Dienstag, 30. Oktober 2007

Pobreme mit den Konsonanten

Letzte Woche haben mich meine beiden Beinahe-Söhne besucht. Sie sind zehn und acht Jahre alt, waren lange Jahre meine Nachbarn und haben damals oft mehr Zeit bei mir verbracht als bei ihrer Tante, bei der sie seit dem Tod ihrer Mutter leben. Jetzt dauert es vier Stunden Busfahrt, wenn sie mich besuchen wollen, und wenn sie hier sind, komme ich zu nichts, weil wir dauernd reiten gehen müssen, und Pizza backen und an den Strand zum Surfen.

Wie einer typischen Teilzeitmutter fallen mir erst mal alle Veränderungen an den beiden auf: Italo ist endlich der zweite Schneidezahn nachgewachsen. Polho wächst nur langsam, wird aber immer kräftiger, fast könnte man schon sagen pummelig. Und was mich tatsächlich etwas beunruhigt: Die beiden lernen offensichtlich gerade eine spezielle Version des Brasilianischen, die am ehesten vielleicht mit „Ultra-Brasilianish“ zu bezeichnen ist. So wie der Brasilianer Zé do Rock in den 90ern das „Ultra-Doitsh“ erfunden hat – eine in Grammatik und Rechtschreibung stark vereinfachte, aber in sich logische Version unserer ehrwürdigen aber furchtbar komplizierten deutschen Sprache.

Die beiden Knirpse stellen Ähnliches mit dem ebenfalls recht komplizierten portugiesischen Brasilianisch an. Für besser sagen sie „mehr gut“ und für größer folgerichtig „mehr groß“. Die Mehrzahl eliminieren sie völlig, die Verben verwenden sie weitestgehend in der dritten Person Singular. Überflüssige Silben lassen sie einfach weg, so wird aus liquidificador für Mixer „lificador“ - scheint ihnen wohl immer noch lang genug.

Da hört die Logik leider auf, und es folgt das komplizierte Kapitel der Konsonanten – die tanzen so wild, dass kaum ein R an seiner vom Wörterbuch vorgegebenen Stelle stehen bleibt. Ein Problem wird zum Pobrem, ein Fahrrad, bicicleta, zu briciqueta und so fort. Die R-Verschiebung ist mir hier im Nordosten schon vorher aufgefallen – nur passen bei den Knirpsen meine bisherigen Erklärungsversuche nicht ganz. Bisher hatte ich gerätselt: Hängen die Wort-Neubildungen mit den ähnlich weit verbreiteten Zahnlücken zusammen? Oder kommen die ungelenken Artikulationen vom ebenfalls reichlichen Zuckerrohrschnaps-Genuss hier im Nordosten? Spricht sich zahnlos oder betrunken leichter „Pordo“ für Fohlen als „Potro“ – die korrekte Variante? Aber wie steht es dann mit „Drobar“ für Abbiegen – wenn es korrekt viel einfacher „Dobrar“ heißen würde?

Hinzu kommt: Die Jungs haben weder Zahnlücken, noch trinken sie Alkohol. Damit scheint bewiesen, das Neu-Brasilianish - woher es auch kommen mag - wird an die Jugend weiter gegeben und verbreitet sich. Unklar bleibt: Ist dieses Wörter-Umbauen nun der kreative Beitrag des Volks zur Sprachentwicklung oder doch eher ein echtes Pobrem?

Sonntag, 21. Oktober 2007

Ein richtig prominenter Überfall

"Brasilien ist genau das, was Sie sehen!“, sagte kürzlich der ehemalige Präsident Fernando Henrique Cardoso – und wehrte sich damit dagegen, ein geschöntes Bild des Landes zu zeichnen. Natürlich sieht in Brasilien jeder etwas anderes, der eine lobt positive Wirtschaftsdaten, der andere kritisiert immer reichlicher vergebene Hilfen zum Lebensunterhalt und der dritte zitiert vielleicht unvermindert erschreckende Kriminalitätsraten.

