder vor den wenigen Kneipen., die an solchen Wochenenden von den Urlaubern leergetrunken werden. Das ist umso bemerkenswerter, als hier fast niemand Grundsteuern bezahlt – und die Müllabfuhr trotzdem für uns Einwohner kostenlos ist. Kurz: Unser Dorf ist ein sauberes.

Der Brasilianer an sich, wenn er nicht gerade in einem touristisch gepflegten Naturpark mit entsprechenden Umwelterziehungsprogrammen vom Baby bis zum Opa wohnt, hat kein verstärktes Umweltbewusstsein. Kaum hat er eine Tüte Salzsnacks geleert, lässt er sie einfach seiner Hand entgleiten, egal, ob er gerade im Bus sitzt, im Auto, oder auf der Straße steht. Tüten sind hierzulande übrigens immer noch in reichlichem Maß bei jedem Einkauf kostenlos erhältlich. Manche Waren wie Seifen werden – bevor sie in die große Tüte kommen -, extra noch in eine kleine verpackt. Und viele Supermärkte kaufen aus Sparsamkeit so hauchzarte Tüten, dass die Einpacker an der Kasse mindestens zwei davon ineinander stecken, damit eine Chance besteht, den Einkauf darin tatsächlich bis nach Hause tragen zu können.

Zuhause ist natürlich alles anders. Meine Nachbarn etwa fegen ihre Terrasse und ihren kleinen Hof mit gestampftem Lehmboden jeden Tag. Letztens habe ich den weißhaarigen Herrn beobachtet, wie er Laub und Plastikfetzen zusammen und immer weiter von seiner Terrasse weg kehrte. Dabei unterhielten wir uns über die ersten Cashews, die jetzt reifen und andere Alltagsthemen. Bis er mit einem finalen Schwung den ganzen Haufen Unrat endgültig von sich schob. In meinen Garten. Vorsichtig, um die zarten nachbarschaftlichen Bande zwischen uns nicht gleich zu zerreißen, wies ich ihn darauf hin, dass er da Plastikmüll abgesondert hatte, der sich mitnichten in Humus verwandeln würde. Den ich deswegen nicht schätzte, in meinem Garten. Unverständliches brummelnd, zog sich mein Nachbar zurück auf seine sauber gekehrte Terrasse. Ich griff mir eine der Tüten, sammelte darin des Nachbarn Müll und stopfte alles zusammen in meine häusliche Tonne.

Am nächsten Tag erwachte ich von einem Kehrgeräusch auf der Hausvorderseite. Später sah ich: es war meine Nachbarin. Sorgfältig kehrte sie Laub und Plastikmüll neben ihrem Haus zusammen auf einen großen Haufen und verschwand. Leider lag der Haufen direkt neben meiner Grundstücksgrenze, etwa einen Meter höher. Kurz: Der Wind trieb den Müll binnen weniger Stunden komplett in meinen Vorgarten. In meinem hinteren Garten fanden sich ein paar Seiten aus dem Schulheft ihrer Tochter sowie ein paar leere Snacktüten. Ich nahm eine leere Hundefuttertüte, sammelte darin sowohl diesen als auch weiteren Müll, den ich auf der anderen Straßenseite im Gebüsch entdeckt hatte: Einwegwindeln, Schnapsflaschen, Altkleider. Die komplette Beute platzierte ich zusammen mit einem alten TV-Gehäuse, einem zerbrochenen Waschbecken und diversen rostigen Stangen, die nicht in die Futtertüte passten, am Straßenrand: für die grünen Männer.

Am nächsten Tag kamen sie. Planmäßig. Häuften alle üblichen Tüten auf ihre Schubkarre, packten die Futtertüte ganz oben drauf – und wollten weiter ziehen. „Und was ist mit dem Restmüll“, fragte ich erstaunt. Zwei zogen mit dem Karren weiter hügelabwärts, als hätten sie mich nicht gehört. Der dritte blickte ratlos auf das TV-Gehäuse, das Waschbecken und die Eisenteile. Schließlich meinte er: „Warum wirfst du das nicht einfach ins Gebüsch?“ Dann ging auch er.

