Freitag, 21. März 2008

Busfahren ohne Kinder-Limbo

Erinnert sich noch jemand an den Limbo? Diesen akrobatischen Tanz unter einer immer niedriger gehaltenen Stange hindurch, Beine und Hüften voran, Kopf hinterher – und das Ganze ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren? Ein beliebter Party-Spaß vor allem damals in den Achtzigern, umso lustiger, je höher der Alkoholspiegel der Tänzer.

Die Stange für den Kinder-Limbo hängt von Anfang an tief - dafür können sich die Kleinen mit den Händen daran festhalten. Sich weigern, mitzumachen, können sie nicht. Denn der Kinder-Limbo ist kein lustiger Party-Tanz, sondern die bislang einzige Möglichkeit für Kinder, zu ihrem Recht auf eine kostenlose Fahrt in öffentlichen Bussen zu kommen. Das gilt im Großraum Recife - und an einigen anderen Orten Brasiliens.

Ähnlich wie in der Pariser Metro passieren hier die Fahrgäste, nachdem sie beim Schaffner bar bezahlt, eine elektronische Fahrkarte entwertet oder ihren papiernen Fahrschein abgegeben haben, ein Drehkreuz. Kinder unter sechs Jahren müssen im Großraum Recife in öffentlichen Bussen ebenso wenig bezahlen, wie Senioren ab 65 und Behinderte mit Ausweise. Für etwa ein halbes Dutzend Vertreter der letzten beiden Personengruppen ist der Busteil vor dem Drehkreuz reserviert. Kinder müssen nach hinten. Das Drehkreuz zählt beim Rotieren die Menge zahlender Fahrgäste – und den Gegenwert in bar, Papierfahrscheinen oder elektronischen Fahrgeldern muss der Schaffner beim Schichtwechsel abrechnen. Deswegen müssen die nicht zahlenden Kinder unter dem Drehkreuz durch.

Sehr dünne Kinder schaffen es gelegentlich, sich seitlich vorbeizudrücken oder gleichzeitig mit Mutter oder Vater durchs Kreuz zu schleichen. Alle anderen tanzen den Kinder-Limbo. Hangeln sich in akrobatischen Höchstleistungen und sicher nicht immer gesunden Verrenkungen unter dem Metallbügel durch. Oberstes Ziel: den Boden nicht berühren, damit die frisch gewaschenen Hosen und Röcke nicht schmutzig werden. Zum Glück üben die Kinder dieses Kunststück jahrelang, so daß sie längst zu echten Limbo-Profis geworden sind, wenn sie ihren sechsjährigen Kinderkörper immer mehr verbiegen müssen. Ich habe in den letzten zehn Jahren nie ein Kind gesehen, das den Boden berührt hätte – obwohl manche so aussahen, als seien sie deutlich älter als sechs - und habe das immer bewundert.

Kinderrechtler haben an der artistischen Höchstleistung etwas Hässlicheres bemerkt: Dass sie entwürdigend ist, für die Kinder und deren Eltern. „Wie Vieh“ würden die Kinder behandelt, heisst es in Protesten. Jahrelang haben sich diverse NGOs dagegen aufgelehnt – ohne Erfolg. Kürzlich hat sich die Folha de Pernambuco des Themas angenommen – ein regionales Revolverblatt, das ansonsten vor allem reich bebilderte Stories über möglichst blutige Gewalttaten bringt. Und siehe da, die Folha hatte Erfolg: Demnächst will das Transportunternehmen EMTU elektronische Fahrkarten für Kinder ausgeben, die den Kleinen freien Zugang zum hinteren Busteil verschaffen – ohne dass sie vorher den Limbo tanzen müssen. Das neue System einzuführen, kostet umgerechnet gute drei Millionen Euro. Laut Folha soll es bis Ende des Jahres fertig sein. Scheint mir eine ziemlich optimistische Zeitplanung. Ich fürchte, bis zum Busfahren ohne Kinder-Limbo wird es noch eine Weile dauern.