In Sao Paulo etwa gab es in den ersten neun Monaten dieses Jahres 235.028 Raubüberfälle, das heißt, im reichsten Bundesstaat des Landes wurde etwa alle zwei Minuten jemand überfallen (dazu kommen ausserdem knapp eine halbe Million einfache Diebstähle). Einzelne Überfälle machen deswegen keine Schlagzeilen.

Es sei denn, es handelt sich um einen prominenten Überfall. Der kann es bis auf die Seite Drei einer der grössten brasilianischen Tageszeitungen schaffen. Etwa so, als würde Günter Jauch auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung ausführlich unter dem Titel schreiben: „Ich wurde überfallen!“ Luciano Huck, vermutlich der bestbezahlte brasilianische TV-Moderator, wählte für seine Offenbarungen in der Folha de Sao Paulo eine etwas dramatischere Überschrift. „Beinahe postume Gedanken“ nannte er die Überlegungen, die er anstellte, nachdem ihm ein bewaffneter Strassenräuber in Sao Paulo seine Rolex abgenommen hatte.

Um es gleich zu sagen: Sonderlich geistreich sind die Überlegungen des Publikumslieblings nicht. Hier ein paar Auszüge: Wo er doch alle seine Steuern zahle, habe er etwa anderes verdient. Wo er doch jeden Tag darüber nachdenke, wie er das Volk glücklicher machen könne, habe er so etwas nicht erwartet. Er hätte auch tot sein können, stellt sich der Mann vor und beklagt schon mal die trauernde Witwe, das trauernde TV-Publkum, die dann vaterlosen Kinder. Zwischendurch betont er, es gehe ihm nicht um die Rolex. Er beklagt also quasi selbstlos die absurde Kriminalität in dieser Stadt, ruft nach einem „Retter des Vaterlandes“ und behauptet schliesslich, ein fähiger Chef einer Sondereinheit der Polizei könne das Problem der Strassenräuber in einem Monat lösen.

Bei dem Überfall wurde Luciano Huck kein Haar gekrümmt - die auf seinen Artikel folgende Leserbrieflawine hätte den Mann fast erschlagen. Die gestohlene Rolex, deren Wert auf zwischen 10.000 und 50.000 Reais* beziffert wird – stellt viele Leser vor ein Moralproblem: Darf ein Rolexbesitzer sich beschweren, wenn er überfallen wird? Oder: Darf der Moderator einer der beliebtesten Jugendsendungen des Landes, in denen er seine meist mehr oder weniger bedürftigen Kandidaten auch mal fies bloß stellt, so tun, als sei er ein makelloser Gutmensch? Darf so ein Promi erst merken, dass Kriminalität existiert, wenn sie ihm selbst passiert? Oder noch drastischer: Lebt der überhaupt im gleichen Land wie wir?

Vielleicht war es Huck tatsächlich nicht klar, dass auch er mal überfallen werden könnte. Brasilien ist schließlich weltweit eines der Länder mit der größten sozialen Ungerechtigkeit, und in Hucks Kreisen verbringt man seine Freizeit auf der eigenen Insel in der Bucht von Angra oder im eigenen Hotel auf der Ökoinsel Noronha: da kommen keine Strassenräuber hin. Huck hätte tatsächlich bei dem Überfall erschossen werden können, wie er schreibt. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres ist das in Sao Paulo 67 Personen passiert – manchen sicher für weniger als eine Rolex. Und es gibt noch einen Unterscheid: Keines der Raubüberfallopfer in Sao Paulo oder sonstwo im Land hat sich bisher auf der Seite Drei der Folha de Sao Paulo ausweinen dürfen.

Anstatt diese Chance zu nutzen, um der Obrigkeit zum Beispiel zu erklären, wie sie die Kriminalität in Sao Paulos Strassen in 30 Tagen beenden könnte, hat Luciano Huck leider nur betont, wie schlecht die Welt und was für ein guter Mensch er selbst ist.