Unbekannte steckten die Übriggebliebenen in Brand, als ich gerade nicht zuhause war. Zurück blieben hässlich verrußte Teile, die den grünen Männern gar nicht gefielen. Durch freundlich-hartnäckiges Im-Weg-Stehen-Bleiben konnte ich sie erst Tage später nötigen, die Brandopfer doch noch mit zu nehmen. Dann aber kehrten sie eifrig auch noch den letzten Aschestaub zusammen. Nicht ganz freiwillig, aber sehr sorgfältig.

Dienstag, 21. Oktober 2008

Der Motoboy weiß mehr


Nach dem Baden war das Ohr verstopft. Nicht schmerzhaft, nur dicht, was zu leichter Taubheit führte. Weil das lästig ist und auch abends noch nicht vergangen war, wollte ich Abhilfe schaffen. Selbstmedikation ist hier wohl noch verbreiteter als in Deutschland, weil die wenigsten krankenversichert sind. Also müssen sich die Apotheker eben besser auskennen. Dachte ich.

Die nette Conceicao aus der Apotheke im Nachbarviertel wusste gleich Abhilfe. Sie versprach, einen Motoboy* gleich mit den entsprechenden Tropfen vorbei zu schicken. Nein, der Lieferservice koste nicht extra. Toll. Dachte ich.

Wenig später hupte der Motoboy vor meiner Tür, nahm umgerechnet vier Euro in Empfang, drückte mir eine Medikamentenschachtel und eine Quittung in die Hand und brauste davon. Erstaunlicherweise handelte es sich um ein verschreibungspflichtiges Medikament, durch einen roten Balken auf der Packung gekennzeichnet. Viele Apotheken verkaufen rezeptpflichtige Arznei ohne Rezept. Aber ich hatte ja erklärt, dass ich nur ein verstopftes Ohr hatte, keine Entzündung oder sonstige schlimme Beschwerden.

Der Beipackzettel klärte mich auf: Conceicao hatte mir Kortison-Tropfen geschickt. Die helfen gegen allerlei Entzündungszustände. Ob sie Verstopfungen auflösen können, sagte der Beipackzettel nicht. Also rief ich Conceicao erneut an. Ob sie sich vielleicht geirrt habe? Nun ja, das Medikament gehe sonst sehr gut, sagte die freundliche Dame. Aber wenn ich wirklich meinte, es sei zu stark für meine Ohrenverstopfung, dann hätte sie da noch ein anderes, genau das richtige für mein Problem. Das wäre sogar rund eineinhalb Euro günstiger.

Das Wechselgeld, das der Motoboy mir bei der nächsten Lieferung mit der nächsten Packung in die Hand drücken wollte, gab ich ihm als Trinkgeld zurück: Der Arme war jetzt zum zweiten Mal drei Kilometer über Buckelpiste durch die Nacht gefahren. Erstaunlicherweise wies auch die neue Packung wieder einen roten Balken auf, war also ebenfalls rezeptpflichtig. Neugierig beugte ich mich über das Kleingedruckte. (Beipackzettel müssen auf besonders teurem Papier gedruckt sein, von dem so wenig wie möglich verschwendet werden darf, anders sind die für Normalsichtige nahezu unlesbaren Schriftgrößen nicht zu erklären.) Dieses Mal hatte Conceicao mich mit einem so starken Antibiotikum versorgt, dass der Hersteller extra darauf hinwies, es solle nur dann eingesetzt werden, wenn kein anderes Medikament in Frage käme.

Im Internet fand ich ziemlich schnell, was ich eigentlich suchte: lösende Tropfen gegen Ohrverstopfung, zwei Varianten, ein homöopathisches Mittel, ein allopathisches, beide mit Namensangabe, beide ohne Rezeptpflicht. Also rief ich Conceicao zum dritten Mal an. Das muss sie als Kritik aufgefasst haben, denn sie erklärte mir, sie habe 20 Jahre Erfahrung. Zum Glück hatte sie außerdem auch das allopathische Lösungsmittel gegen verstopfte Gehörgänge. Es kostete mehr als das Antibiotikum, aber Conceicao gewährte mir großzügig eine Art Irrtumsrabatt.