Sonntag, 16. März 2008

Die Mango-Party ist vorbei

Beim ersten Mal habe ich geglaubt, es hätte jemand eine Open-Air-Party im Wald gefeiert und zu viel Schnaps dabei gehabt. Danach hat es nämlich gerochen. Stark alkoholhaltig. Flaschen waren aber keine zu sehen. Auch sonst keinerlei Spuren einer Party. Erst nach einer ganzen Weile habe ich gemerkt, dass der Geruch von vergorenen Früchten stammte: Haufenweise Mangos, die auf dem Waldboden vor sich hin gärten. Weil hier in der Gegend so viel uralte und hochproduktive Mangobäume in der Gegend stehen, dass alle professionellen Mangosammlerinnen, zufällig vorbeikommende Spaziergänger, Affen und Fledermäuse zusammen genommen es nicht schaffen, sie auch nur annähernd alle zu verzehren. Nur leider war ich zu spät gekommen, um noch irgend etwas von der paradiesischen Fülle zu haben.

Seitdem habe ich mir angewöhnt, ab September nicht ohne dem aus dem Haus zu gehen, was man in Städten gemeinhin einen City-Rucksack nennt. Ich bin zur Sammlerin regrediert, zur Mango-Sammlerin. Am Anfang der Ernte muß man noch richtig aufpassen, wo es schon reife Früchte gibt, meist ist das bei den Bäumen in den feuchteren Tieflagen zuerst der Fall. Die ersten Früchte sind so begehrt, dass es sogar welche im Supermarkt zu kaufen gibt. Später kaufen nur noch Wochenendeurlauber, breitet sich im Wald immer öfter der Alkohol-Geruch aus. Das rechte Früchte-Sammeln will überhaupt gelernt sein: Bäume direkt an den Hauptfußgänger-Verkehrsadern sind meist schon am frühern Vormittag abgeerntet. Wo Hühner in der Nähe wohnen, sind meist alle, aber auch wirklich alle Früchte irgendwo angepickt. Wo der Boden hart ist, platzen die reifen Mangos schon beim Aufprall auf und verfaulen unmittelbar danach. Am besten ist eine weiche Wiesenlage etwas abseits der Hauptwege. Da sammelt man eine gute Mischung aus reifen und unreifen Früchten, damit das erste Mangoshake gleich beim Ankommen machbar ist – und das letzte Fruchtfleisch erst ein paar Tage später süß wird.

Das kann ich schon ziemlich gut. Ich habe auch längst meine Lieblingsbäume gefunden, nicht zu weit vom Weg, aber auch nicht zu nah, mit verschiedenen Reifezeiten, so daß ich die ganze Erntezeit durch fleissig sammeln kann. Ebenfalls weiß ich, wie man den gesamten verzehrbaren Teil einer Mango durch ein winziges in die Schale gebissenes Loch heraussaugen kann, ohne sich auch nur die Finger schmutzig zu machen – ideal für den spontanen Snack unterwegs. Nur welche Sorte Mangos ich eingesackt habe, merke ich leider meistens immer noch erst zuhause beim Schälen. Manchmal entpuppen sich die vermeintlichen Prachtstücke dann als nahezu ungenießbare, fast ausschließlich aus harten Fasern bestehende Exemplare, die ich nicht ausstehen kann. Lecker ist eine anscheinend nur hier im Nordosten heimische herbsaure Sorte, die Ananas-Mango heißt, ebenfalls akzeptabel eine von ordentlicher Qualität, die Manga Espada heißt, und die Königin ist eine exquisite Art, zart wie Butter, die Manga Rosa heißt und auch rosa aussieht. Deren Standorte sind vermutlich eine Sache der höheren Weihgen und für Fremde nicht ohne Weiteres erreichbar: Manga Rosa habe ich noch nie selbst gefunden, höchstens geschenkt bekommen.