Der Polizeibeamte Roger Franchini schrieb als Antwort auf Hucks Artikel: „Ich verdiene 568,29 Reais** im Monat – dafür lasse ich mich nicht auf eine Schießerei mit Banditen ein, um Hucks Rolex wieder zu besschaffen.“

Ich glaube gar nicht mal, dass Huck seine Rolex so unbedingt wieder haben will. Ehefrau Angelica schenkt ihm sicher gerne eine neue. Nein, eher scheint es, als beschwere der Fernseh-Mann sich in seinem Artikel darüber, dass Gewalt nicht nur in TV-Spielfimen vorkommt. Und dass die Super-Helden der Polizei dagegen nur im Kino Wunder schaffen. Das eigentliche Problem ist: Brasilien ist kein Kino. Brasilien ist genau das, was Sie hier sehen. Jetzt auch Sie, Herr Huck.

* umgerechnet ca. 3800 bis knapp 20.000 Euro

** ca. 218 Euro

Donnerstag, 18. Oktober 2007

Ein richtig schöner Überfall

Hier im Großraum Recife wird man bei geschätzten 90 Prozent aller längeren Busfahrten überfallen. Von Rentnern, Behinderten, Geschäftsleuten und sogar von Kindern. Es kann ja niemand weg: Alle müssen dringend irgendwohin und können nicht einfach so aussteigen und fliehen. Das nutzen die Banditen.

Die Kinder sind wahrscheinlich am schlimmsten. Klein, dünn, armselig gekleidet und meist mit einem grenzenlos müden Gesicht, schleichen sie von einem Fahrgast zum nächsten, gucken keinem in die Augen und drücken jedem einen Zettel, manchmal auch einen Zettel und ein Bonbon in die Hand. Wer abwehrend den Kopf schüttelt, dem legen sie den Zettel und das Bonbon einfach in den Schoß. Die Papierschnipsel sind Teile von billigen Fotokopien, deren Texte vom vielen Anfassen kaum noch zu entziffern sind, obwohl sie irgendwer – wahrscheinlich kostenpflichtig – am PC getippt hat. Sie lauten meistens etwa so: „Ich habe sieben Geschwister, mein Vater ist arbeitslos und meine Mutter bei der letzten Geburt gestorben. Wenn Sie das Bonbon behalten, helfen Sie mir und meinen Geschwistern, damit wir heute abend etwas zu essen bekommen. Es kostet Sie nur 1 Real.“

Meistens tun mir die Kinder mehr leid, weil ihnen Mutter, Vater oder große Geschwister diese grauenhafte Betteltour aufgedrückt haben, als weil sie womöglich wirklich nicht immer genug zu essen haben. Vermutlich werden sie das ohnehin nie haben, wenn sie statt zur Schule zu gehen, nur lernen, fremden Leuten Bonbons in den Schoß zu werfen.

Beinahe ebenso unerträglich sind die Gläubigen. Es gibt ja in Brasilien unzählige Pfingstgemeinden und pseudo-christliche Halunken, die den Armen vom letzten Centavo noch den Zehnten abzocken wollen. Irgendwie sind viele Armen in Glaubensdingen von jeder Kritikfähigkeit befreit und kreischen glücklich jeden Schwachsinn nach. Aber dazu ein anderes Mal mehr. Die gläubigen Überfallkommandos fangen gleich schreiend an, Gott zu danken, bevor sie überhaupt erklären, worum es geht. Nachdem sie gebührend ihrem Schöpfer dafür gedankt haben, dass sie am Leben sind, dass sie heute hier in diesem Bus sein dürfen und so nette Leute treffen wie uns Mitfahrende, kommen sie endlich zur Sache. Dass sie nämlich arbeitslos sind und die Frau schwanger und die zehn Kinder beinahe verhungert und so weiter. Vergelt’s Gott, sagen sie jedem, der nach seinem Portemonnaie kramt.