Als der Motoboy zum dritten Mal vor meiner Tür hupte, entschuldigte ich mich für die Umstände. Er blickte kurz auf das neue Päckchen in seiner Hand und sagte fachmännisch: „Ach, Cerumin wolltest du haben - das verschreiben die Otorrinolaringologistas (so heißen die HNOs hier) gerne, wenn jemand nach dem Baden verstopfte Ohren hat.“ Manchmal weiß der Motoboy mehr als die Apothekerin.
Das hatte ich nicht gedacht.

*Motoboy werden Lieferanten genannt, die gegen geringe Gebühren Botenfahrten auf dem Moped erledigen

Sonntag, 19. Oktober 2008

Exklusives Fressen


Es ging ihr um die Quote. Nicht nur ihr. Aber sie war die einzige, die es geschafft hat, den jugendlichen Entführer mitten in der Entführung exklusiv und live in ihre Sendung zu bekommen. Synchron zu dieser journalistischen Sonderleistung kritisierte der Moderator eines anderen Senders das „unverantwortliche Verhalten“ der Kollegin und gab zu bedenken, immerhin seien Entführer psychisch labile Personen. Blödsinn, muss sich Sonia selbstbewusst gedacht haben, als sie sich in ihrer Sendung forsch zur „Vermittlerin“ zwischen Entführer Lindemberg und seiner Familie aufschwang.

Der 22Jährige hatte die Wohnung seiner 15jährigen Ex gestürmt, die er zwar einen Monat zuvor verlassen hatte, nun aber gerne zurück haben wollte. Nach eigener Aussage wollte er sie zu einem Gespräch zwingen. Da die Schülerin gerade mit Freunden lernte, traf er drei weitere Jugendliche an, und machte aus dem Überraschungsbesuch eine Spontan-Geiselnahme. Zwei Revolver und eine ganze Tüte voller Munition hatte er dabei. Wieso, hat ihn Sonia nicht gefragt. Zum Zeitpunkt des Live-Interviews hatte er die anderen Jugendlichen bereits frei gelassen, und Spezialisten der Polizei verhandelten bereits seit mehreren Tagen mit ihm über eine Freilassung auch von Eloá.

Als Sonia Abrao den Geiselnehmer Lindemberg auf seinem Handy anruf, erbot der sich freudig, in ihrer Sendung live über seine Lage zu reden. Das brachte Sonia und dem eher unbedeutenden Sender TV! Fünf Minuten lang gleiche Quoten mit den „Großen“ Record und SBT.

“Da sag nur einer, ich habe die Verhandlungen gestört, das ist nicht wahr. Niemand hier handelt unverantwortlich, ich kann das machen, und würde es auch wieder tun. Falls etwas passiert, dann nicht wegen uns“, da habe sie ein reines Gewissen.

Nach dem Live-Interview lief alles anders. Plötzlich wollte der junge TV-Star die letzte Geisel nicht mehr herausgeben. Noch plötzlicher schlüpfte die bereits freigelassene Freundin Nayara spontan zurück in die Wohnung zu Eloá und dem Geiselnehmer. Ein Schuss fiel. Das Sondereinsatzkommando stürmte – mit Gummikugeln in den Waffen – die Wohnung. Weitere Schüsse fielen.

Das geschah am Freitag Nachmittag. Gestern nachts um 23 Uhr 30 wurde bei der Schülerin Eloá infolge der schweren Kopfverletzung der Hirntod festgestellt. Ihre Freundin Nayara erholt sich von einem Kopfschuss. Lindemberg ist unverletzt in Polizeigewahrsam,.

Manche geben die Schuld dem brasilianischen Polizeisystem. Manche nur dem Polizeichef, der das Stürmen der Wohnung beschlossen hat. Manche fragen, wieso eine 15Jährige überhaupt seit fast drei Jahren einen Freund haben kann.

Lindemberg soll vor Polizisten nur ständig wiederholt haben, er liebe Eloá, er wolle nur Eloá, sie sei alles in seinem Leben. Die Beamten sagten der Presse, der junge Mann sei offensichtlich vollkommen verstört und sich der Geschehnisse nicht bewusst. Sein Anwalt lehnt es ab, ihn weiter zu vertreten. Das Volk will ihn lynchen. Zur eigenen Sicherheit wurde er deswegen in ein anderes Gefängnis verlegt.