Von Mangos kann man sich übrigens beinahe ernähren. Zuerst habe ich nur Shakes gemixt und Saft gemacht. Dabei gibt es unendliche Mangorezepte, vom Mangocurry über das Mangochutney bis zur Mangomarmelade mit Vanille und Cointreau. Die habe ich im letzten Jahr mit den allerletzten Früchten schon ganz am Ende der Ernte ausprobiert. Als ich endlich die richtige Mischung entdeckt hatte, gab es Mangos nicht einmal mehr im Supermarkt zu kaufen. Nächstes Jahr mache ich das anders, habe ich mir vorgenommen: Da sammele ich mir eine ganze Schubkarre voll und mache ein, was das Zeug hält, damit ich den ganzen Winter über Marmelade essen kann.

Seit ein paar Tagen regnet es hier. Winterverdächtig. Gestern habe ich mich also aufgemacht. Zwar nicht mit der Schubkarre, aber immerhin mit City-Bag und diversen Plastiktüten extra. Zuerst habe ich meine Lieblingsbäume abgeklappert. Nichts. Dann habe ich mich weiter in den Wald vorgewagt. Da gab es Mangos in Fülle. Auf dem Boden. Vergoren. Es roch stark nach Alkohol, und damit war klar: Ich bin schon wieder zu spät gekommen. Die Mango-Party ist vorbei.

Freitag, 14. März 2008

Alles Creu

Die Sommerhits in diesem Jahr zeichnen sich durch besonders knappe Texte aus. Die wenigen Worte reflektieren gerne niedere Instinkte und simple Freizeitvergnügen. "Trinken, Umfallen und wieder Aufstehen", heißt so ein Mitgröl-Hit. In einem anderen quietscht eine weibliche Stimme, dass ihr Nachbarn Intimes von ihr will, und noch dazu von hinten, von hinten, von hinten. Ein dritter Song hat einen Refrain, der auf Hochdeutsch mit „meine Vagina“ übersetzt werden müßte. Der absolute Abschuß aber ist der Creu. Dieser Superhit besteht überhaupt nur aus Refrain. Das heißt: aus einem Wort. Das Wort lautet: Creu, ausgesprochen: Krä-u. Das geht dann so: E Creu, Creu, Creu, Creu, Creu, CREU.... Dazu vollführen die begeisterten Zuhörer eine angeregte Pantomime im Wortsinn. Was Creu bedeutet? Steht nicht im Wörterbuch, ebenso wenig, wie „Ficken“ im Wörterbuch steht.

Aber in den internationalen Schlagzeilen steht Creu, wenn auch nicht mit diesem Wort. Es geht um Eliot Spitzer, Ex-Gouverneur von New York. Der hat Creu gemacht. Nicht mit der Angetrauten zuhause, sondern mit einer Edelhure vom Escort-Service. In Brasilien diskutiert das interessierte Volk in einem solchen Fall in Internetforen über Qualitäten und Preis der entsprechenden Dame - sogar, wenn es um amerikanische Politiker geht. Gerät in Amerika so ein Ausrutscher in die Fleischeslust an die prüde Öffentlichkeit, nimmt der ertappte Politiker seinen Hut, tritt mit der alles verzeihenden Ehefrau an der Seite im TV auf, und sucht noch schnell einen Sündenbock. Im Fall Spitzer heißt der Sündenbock Andréia und ist eine 32jährige Brasilianerin. „Brasilianisches leichtes Mädchen bringt Gouverneur zu Fall“ heißt es in den Schlagzeilen.