Die Behinderten stellen einen vor ein besonders schwieriges Moralproblem: sie können ja nichts dafür, jedenfalls die mit den Klumpfüssen – so was läßt sich nicht mal eben als Bettelgrund herstellen und macht es nun wirklich nicht leichter, im Großraum Recife eine bezahlte Beschäftigung zu finden. Ausserdem brauchen die Behinderten immer furchtbar lange, bis sie an einem vorbei sind, und wenn es nicht gelingt, die ganze Zeit die Augen gesenkt zu halten, während sie einen angucken, dann kann schnell mal das ganze Kleingeld im plötzlich flutenden Mitleidkanal zu so einem Behinderten fliessen.

Ein nicht behindertes Unfallopfer lieferte übrigens den perfektesten Auftritt, den ich bislang in einem Bus erlebt habe, zu übertreffen eigentlich nur noch durch eine ambulante Multimedia-Präsentation. Der Mann war Ex-Busfahrer und allein dadurch schon so eine Art Kumpel von uns allen. Während er erklärte, wie ein Berufsunfall ihn berufsunfähig gemacht hatte, entrollte er ein professionell designtes Anschauungsposter in Farbe und auf abwaschbarem Material gedruckt. Er bat um Unterstützung für eine laut Anschauungsposter rettende Operation. Die Investition in das Poster dürfte sich schon im ersten überfallenen Bus rentiert haben.

„Guten Morgen“, sagte letztens einer mit auffallend neuem Plastikgürtel und der für Gläubige typischen Kleidung: Anzughose mit weißem Hemd dazu. Er schrie nicht, sondern blieb erst mal still. Dann beschimpfte er uns. Er habe uns aufrichtig einen guten Morgen gewünscht und da verdiene er ja wohl eine ebenso ehrlich gemeinte Antwort. Er würde jetzt noch einmal „Guten Morgen“ sagen und diesmal erwarte er eine lautstarke Reaktion, sonst würde er gar nicht erst anfangen mit seiner Arbeit.

Das wäre ja nun die perfekte Gelegenheit gewesen, auch ohne Flucht einen solchen Busüberfall zu verhindern. Leider verstrich sie ungenutzt, weil die halb ausgeschlafenen Fahrgäste brav laut „Guten Morgen“ riefen – vielleicht hat sie die Schimpfrede nach pawlowscher Art an die Schule erinnert. Zufrieden nahm der Mann die guten Wünsche entgegen, zeigte ein zahnfreies Lächeln und legte los. Es handelte sich um einen Familienvater, arbeitslos, was mit seiner Frau war, erwähnte er nicht.

So weit, so bekannt. Um nicht zu betteln, so sagte der Lehrmeister in guten Sitten dann allerdings überraschend, würde er jetzt ein paar Waren zum Kauf anbieten: jedes Stück für nur 1 Reais. Die Mehrzahl „Reais“ betonte er gleich mehrmals, als sei sie ein Beweis für Vertrauenswürdigkeit und Bildung. (Anders herum ist der Fehler üblich: 5 Real sagt der Mob und spart sich die Mehrzahl.) Erstaunlicherweise waren seine Waren kein zweckfreier Ramsch im eigentlichen Sinn, sondern ein hübscher Dreifarb-Kugelschreiber und ein normales Nähnadelset. „Der Kugelschreiber kostet in der Stadt mindestens 3 Reais“, flüsterte mir mein Sitznachbar zu und kaufte gleich drei. Ich nahm die Nähnadeln, die standen sowieso auf meiner Einkaufsliste und wären woanders auch nicht billiger gewesen. So schön kann es sein, wenn man von einem echten Geschäftsmann überfallen wird.