Eloás Eltern haben derweil beschlossen, die Organe ihrer toten Tochter zu spenden.

Statistiken zeigen: Die Sender, die ihre Programme für die Live-Berichterstattung über das Geiseldrama unterbrochen haben, hatten die besseren Quoten. War ja auch ein besonders exklusives Fressen.

Foto (ig.ultimosegundo):AE
Trauernde Freunde von Eloá

Samstag, 18. Oktober 2008

Lula und Marta: Opfer von Vorurteilen


Er konnte nicht unmittelbar darauf eingehen, was seine Lieblingskandidatin Marta in Sao Paulo verzapft hatte, weil er auf Reisen war. Aber jetzt ist Präsident Lula zurück und eilte der Genossin endlich zu Hilfe. Marta Suplicy hatte sich in der vergangenen Woche mit indiskreten Fragen zum Privatleben des Gegenkandidaten als geeignete Bürgermeisterin von Sao Paulo profilieren wollen – was zu reichlich Polemik und eher Stimmenverlust als Stimmengwinn geführt hatte. Die umstrittenen Radiospots werden übrigens längst nicht mehr ausgestrahlt.

Laut „O Globo“, einer der wichtigsten Zeitungen des Landes, sagte Lula heute wörtlich:

"Ich war nicht da (auf Reisen im Ausland) als ich ein weiteres Vorurteil gegen diese Frau sah, das die Idee verbreiten wollte, diese Frau habe Vorurteile gegen Homosexualität. Gerade diese Frau, die als wir alle Vorurteile hatten, schon im Fernsehprogramm ‘TV Mulher’ die Minderheiten dieses Landes verteidigte.“*

Weiter habe der Präsident in Sao Paulo heute gesagt:

“Sie haben es geschafft, eine Kämpferin und Verteidigerin aller Minderheiten dieses Landes in eine Anklägerin eben dieser Minderheiten zu verwandeln. Oft nehmen wir so einen Schlag einfach hin und schlagen nicht zurück.Wer nimmt denn an den Paraden auf der Avenida Paulista teuil und wird auf der Avenida Paulista vergöttert? Wer wurde schon Opfer von Vorurteilen, weil sie Minderheiten verteidigt hatte? Genau diese Marta Suplicy."

Danach verglich er die gebeutelte Kollegin mit sich selbst, ebenfalls einem Opfer von Vorurteilen:

“Ah, mein Gott im Himmel, wenn die Presse nur mich jedes Mal verteidigen würde, wenn sie mir diffamierende Fragen stellen. Wenn sie mich jedes Mal verteidigte, wenn jemand fragt: 'sprechen Sie Englisch?', also können Sie Brasilien nicht regieren.”

Kommentare erübrigen sich.

Alldieweil der wichtigste Mann im Staat abschließend auch noch den Grund lieferte, warum überhaupt Martas Wahlkampfbüro auf die Idee kam, Fragen zu verbreiten, die dem politischen Gegner Homosexualität unterstellten:

“Wir sprechen nur schlecht über den Anderen, wenn wir nichts Besseres zu präsentieren haben.“


*der etwas holperige Stil ist eine Spezialität des Präsidenten – vor allem beim freien Reden

Foto (O Globo): Antonio Milena/AE

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Relaxe e goze, Marta

Einfach so heraus gerutscht ist es ihr dieses Mal garantiert nicht. Das konnte Marta Suplicy Ex-Bürgermeisterin von Sao Paulo, Ex-Tourismusministerin und aktuelle Bürgermeister-Kandidatin für Sao Paulo beim letzten peinlichen Spruch noch behaupten. Mitten in der Luftfahrtskrise des Landes, als Passagiere wegen Überbuchungen stunden- und tagelang auf ihre Verbindungen warteten und manche gar das Weihnachtsfest auf Flughäfen verbrachten, hatte die Ministerin geraten: „relaxe e goze“. Die Menschen sollten demnach einfach „entspannen“ und - tja, wie übersetzt man jetzt den zweiten Teil? Genießen, ließe sich sagen. „Einen Orgasmus haben“ gehört außerdem zu den gebräuchlichen Bedeutungen von „gozar“. „Relaxe e goze“ wird seitdem genüsslich bei den diversesten Gelegenheiten zitiert. Zuletzt bei einer Gay parade.