Die Brasilianerin hatte mit dem Gouverneur allerdings gar keinen Körperkontakt, sie führte nur ein illegales Bordell, hatte einen Prozeß am Hals und versuchte durch Herausgabe von allerlei Unterlagen einer Haftstrafe zu entgehen. In diesen Unterlagen stand irgendeine Information, die zum Gouverneur führte. Der Handel ist Andréia gelungen: Vor ein paar Tagen wurde sie straffrei in ihr Heimatland deportiert. Nur das Bordell ist futsch. Dafür hat Andéia einen gewissen Ruhm erlangt, der in Brasilien nicht unbedingt zu ihrem Schaden sein muß. Sagt jedenfalls das Volk. So wie die Dinge im Land liegen, könnte sie vielleicht in die Politik gehen, schlägt ein brasilianischer Internaut vor, sie habe ja bereits internationale Erfahrung. Ein anderer rät der Ex-Bordell-Chefin zu einer Modelkarriere in Männermagazinen. Mehrere fragen nach Andréias Telefonnummer. Und einer schlägt vor, die brasilianische Regierung könnte eine Steuer auf Prostitierten-Dienstleistungen im Ausland erheben, da diese offenbar eine der wichtigsten Exportwaren des Landes seien.

Natürlich ist das ein Vorurteil. Es wird sich vermutlich noch lange halten: Nie macht Brasilien internationale Schlagzeilen. Und wenn es mal dazu kommt, muß es ausgerechnet um eine Puffmutter gehen. Dabei stehen wir kurz vor dem Investment Grade. Bekommen demnächst einen Regierungs-Fernsehsender. Verdienen viel mehr mit dem Export von Fußballtalenten als mit dem von Erotik-Queens. Alles nicht so wichtig: É Creu, Creu, Creu, Creu, CREU.

Samstag, 8. März 2008

Die falsche Karte

Gestern abend habe ich einen kleinen Ausflug in einen Riesensupermarkt gemacht, ausgerüstet mit einer Windjacke gegen die Gefrierschrank-Temperaturen der Air Condition und einer Kreditkarte für die Eventualitäten. Diesmal wollte nicht ich etwas kaufen, sondern meine Vermieterin. Und zwar einen Computer. Für ihre Töchter, weil sie selbst mit nur vier Jahren Schulbesuch noch unter dem landesweiten Durchschnitt von 7,4 Jahren bei der arbeitenden Bevölkerung liegt. Die Töchter haben Frau Vermieterin bildungsmäßig schon seit Jahren überholt. Und damit sie noch ein bißchen weiter kommen im Leben, sollten sie den Computer haben.

Neuerdings können sich auch weniger gut Verdienende einen PC leisten. Die Preise sind hier in letzter Zeit sensationell gefallen – der Dollar ist schwach, die Importsteuern auf Computer und Zubehör sind gesenkt worden. Außerdem bezahlt man ja in Brasilien prinzipiell alles in Raten. Bei Immobilien sind das bis zu 84, bei Flugtickets bis zu 36, bei Computern meist nur 10-12 monatliche Zahlungen. Genau danach haben Vermieters denn auch die Kosten für das jeweilige Gerät beurteilt. Nicht nach dem Gesamtpreis, sondern nach der Höhe der einzelnen Rate. Dass 12 Raten zu 108 Reais mehr sind als 10 Raten zu 111 Reais, mußte ich erst mal genau vorrechnen. Die Wahl war überhaupt recht schwierig. Herr Vermieter zum Beispiel fand vor allem Paketpreise spannend. Sowas wie: PC, Monitor, Tastatur, Maus, Lautsprecher, Drucker, Webcam und Tischchen zum Komplettpreis. Frau Vermieter hingegen ließ sich eher von den Farben der jeweiligen Bildschirmschoner beeindrucken. Die Töchter waren nicht dabei.

Nach langen Beratungen und Erklärungen und Vergleichen und Rechnungen war die Auswahl schließlich geschafft. Und dann haben sie den Computer doch nicht gekauft. Weil Herr Vermieter aus seinem Täschchen mit Kredit- und Kontokarten nur eine einzige mitgenommen hatte: Die Kreditkarte eines konkurrierenden Supermarkts, die zwar sonst beinahe überall akzeptiert wird, aber hier bei der Konkurrenz leider nicht.