Samstag, 13. Oktober 2007

Positives Denken gegen Autoklau

Kennt jeder: Da steht man an dem Parkplatz, wo man doch eben vor dem Einkaufen geparkt hat, und: Kein Auto. Jedenfalls nicht das eigene. Meistens ist das ein Gedächtnisproblem, und das Auto steht in einfach in einer anderen Strasse. Also suchte die Masseurin Ana Claudia kürzlich an einem Freitagnachmittag nach dem Einkaufen ihren Fiat Uno erst in den Parallelstrassen, dann im ganzen Block, dann soweit sie mit ihren beiden Töchtern laufen konnte. Dann schloß sie das Gedächtnisproblem aus. In Sao Paulo werden jeden Tag beinahe 300 Autos gestohlen, diesmal war offensichtlich ihr Uno dran gewesen. Weg ist weg.

Zum Glück hat Ana Claudia eine gute Versicherung. Also hat sie nicht lange lamentiert, sondern zuhause die Garage auf Hochglanz poliert: Für den neuen Wagen, den sie von der Versicherungssumme anschaffen würde. Das ganze Wochenende freute sich die Familie darauf. Am Montagabend rief der Polizist an. Überbrachte freudig die Nachricht: „Wir haben Ihr Auto gefunden – in der gleichen Strasse, wo es verschwunden ist und in einwandfreiem Zustand.“ Schade eigentlich. Ana Claudia war nicht so richtig glücklich über die Nachricht – nach all der Vorfreude war sie gar nicht mehr so scharf darauf, ihre ungepflegte Schleuder zurück zu bekommen. Beinahe betrübt ging sie zum Übergabetermin. Überraschung: „Das ist ja gar nicht meins!“, rief sie, als sie das Auto sah. Doch, doch, meinte der Ordnungshüter. Tatsächlich, die Nummernschilder waren die richtigen. Aber die Räder waren neu, die Reifen waren neu, die Radkappen ebenfalls – und das ganze Auto strahlte und glänzte wie frisch vom Händler.

Gestohlene Autos tauchen vor allem in Großstädten gelegentlich wieder auf – wenn sie etwa nur zu einem schnellen Überfall benötigt wurden. Manche sind nur etwas verdreckt, andere haben einen leeren Tank, wieder andere einen Totalschaden. Neue Teile sind nach einem Raub eher selten. Vorsichtige raten Ana Claudia deswegen, die Reifen und Räder genau prüfen zu lassen: Nicht, dass sie unwissentlich Drogen schmuggelt. Neidische wollen wissen, wo genau sie ihr Auto geparkt hatte – um künftig auch nur dort zu parken. Böswillige unterstellen gar, die Masseurin habe einen Versicherungsbetrug geplant und irgend etwas sei schief gegangen. Und Ana Claudia? Die sagt: „Pessimismus ist Männersache, das war noch nie mein Ding – und ich hatte auch noch nie Probleme mit meinem Auto“. Hilft Positives Denken also sogar gegen Autoklau?

Montag, 8. Oktober 2007

Im Alleingang gegen das Gerundium

Die Umständlichkeit und Ineffizienz brasilianischer Behörden ist bekannt. In Brasília ist jetzt Schluß damit. Der Gouverneur hat ein Dekret erlassen. Dekrete kann ein Gouverneur ganz allein erlassen – sie müssen dann zwar noch bestätigt werden, aber erst mal gelten sie.
Gouverneur José Roberto Arruda hat also folgendes verfügt:

1. Der Gebrauch des Gerundiums ist in allen Regierungsorganen in Brasília verboten.
2. Es ist außerdem verboten, den Gebrauch des Gerundiums als Entschuldigung für Ineffizienz einzusetzen.