Die Gay community von Sao Paulo gehört übrigens zu den Stammwählern von Marta, die sogar bei Besuchen in Favelas ostentativ Designer-Klamotten trägt, für ihre Shoppingtiuren nach Europa berühmt ist, und die ihre öffentliche Karriere als TV-Sexologin begann. Irgendwie ist ihr da wohl etwas durcheinander geraten. Letzte Woche verbreitete ihre Wahlwerbung einen Spot, der ziemlich penetrant die Wähler fragte: „Kennen Sie Kassab? Wissen Sie ob er verheiratet ist? Ob er Kinder hat?“ Kassab ist amtierender Bürgermeister von Sao Paulo, knapper Gewinner der ersten Wahlrunde und Martas Gegner bei der Stichwahl am letzten Oktober-Wochenende. In Umfragen liegt er vor der Ex-Bürgermeisterin, die nach ihrer Amtszeit so desaströse Finanzen hinterließ, dass ihr Nachfolger beinahe zwei Jahre brauchte, um Brasiliens Wirtschaftsmetropole aus den roten Zahlen zu manövrieren.

Kassabs eindeutiger Vorsprung mag Marta nervös gemacht haben. Unter ihren Stammwählern hat es allerdings eher zu allgemeiner Unzufriedenheit geführt, dass die zweideutigen Fragen ihres Radiospots die Gerüchte-Küche um Kassabs mögliche Homosexualität bedienen. „Verletzung der Privatsphäre, Vorurteile und Homophobie“, warfen Sprecher von Gays und Feministinnen der Kandidatin vor. „Dumm“, waren die Fragen, fand der Organisator der Sao Paulo Gay Parade. „Verheiratet sein, ist auch Politik, alles ist Politik“, verteidigte Marta wenig überzeugend ihre Kampagne. „Sie kann doch nicht zum Feind übergetreten sein, das ist unmöglich!“, kommentierte entsetzt die Hardcore-Feministin Maria Amélia de Almeida Teles. Insgesamt jedoch ist es den Wählern, so zeigt eine neue Umfrage, zu zwei Dritteln völlig schnuppe, ob ihr Kandidat Familie hat, oder nicht. Die Frage beschäftigte schließlich das Gericht: Dürfen Wahlkampagnen so direkt unter die Gürtellinie zielen?

Dürfen sie nicht. Kassab bekam deswegen Gelegenheit zur Antwort - innerhalb der Sendezeit, die eigentlich Marta für ihren Wahlkampf zugestanden hätte. „Mein Leben ist ein offenes Buch“, beteuerte Kassab also sichtlich glücklich. Martas dumme Fragen haben seine Umfragewerte auf heute 51 Prozent der Wahlabsichten in die Höhe getrieben. Sollte sie Ende Oktober verlieren, kann sich seine Gegenerin außerdem auf ihren eigenen Kommentar gefasst machen: „Relaxe e goze, Marta!“

Montag, 13. Oktober 2008

Ausverkauftes Blond, plötzlicher Rassismus und ein Todesurteil


Ich träume von langen Haaren. Immer schon. Jeder hat so seine kleinen Eitelkeiten und heimlichen Wünsche, warum also nicht lange Haare. In Brasilien ist der Wunsch naturgemäß eher noch stärker geworden. Neben all den herrlichen langen, dichten Locken, die hier so durch die Gegend schwingen, sieht mein eigener Flaum noch dünner aus als sonst. Ich weiß, dass manche hiesigen Lockenbesitzerinnen ihre Pracht ohne zu zögern gegen meinen Flaum tauschen würden – weil er blond ist. Das nutzt mir aber wenig, denn bekanntlich sind die Zeiten vorbei, in denen das Wünschen noch geholfen hat.

