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Samstag, 4. September 2010

Kunst und Drogen


„Die Kids hier sollten genauso leicht Zugang zu Kunst haben, wie zu Drogen und Alkohol“. Das hat Lu Araujo gestern zu mir gesagt. Lu hat für Olinda ein Musikfestival erfunden, das eine Woche lang klassische und folkloristische oder poppige moderne Instrumentalmusik in Olindas Barockkirchen bringt. Olinda ist bekannt für seine koloniale Altstadt, die sogar UNESCO-Weltkulturerbe-Rang hat. Von Olindas Slums ist weniger oft die Rede.

Heute traf ich Maestro Ivan, den Leiter des Orchesters für zeitgenössische Musik, Orquestra contemporanea de Olinda. Er arbeitet mit jungen Leuten – auch aus den Slums. Sie spielen unter anderem Musik, die Mestre Ivan erfunden hat. Eine abenteuerliche Mischung aus Klassik und Folklore, nordostbrasilianischen und afrikanischen Traditionen und der Moderne. Ein Kritiker der New York Times hat sie gehört und geschrieben, aus Brasilien sei seit Chico Science nicht mehr so Aufregendes gekommen.

Der Maestro hat mir heute erzählt, dass ihm kürzlich eine vielversprechende Flötenschülerin ihr Instrument zurück gebracht habe. Sie wolle nicht mehr spielen, habe sie dazu gesagt. Als er zu dem Mädchen nach Hause in die Favela V8 ging, um mit der Mutter zu sprechen, merkte der Maestro, dass diese ihm etwas verschweigen wollte. Zwei Wochen später war das Mädchen tot. Gesteinigt. Sie hatte sich in die Welt des Crack hineinziehen lassen und war – ungewöhnlich schnell und gewöhnlich brutal – dabei umgekommen.

Am Montagabend spielt Maestro Ivan mit dem Orchestra contemporanea de Olinda oben auf dem Platz vor der Kathedrale Igreja da Sé. Das ist einer der Höhepunkte der MIMO, Kritiker aus dem ganzen Land werden darüber berichten. In den sieben Jahren, seit die MIMO existiert, haben mehrere Tausend junge und nicht so junge Leute dabei an Workshops und Kursen teilgenommen. Manche waren schon professionelle Musiker, andere wollen es werden. Hoffen wir dass es Lu; Mestre Ivan und all den anderen gelingt, für immer mehr Kinder und junge Leute Kunst genau so erreichbar zu machen, wie Drogen. Damit sie wenigstens eine Wahl haben.

Foto: Promo

Mittwoch, 18. August 2010

Lulas emotionale Ignoranz


Vielleicht liegt es daran, dass er so beliebt ist. Mehr als 80 Prozent Zustimmung, und das in einem Land mit 190 Millionen Einwohnern, das kann einem Mann schon den Kopf verdrehen. Es ist fast zu hoffen, dass Lula nicht in normaler Verfassung war, als er kürzlich den bisher gröbsten Unfug seiner ohnehin nicht gerade rühmlichen Diplomatie-Geschichte verkündete.

Dabei gab es durchaus ähnliche Fälle in der Vergangenheit, aus denen Brasiliens charismatisches Oberhaupt hätte lernen können. Zum Beispiel die Episode bei seinem Kuba-Besuch, als er sich weigerte, die politischen Gefangenen zu besuchen oder auch nur freundliche Worte für sie zu finden. Arrogant und befremdlich wirkte es, als der ehemals selbst wegen seiner Gesinnung inhaftierte Lula die inhaftierten Oppositionellen auf Fidels Insel mit gemeinen Verbrechern in Sao Paulo gleich setzte. Politisch richtig peinlich wurde es, als die spanische Regierung und die katholische Kirche sich erfolgreich für die „gemeinen Verbrecher“ einsetzen.

Doch Lula kann noch schlimmer. Nicht nur, dass er sich neben diversen afrikanischen Diktatoren und den Südamerikanern Chavez und Morales ausgerechnet Ahmadinejad als neuesten Busenfreund ausgesucht hat. Er stellt diese Busenfreundschaft außerdem nonchalant über die Menschenrechte. Gefragt, ob er sich für die zur Steinigung verurteilte Iranerin Sakineh Mohammadi Ashtiani einsetzen würde, sagte Lula: „Da ist Vorsicht erforderlich, denn die Leute haben Gesetze, die Leute haben Regeln. Wenn sie anfangen würden, ihre eigenen Gesetze zu missachten, um den Bitten von Präsidenten nachzukommen, dann wird es bald lächerlich.“ Daraus ließe sich problemlos schlussfolgern: Die Menschenrechte zu respektieren scheint Lula lächerlich.