Danach ist er nach Washington gefahren. Und jetzt raufen sich die Zurückgebliebenen die Köpfe. Die einen, weil ihnen das Gerundium als weicher Puffer vor der Aktion so schön gedient hat. Das läßt sich am besten anhand des Kölschen erklären. Das Kölsche „Ich bin am Machen und am Tun“ etwa zeigt hervorragend, wie sich mittels Gerundium der Eindruck von wüster Aktivität hervorrufen läßt – ohne dass eine solche tatsächlich stattfinden muss. Die brasilianischen Gerundium-Profis nutzen ihre Lieblingszeit in etwa so: Wenn jemand wissen will, bis wann etwas erledigt sein wird, sagen sie beruhigend: „Wir werden für Sie am Machen sein“ – was die gefragte Aktion in eine ungewisse Zukunft verschiebt, und trotzdem ungemein offiziell klingt.

Keine Frage, solche Ausreden nerven. Aber vielleicht hätte der Gouverneur seine Provokation besser nicht im Alleingang verantwortet. Anstatt zu verstehen, dass der Gouverneur „provokant zur mehr Effizienz aufrufen“ wollte, wie er aus den USA verlauten ließ, streiten sich hier nämlich jetzt die Linguisten und raufen sich die Haare: Dem Gouverneur ist beim Alleingang gegen das Gerundium entgangen, dass das Gerundium Teil der portugiesischen Grammatik ist – und daraus nicht so ohne weiteres zu entfernen. Was der Gouverneur meint, ist der „Gerundismo“, der Mißbrauch des Gerundiums. Den beherrschen vor allem Angestellte im Telemarketing und in Behörden. Und Politiker, wie Planungsminister Paulo Bernardo beweist, als er auf die Frage antwortet, was er vom neuen Dekret hält: „Ich werde drüber am Nachdenken sein“.

Freitag, 5. Oktober 2007

Der Zirkus und die Statistik

Plötzlich lagen auf der Pferdewiese seltsame Sachen herum: Stangen und Planen und noch mehr Stangen. Sah aus, wie ein Altmetallager. Ein paar Typen wuselten dazwischen rum und erklären: „Das ist ein Zirkus“.

Wenig später stand das Zelt, davor ein wohnwagenähnliches Kassenhäuschen, das war alles. Die gesamten Zirkus-Zutaten passen auf einen klapprigen Anhänger, den wohl der noch klapprigere Chevrolet zieht, der daneben geparkt ist. Ein magerer Junge mit einem alten Gesicht radelt seither jeden Nachmittag mit einer Lautsprecheransage durchs Dorf: „Nur noch heute abend, kommen Sie in den magischen Zirkus Douglas, bringen Sie ihre ganze Familie mit!“

Mangels Familie bin ich mit der Besitzerin der Pferdewiese hin gegangen, eine respektable Dame um die 60, die gleich noch ihre depressive ältere Schwester mitbrachte, damit die mal was anderes zu sehen bekam.

So einen Mini-Zirkus sucht man ja schon milde gestimmt auf. Bereit, allerlei Unzulänglichkeiten zu verzeihen, setzt man sich auf staubige schmale Holzbretter, ignoriert die Moskitos und wartet geduldig darauf, was passiert. Zunächst kommt nacheinander so ziemlich das gesamte Dorf: Mütter, an denen mehrere Kleinkinder klammern, aufgebrezelte Teenies in Miniröcken, Männerrunden in Feierlaune und zittrige Omas drängen in das immer stickiger werdende Zelt. Die letzten müssen stehen bleiben.

Nach umständlichen Vorreden („wir möchten jeden im geschätzten Publikum vollends zufrieden stellen mit unseren einzigartigen Darbietungen“ etc etc.) balanciert uns ein kleinwüchsiger Seiltänzer etwas vor. Nur ein Teil des Publikums ist beeindruckt. Der andere kauft fleißig Bier und Popcorn bei dem mageren Jungen mit dem alten Gesicht, der ständig zwischen den Reihen umherhuscht. Zum Seiltanz gibt es Schmalzhits aus übersteuerten Boxen und ein paar Zwischenrufe der ersten Betrunkenen: „Wo sind die Frauen?“. Als auch noch ein Jongleur auftritt, ein buckliger Kerl im blauen Satinhemd, der gelegentlich eine seiner Keulen verliert, buhen die ersten, obwohl es sich um den „berühmten Michael Douglas“ handelt, nach dem vermutlich der Zirkus benannt ist.