Plastikgeld ist angesagt in Brasilien. Akzeptiert sogar schon an mancher Frittenbude. Die neue Zielgruppe sind die Schwachverdiener: denen erklären in jeder Fußgängerzone die Agenten der Banken und Finanzinstitute, wie sie locker ihre Kaufkraft erhöhen - ganz ohne Verdienstnachweis. Den Zinssatz erklären sie lieber nicht; im Schnitt verlangen die Karteninstitute nämlich mehr als 10 Prozent. Im Monat. Trotzdem werden sie so reichlich genutzt, dass sie im Jahr 180 Milliarden Reais bewegen. Alle größeren Läden vom Baumarkt über die Modeboutique bis zum Elektromarkt geben zudem ihre eigenen Kreditkarten aus, die inzwischen mit 138 Millionen die ursprünglichen Bankkarten (gut 90 Millionen) längst überrundet haben. Wenn man dazu noch die normalen Konto-Karten rechnet, kommt jeder Brasilianer auf mehr als zwei Karten im Portemonnaie – Säuglinge mit gerechnet.

Herr Vermieter hat fünf Sorten Plastikgeld. Zuhause. Große Enttäuschung. Frau Vermieterin meinte: „Vielleicht treffe ich ja noch schnell einen Bekannten“ und lief sofort ein paar Runden durch den ganzen Laden. „Zu dumm“, kommentierte sie dann, „sonst hätte ich das auf die Kreditkarte von irgend jemand anderem kaufen können.“ Das ist tatsächlich ziemlich üblich hier: sich unter nicht mal immer besonders guten Bekannten Kreditkarten auszuleihen. Mit ein Grund dafür, dass beinahe die Hälfte aller Kartenbesitzer mit ihren Zahlungen in Verzug ist. Was sollen sie auch machen, wenn der Bekannte plötzlich zahlungsunfähig oder unwillig ist.

Ich habe einen Moment gezögert und dann doch verschwiegen, dass ich auch eine Kreditkarte in der Tasche hatte. Gut, dass keiner gesehen hat, wie ich zwischendurch an der Imbißbude mein Sandwich damit bezahlt habe.

Sonntag, 2. März 2008

Die achte Ferienwohnung

Der Sommer ist vorbei, und es nimmt kein Ende. Zu Beginn der brasilianischen Hochsaison war es so schlimm, dass ich für meine ebenerdige Terrasse ein Gartentor gebastelt habe. Sonst standen nämlich regelmässig wildfremde Menschen in meiner Tür, spähten neugierig in meine Küche und fragten lautstark: „Sind hier Wohnungen zu vermieten?“ Tatsächlich sind hier Wohnungen zu vermieten, mehrere sogar. Aber in der Hochsaison waren sie alle vergeben. Den Ärger darüber haben die potentiellen Mieter gerne an mir ausgelassen. Bis das Gartentor sie auf einer die Höflichkeit förderlichen Distanz hielt.

Im Januar, dem Sommerferienmonat, waren wohl alle Urlauber glücklich untergebracht und die Frequenz der Suchhorden nahm ab. Jetzt sind die Ferien vorbei, abends am Dorfplatz hören nur noch die Einheimischen dem gitarrespielenden Sänger zu – und ich fürchte, bald wird auch der nicht mehr kommen. Kurz: Es ist Winterstimmung. Nur bei den Wohnungssuchenden nicht. Die kommen neuerdings wieder sehr zahlreich. Das hat zwei Gründe: Zum einen sinken in allen Ferienorten – und alle Orte am Strand sind grundsätzlich als Ferienorte zu betrachten – die Mietpreise nach Karneval. Und zum anderen träumt jeder brasilianische Städter oder Binnenlandbewohner vom kleinen Heim am Meer.