Ein paar Tage später schienen dem brasilianische Präsident Zweifel über seine eigene Aussage gekommen. Jedenfalls kam er bei einer Wahlkampfveranstaltung für seine Wunschnachfolgerin noch einmal auf Sakineh zu sprechen. In der ihm eigenen spontanen und lässigen Art, mit der er die Wähler so spielend für sich gewinnt, lancierte er etwas, was er selbst als „humanitären Appell“ bezeichnete und kündigte an, er werde seinen Kumpel Ahmadinejad anrufen, um über den Fall zu sprechen. Den Appell formulierte Lula folgendermaßen: „“Wenn diese Frau Unbehagen auslöst, werden wir sie gerne hier in Brasilien aufnehmen.“ Damit lag er gleich doppelt daneben. Unbehagen löst nicht Frau Mohammadi Ashtiani aus, sondern die Art, wie das Regime von Ahmadinejad mit ihr umzugehen droht. Ganz abgesehen davon, was die Bezeichnung „diese Frau“ über den Respekt aussagt, den der Sprecher der Verurteilten entgegen bringt. Wie um seine erschreckend ignorante Haltung zu zementieren, trällerte der Präsident abschließend fröhlich einen brasilianischen Gassenhauer, dessen Refrain lautet: „Wirf den ersten Stein, ai, ai, ai“.

Nicht nur beim Freien Sprechen unterlaufen dem Präsidenten solche groben Schnitzer. Auch überlegt vorgebrachte Aussagen können ihm peinlich geraten. Der iranische Regierungssprecher kanzelte Lulas seltsames spontanes Asylangebot ziemlich harsch ab und befand – hart an der Grenze der Beleidigung, der brasilianische Präsident sei „sehr menschlich und emotiv, aber wohl nicht ausreichend informiert über den vorliegenden Fall“. Das ist zumindest insofern zutreffend, als Lula selbst vorher reichlich naiv geäußert hatte: „Über den Fall der Menschenrechte im Iran, da weiß ich nicht, wie die funktionieren.“

Die Adjektive menschlich und emotiv klingen denn auch aus dem Mund des Sprechers des iranischen Außenministeriums nicht gerade wie ein Kompliment. Aber das kommt bei unserem beliebten Präsidenten nicht an. Ist der Mann so an Zustimmung gewöhnt, dass er alle Kritik einfach ausblendet, umdeutet, rationalisiert, wie die Psychologen sagen? Anders ist es kaum zu verstehen, wenn er dem Regierungssprecher immer noch fröhlich antwortet: „Ich bin glücklich, dass der iranische Minister gemerkt hat, dass ich ein emotionaler Mann bin. Ich bin sehr emotional.“ Das heißt dann wohl emotionale Ignoranz.

Foto: Lula weint über die Nationalelf (gesehen bei estadao.com.br, Foto von Paulo Liebert AE)

Mittwoch, 11. August 2010

Kinderglück beim Klauen?

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Samstag, 10. Juli 2010

Freundliche Lügen aus dem Callcenter

Wer heutzutage eine Dienstleistung braucht, hat es ja immer seltener mit echten Menschen zu tun. Sprachcomputer steuern unter Abfragung persönlicher Daten von Geburtsdatum bis zum Namen der Mutter (vermutlich, um sicher zu gehen, dass sie nicht ihrerseits mit einem Computer sprechen) durch komplizierte Menüs, und wenn das Ziel endlich in erreichbarer Nähe gerückt scheint, bricht gerne die Leitung zusammen. Manchmal bedienen einen auch als Menschen getarnte Roboter, die vorformulierte Texte vom Teleprompter ablesen, vollkommen unbeeindruckt vom Gesprächsanteil des Kunden.

Mit diesem Spiel habe ich den größeren Teil des letzten Tags vor meiner Abreise zugebracht. Den letzten Versuch, musste ich leider abbrechen, weil es Zeit wurde, an Bord des Flugzeugs zu gehen, das mich nach Deutschland bringen sollte.

Ich hatte vorgehabt, mein Internetabo für die zwei Monate Abwesenheit zu unterbrechen. Die Servicenummer des Anbieters ist aus dem Ausland nicht zu erreichen. Leider sei es nur über diese Nummer möglich, eine Unterbrechung zu veranlassen, so sagte die letzte der freundlichen Callcenter-Mitarbeiterinnen, kurz bevor ich ins Flugzeug stieg. Trotzdem versuchte ich, über eine Website für Reklamationen, doch noch zu meiner kostensparenden Unterbrechung zu gelangen. Tatsächlich erhielt ich am 9.6. eine Antwort auf meine Anfrage: Leider sei es den Mitarbeitern meines Internetanbieters nicht gelungen, mich telefonisch zu erreichen, und deswegen konnten sie mir nicht helfen. Logisch. Wie sollten sie mich auch unter meiner brasilianischen Festnetz-Nummer erreichen, wenn ich in Deutschland war. Das mailte ich den Unbekannten zurück – und bestärkte dabei noch einmal meine Bitte um Unterbrechung des Internetservices bis zum 3. Juli. Es kam keine Antwort mehr.

Wieder an meinem brasilianischen Schreibtisch, musste ich feststellen: keine Internetverbindung herzustellen. Also die Servicenummer angerufen. Und erfahren: mein Abo war unterbrochen! Sie könne gerne die Wiederherstellung beantragen, sagte die Dame im Callcenter, aber ich müsse mit 24-48 Stunden Wartezeit rechnen, länger gewiss nicht, das garantiere sie mir. Als ich nachhakte, ob das nicht schneller hinzubekommen sei, brach die Leitung zusammen. Ich habe mich dann einfach zuerst um die Pferde gekümmert, das Haus geputzt, die Reisewäsche gewaschen und Freunde besucht.