Endlich kommt eine Frau, die „weltberühmte Jaciara“. Mindestens 1,75 gross, davon mehr als die Hälfte Beine, die allerdings unterhalb des Knies in dünne Kleinkinderwaden auslaufen, nur halbwegs kaschiert durch kleine Schnürstiefelchen. Jaciara trägt einen Glitzer-BH, einen Stringtanga, darunter fleischfarbene Nylons und lächelt huldvoll ins Publikum. Dann legt sie los. Jaciara ist kein Schlangenmensch und auch keine Trapezkünstlerin. Sie bewegt sich in einer eigentümlichen Choreographie, deren Elemente aus dem Tanz eines Roboters, einem epileptischen Anfall und einer Peepshow zusammengesetzt scheinen. Das männliche Publikum ist nicht so pingelig wie ich. Es tobt. Ein paar der Stehgäste geraten so in Fahrt, dass ein Kollege Jaciaras sie mit einigem Nachdruck davon abhalten muß, die Arena zu stürmen.

Und die Frauen? Und die Kinder? Und die Omas? Gucken gleichmütig nach vorne, als laufe gerade eine Werbung für Hundefutter, und stopfen Popcorn in sich hinein.

Nach Jaciara kommt ein Clown. Als der sagt "mein Bruder ist schwul" grölen die Leute. Als er anfängt über seine Maniokwurzel in der Hose zu sprechen, fallen sie fast von den Bänken. Danach zeigt Janaína, eine blasse Schwarzhaarige ihren beeindruckendem Bauch, den sie permanent kreisen läßt. Danach kommt der Clown und danach die kaum bekleidete Yvonne. Der magere Junge muß dem Publikum immer öfter Biernachschub holen gehen. Mir würden die rotierenden Hängebäuche jetzt allmählich genügen, aber die Besitzerin der Pferdewiese hält mich vom Gehen ab: „Wart nur ab, gleich werden die Männer anfangen, ihre T-Shirts in die Arena zu werfen, damit die Frauen sich den Schweiß daran abwischen!“, erklärt mir die 60jährige begeistert. Auch die Depressive scheint zufrieden. Niemand verläßt vorzeitig die Show, und nachdem insgesamt sechs Frauen ihre primären und sekundären Geschlechtsteile inklusive Bäuchen vor der Menge geschwenkt haben, strömt gegen 23 Uhr eine aufgeheizte Masse aus dem Zelt. Manche stehen noch eine Weile unschlüssig mit Bierdosen rum, andere schleichen sich ins Dunkel der Pferdewiese zu weiteren Vergnügungen.

Was das mit der Statistik zu tun hat? Nun, der magere Junge gehört vermutlich zu den 16 Prozent der 15-17jährigen, die trotz Schulpflicht dieselbe nicht besuchen. Und die Gleichaltrigen im Publikum könnten zu den 50 Prozent dieser Alterklasse gehören, die zwar zur Schule gehen, aber ein, zwei oder noch mehr Klassen wiederholt haben. Je weniger geübt das Hirn, desto leichter die Begeisterung über die einzigartigen Darbietungen des magischen Zirkus Douglas, oder? Ein wenig aktives Hirn stört auch wenig beim Gang ins nächste Gebüsch. Und hilft dadurch, der nächsten Statistikrubrik zuzuarbeiten: Es gibt immer mehr minderjährige Mütter in Brasilien.

Deren Mütter verstehen nicht, wie das passieren kann: Die Telenovelas zeigen bestenfalls mal leidenschaftliche Küsse. Und sie selbst lassen ihre Töchter niemals abends unbeaufsichtigt aus dem Haus. Ausser vielleicht zum Zirkus.
 
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