Oder auch nicht. Vor ein paar Monaten in Rio weckte eine Freundin neue Hoffnung in mir. Sie war gerade dabei, einem Bekannten lange Rastazöpfe zu flechten. Nicht, dass der Bekannte lange Haare gehabt hätte, er hatte einen dürren drahtigen Krauskopf, bevor sie mit dem Flechten anfing. Dank diverser Pakete „Dream Hair“ konnte er einige Stunden später eine Fülle winziger Zöpfchen weit über seine Schultern schwingen lassen. „Das mache ich dir auch“, versprach meine Freundin, „du musst nur die Haare kaufen.“

Ich lernte eine Straße in Rios Zentrum kennen, die ich nie zuvor betreten hatte und in der sich ein Falsch-Haar-Laden an den anderen reiht. Manche verkaufen auch Echthaar-Implantate, da kostet eine knappe Handvoll blonden Flaums – allerdings gute 60 Zentimeter lang – lockere 80 Euro. Dream Hair hingegen gibt es ab umgerechnet 2 Euro 50 das Päckchen. Nur nicht in Hellblond. Jedenfalls nicht an diesem Tag und auch nicht am nächsten und übernächsten. Ich fuhr fünfmal ins Zentrum, solange ich in Rio war, aber Hellblond blieb ausverkauft. „Das liegt daran, dass Blond unter den Käuflichen in Copacabana gerade in Mode ist“, tröstete mich meine Freundin. Zurück zu Hause musste ich feststellen: In Recife war Hellblond auch ausverkauft.

Fündig wurde ich Monate später - in Berlin. Geflochten hat dann eine Ghanaesin in München, deren Deutsch weniger weit reichte als ihre Geduld: So blieb unsere Unterhaltung sehr bruchstückhaft, während der Sitzung. Die ersten vier Zöpfchen ergaben ungefähr die Dicke meiner Echthaare, und knappe zehn Stunden später konnte ich unzählbar viele Rastazöpfe nahezu in meiner eigenen Haarfarbe aber von einer Länge bis weit unten auf den Rücken schwingen! So viel Haar hatte ich noch nie. Beinahe hätte ich meine persönliche Fee zum Abschied geküsst.

Wenig später zurück in meinem Fischerdorf, kam meine neue Haarpracht nicht ganz so gut an wie in Deutschland, wo die Zöpfe allen gefallen hatten. Im angeblich so gar nicht rassistischen Brasilien bekam ich Bemerkungen zu hören, wie: „Wenn jetzt die Weißen anfangen, Schwarze sein zu wollen, da hört sich doch alles auf!“ Oder „Dabei hatte sie so schöne Haare…“ Meine Ex-Friseurin drohte gar: „Dir werden die ganzen Haare ausfallen, du wirst schon sehen!“

So weit ist es nicht gekommen: Letzte Woche musste ich mich amputieren.

Schon ein paar Nächte lang hatte ich schlecht geschlafen, weil mich ein lästiger Juckreiz plagte. Ich dachte an Ameisen im Bett und suchte vergeblich. Bis ich im Haus einer Freundin über mein Leiden klagte. Die bekam ein schuldbewusstes Gesicht und fing an, auf meinem Kopf herum zu zupfen. Dann zerknackte sie etwas Undefinierbares zwischen Daumen und Zeigefinger und murmelte: „Ich fürchte, du hast auch welche abbekommen. Meine Tochter hat Läuse aus der Schule mitgebracht.“ Klang leider sehr plausibel. Die kleinen Knäuel, die meine nachwachsenden Haare am Ansatz inzwischen gebildet hatten, waren sicher ideale Laus-Nester. Kein Problem, Läuse loszuwerden: Einfach an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen die Haare mit Anti-Kopflaus-Shampoo waschen, das Ganze nach einer Woche wiederholen, fertig. Also ab in die Apotheke, Flasche Shampoo gekauft und nach Hause. Da entdeckte ich noch einen Hinweis in der Packungsbeilage: Haare so kurz wie möglich halten und mehrmals täglich mit dem feinen Kamm durchkämmen. Das war das Todesurteil für meine Zöpfe.