Damit das Objekt der Träume erschwinglich wird, tun sich häufig ein Dutzend Freunde oder mehrere Familien zusammen, und teilen sich Haus und Miete. Dabei entstehen gelegentlich Campingplatz-ähnliche Verhältnisse, wenn etwa – wie hier in der Nachbarwohnung im Januar – sechs Erwachsene und ebenso viele Kinder sich in einer Ein-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung drängen. Die Außendusche wird zum Zweitbadezimmer, die Terrasse zum erweiterten Wohn-, Ess- und Schlafraum, wenn der Platz auf dem Fußboden im Haus nicht ausreicht. Dabei sind aber alle durchaus glücklich, es ergibt sich eine praktische Arbeitsteilung, bei der jede der Frauen weniger zu tun hat, als in ihrem normalen Leben, und bei der größere auf kleinere Kinder aufpassen – ist ja alles nah beieinander. Große Häuser sind nicht gefragt, weil zu teuer. Hauptsache, man wohnt am Strand, am besten in Steinwurf-Entfernung.

Darauf haben sich die Dorfbewohner eingestellt. Gärten gibt es immer weniger hier im Dorf. Wo auch nur ein paar Meter Grün waren, hat jeder, der es sich irgend leisten kann, ein Zweit-, Dritt- oder Viert-Haus hingestellt: zum vermieten. Meine Vermieterin hat es sogar geschafft, eine Art Wohnblock aus ihrem eigenen Haus zu machen. Es steht am Hang, und hatte mal einen herrlichen Meerblick. Jetzt sehe ich (im, Erdgeschoß) auf die Blumen und Büsche, die ich glücklicherweise gleich bei Einzug auf die 1,50 mal 2,50 Meter Brachland vor meiner Terrasse gepflanzt habe. Die Leute in der Wohnung neben mir sehen auf das neue erste Stockwerk des Nachbarn.

Oben – sozusagen in der Suite Royal - wohnt die Chefin selbst mit ihrer Familie: Von ihrer Terrasse und Küche ist das Meer noch zu sehen. Dahinter sind zwei weitere Ferienwohnungen angeklebt, deren einzige Fenster in der Front neuerdings auf eine Mauer blicken lassen – weil der Nachbar auf dieser Seite beschlossen hat, sein Grundstück einzugrenzen. Über die düsteren Mauerwohnungen hat die Chefin eine weitere Reihe von drei Ferienbehausungen gestülpt, die sich eine einzige Terrasse teilen, von der aus das Nachbarhaus zu sehen ist. Als alle diese Bienenwaben vermietet waren – jeweils an mindestens 6-8 Personen aller Altersgruppen, ging es hier an manchen Samstagabenden zu, wie im Shoppingcenter.

Beeindruckt von den Einnahmen im sommerlichen Hochbetrieb, hat die Besitzerin des Bienenkorbs bereits neue Pläne geschmiedet. Jetzt, wo es etwas ruhiger geworden ist, will sie ihre Luxus-Suite teilen, weil die ihr ohnehin zu groß ist. In einem kleinteiligeren Appartment will sie künftig mit ihrer Familie wohnen, an den anderen Rest der Luxus-Suite eine Terrasse bauen, die dann meine Terrasse überdacht – fertig ist die achte Ferienwohnung. Dass sie dadurch meine Wohnung zu einem lichtlosen Maulwurfsbau macht, in dem fröhlich die Trampellaute der oberirdischen Bewohner hallen, scheint zweitrangig.

Ich hatte nach dieser Eröffnung leise gehofft, dass es mangels Mietern im Winter womöglich an Finanzkraft für die geplanten Umbaumaßnahmen mangeln könnte. Aber jetzt kommen sie wieder in Horden, die Menschen auf der Suche nach ihrem kleinen Heim am Meer. Wenn das so weiter geht, wird womöglich im nächsten Sommer ein weiteres zu vermieten sein: Das, in dem ich noch wohne.
 
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