Ich machte noch ein Abschiedsfoto und schnitt sie ab, einen nach dem anderen. Lächerliche zwei Stunden später hatte ich meinen Flaum wieder. Der kam mir jetzt im Gegensatz so kärglich vor, dass ich mir ein Tuch umband, als ich das nächste Mal aus dem Haus ging. Unterwegs traf ich eine Bekannte, die mich prüfend ansah und mitleidig fragte: „Was ist mit deinen Haaren passiert? Hast du sie abgeschnitten?“ Ich gestand ihr die Geschichte und sagte traurig: „Vermutlich finde ich hier nie wieder jemanden, der mir neue Zöpfe flechten kann.“

„Ich kann das“, sagte meine neue Fee, „du musst nur die Haare kaufen, dann mache ich dir neue Zöpfe.“ Wenn nur das Blond nicht wieder ausverkauft ist.

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Schwarze Liste für das Telemarketing

Sao Paulo ist uns mal wieder einen Schritt voraus. Und wenn ich die Paulistanos weder um ihr Verkehrschaos, noch um ihre Luftverschmutzung beneide – die neue Liste hätte ich hier in Pernambuco auch gern. Weil ungefähr jeden zweiten Tag bei mir das Telefon klingelt. Nein, viel öfter klingelt der Festnetz-Apparat tatsächlich nicht: Privatmenschen haben Handys und deutsche Redaktionen kommunizieren per Mail.

Die meisten meiner Festnetz-Gespräche verlaufen etwa so: Eine sanfte Stimme säuselt „Guten Tag, mein Name ist Sheila, spreche ich mit Christine?“ Der Namenstrick weckt sofort im wehrlosen Unterbewusstsein eine Resthoffnung darauf, dass es um mich gehen könnte, in diesem Telefonat. Also lege ich nicht gleich auf. Und sage, „Ja, Sie sprechen mit Christine, worum geht es denn?“ Es geht um mein Geld. Immer. In den meisten Fällen wollen die Sheilas des Telemarketing mir eine Kreditkarte andrehen. Und wenn ich sage, „habe ich schon“, werden sie erst richtig heiss. So eine Sheila loszuwerden, kann dauern, schließlich sind sie darauf trainiert, sich nicht abwimmeln zu lassen. Mir ist dabei schon so mancher Kaffee übergekocht, Reis angebrannt oder Schlaf vergangen.

Wohnte ich in Sao Paulo, hätte ich demnächst Ruhe. Keine Sheilas mehr. Gestern hat der Gouverneur ein Gesetz unterschrieben, das eine schwarze Liste für Telemarketing vorsieht: Wer sich darauf einträgt, darf nicht mehr angerufen werden. Kein fröhliches Drauflos-Wählen für die Sheilas mehr, in Sao Paulo müssen sie bald erst auf die Liste gucken. Wer dann noch angerufen wird, ist selbst schuld – oder darf vor Gericht gehen, falls irgendein übereifriger Werber den Namen auf der Liste übersehen hat. Die Strafhöhen werden in den nächsten Wochen fest gesetzt. Ob andere Bundesstaaten planen, ähnliche Gesetze einzuführen, ist leider bislang nicht bekannt.

Heute habe ich eine Rundmail bekommen. So eine, die schon von weitem nach Virus riecht, weil die cc-Liste so lang ist. Ich habe sie trotzdem geöffnet, weil im Betreff stand: „Rache dem Telemarketing“. Hat sich gelohnt. Als mich wenig später eine Lygia anrief, die mir eine Kreditkarte andrehen wollte, habe ich gesagt. „Oh, das interessiert mich sehr. Ich habe nur gerade einen Topf auf dem Herd stehen, könnten Sie bitte kurz dran bleiben?“ Natürlich konnte Lygia dran bleiben. Ich habe erst mal in Ruhe Kaffee getrunken, Wäsche gewaschen und Blumen gegossen. Gelegentlich habe ich vorsichtig den Hörer hochgehoben, um zu lauschen, ob Lygia noch wartet. Sie hat eine halbe Stunde ausgehalten, dann war sie weg. Fand ich beinahe ein bisschen schade. Deswegen habe ich beschlossen, das System zu perfektionieren. Diese Wartezeit lässt sich sicher noch steigern, durch kurze Zwischenbescheide, wie bei den Firmenwarteschleifen, etwa so: „Nur noch einen Moment Lygia, ich komme sofort…“.

Ich hoffe schon den ganzen Tag, dass das Telefon klingelt und mich eine Sheila anruft. Hoffentlich hat Lygia mich nicht auf eine schwarze Liste gesetzt. Sie hat aus Sao Paulo angerufen, und da sind sie uns ja immer einen Schritt weiter.

Sonntag, 5. Oktober 2008

Prost auf die Demokratie

Heute ist hier im Ort schon seit morgens Party. Die ganze Hauptstraße entlang sitzen die Menschen auf den Bürgersteigen und trinken und lachen und diskutieren. Heute sind Kommunalwahlen, und eigentlich ist es hier im Bundesstaat den ganzen Tag verboten, alkoholische Getränke zu verkaufen. Vielleicht haben sich die fröhlichen Feierer schon vorher mit Bier und Schnaps eingedeckt und jetzt Kühltaschen mitgebracht?

Vielleicht ist das Trinken aber auch ihre Art, sich über die gezwungene Ausübung der Demokratie lustig zu machen, nach dem Motto: Wenn ich schon wählen muss, wähle ich eben betrunken. In Brasilien müssen alle Menschen zwischen 18 und 70 Jahren wählen gehen. Das ist seit 1932 so, und dementsprechend haben wir hier Wahlbeteiligungen von 85 Prozent – die laut Untersuchungen auf 55 Prozent absinken würde, wäre das Wahlrecht freiwillig auszuüben. Wer weder wählt, noch sein Nicht-Wählen ordentlich entschuldigt, darf sich nicht auf öffentlich ausgeschriebene Stellen bewerben, keinen Personalausweis oder Reisepass beantragen – oder muss eine Strafe von bis zu 45 Reais zahlen. Das sind umgerechnet weniger als 20 Euro, aber so weit hat vermutlich niemand das Gesetz gelesen. (Lei 4737/65. art 7º).

Wer nicht lesen kann, muss übrigens nicht wählen: Analphabeten sind von der Wahlpflicht ausgenommen. Warum? Ist mir unbekannt. Theoretisch sind sie auch nicht wählbar, so steht es jedenfalls in der Verfassung. Die Christliche Soziale Partei (PCS) findet, dadurch würden die 16 offiziell registrierten Millionen Analphabeten des Landes benachteiligt. Vielleicht wird also demnächst diese Bestimmung der Verfassung als nicht verfassungskonform erklärt. Die Analphabeten unter den Kandidaten müssten sich natürlich auch nicht so blauäugig outen, wie das in diesem Jahr zwei Bürgermeisterkandidaten, 15 Kandidaten für Vizebürgermeister und 294 Gemeinderatskandidaten getan haben, die offen zugeben, weder lesen noch schreiben zu können. Weitere 76.000 Kandidaten haben keinen mittleren Schulabschluss – darunter sind sicher auch noch ein paar funktionale Analphabeten versteckt.

Der Spitzenkandidat hier in Recife kann sicher lesen und schreiben – immerhin wäre seine Kandidatur beinahe daran geplatzt, dass seine Mitarbeiter im Erziehungssektor der Stadt per Mailkampagne für ihren Chef als künftigen Bürgermeister geworben haben. Ein öffentliches Amt und die damit verbundenen Privilegien für den Wahlkampf zu nutzen, ist gesetzeswidrig. Joao behauptet frech, alle seine Mitarbeiter haben freiwillig und spontan ihre positive Meinung über den Chef verbreitet, er habe da keinen Einfluss drauf gehabt. Resultat: Joao bleibt wählbar, und es sieht ganz so aus, als werde er der neue Bürgermeister. Mit noch mehr Mitarbeitern, auf die er keinen Einfluss haben wird. Dann doch lieber einen Analphabeten? Oder nicht wählen und Strafe zahlen? Oder gleich einen trinken gehen?

Inzwischen ist es übrigens draußen noch ein bisschen lauter geworden: Seit 18 Uhr ist der Alkoholverkauf wieder erlaubt und es kann Nachschub besorgt werden. Prost auf die Demokratie!
 
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