Nach 48 Stunden lief das Internet immer noch nicht. Eine weitere freundliche Callcenter-Mitarbeiterin erklärte mir, ihre Kollegin habe vor 48 Stunden zu Protokoll gegeben, sie habe mich über die Unterbrechung informiert – und nicht etwa eine Wiederherstellung meiner Leitung veranlasst. Das könne aber jetzt sofort nachgeholt werden. Allerdings sei die Wartezeit…

Ich verlangte, mit einer höheren Hierarchiestufe verbinden zu werden. Die freundliche Dame von der Supervision verstand mein Unglück und versprach zu veranlassen, dass ich binnen weniger als 24 Stunden online gehen könne. Ihr Wort darauf, sagte Elaine.

24 Stunden später lief mein Internet nicht. Der freundliche Edimar erklärte mir, das würde es auch noch lange nicht tun, denn es sei ja am 12.6. abgestellt worden und die Mindest-Unterbrechungszeit betrage 30 Tage. Das hatten seine beiden Vorgängerinnen doch glatt versäumt, mir mitzuteilen! Ich verlangte wieder nach höherer Hierarchie-Ebene.

Eine freundliche Dame aus der Supervision bestätigte die Worte Edimars. Es sei ihr nicht klar, warum ihre Vorgängerinnen anderes vermittelt hätten. Ich wurde dramatisch. Sprach von Aufträgen der nächsten Monate, die mir nun durch die Lappen gingen. Von Miete, die ich nicht würde zahlen können. Nur die 12 hungernden Kinder sparte ich mir noch auf. Carol hielt auch so Rücksprache mit noch einer höheren Ebene. Und teilte mir dann mit, sie könne mein Internet jetzt sofort wieder zum Laufen bringen. Dann müsse ich allerdings die volle Gebühr zahlen, als sei das Netz nie abgestellt gewesen. Grumpf. Ansonsten könne ich ja bis Montag warten, dann würde ich eine Antwort auf meine Reklamation bekommen und erfahren, wann denn mein Netz normal wieder angestellt werden könne.

Ich sagte, na dann habe ich ja keine Alternative. Doch, behauptete Carol. Und fragte – ganz offensichtlich für die Rechtsabteilung, denn diese Gespräche werden natürlich alle mitgeschnitten: Sind Sie also einverstanden, die vollen Gebühren zu bezahlen. Muss ich ja, grummelte ich, aber hinterher kann ich mich ja immer noch beschweren. Nein so geht das nicht, befand Carol nun sehr streng. Entweder ich sagte ja, ohne wenn und aber, oder ich wartete bis mindestens Montag. Normalerweise würde man so etwas Erpressung nennen. Nur bei Internetanbietern anscheinend nicht.

Andererseits hatte ich wahrlich keine Lust noch das ganze Wochenende von der Welt abgetrennt zu bleiben. Also forderte ich Carol säuerlich auf: Sie können Ihre Frage nochmal stellen. Und antwortete brav: Ich bin einverstanden. So, Ihr Netz ist bereits freigeschaltet, säuselte Carol fröhlich. Darf ich mal live testen, fragte ich. Aber gern.

Es ließ sich keine Verbindung herstellen. Das kann nur ein technisches Problem sein, befand Carol und stelle mich bereitwillig in die entsprechende Abteilung weiter. Dort informierte mich eine freundliche Technikerin, dass mein Netz zwar freigeschaltet sei. Dass aber zur tatsächlichen Verbindung zusätzlich einer Autorisierung nötig sei. Und die könne bis zu 24 Stunden dauern.

Ich war sprachlos. Erklärte dann der Technikerin mein komplettes Gespräch inklusive Erpressung von Carol. Worauf sogar die Technikerin kurz sprachlos blieb. Noch mehr, als sie feststellte, dass Carol mir zudem eine falsche Protokollnummer angegeben hatte.

Daraufhin verbündetet sie sich etwas regelwidrig mit mir, nannte mir die korrekte Nummer und bot mir an, mich umgehend in die gleiche Supervisionszelle zurückzustellen, in der Carol an ihrem Headset saß und sicher dachte, ich fände sie garantiert nie wieder. Dann müssen Sie sich nur noch mit ihr verbinden lassen, sagte meine gerechtigkeitsliebende Freundin.

Ha! Ich malte mir aus, wie ich mit zunächst unverfänglichen, dann aber immer fieseren Fragen zum Punkt hinlenken würde. Alles für die Aufnahme und die Rechtsabteilung. Carol sollte sich wundern!

Meine Triumphgedanken währten nicht lange. Carol?, fragte eine Dame aus der Supervisionsabteilung. Die arbeitet erst nachmittags. Aber wie konnte sie dann um 8 Uhr 57 mit mir gesprochen haben? Das konnte sich die Dame leider nicht erklären. Rufen Sie doch später nochmal an, forderte sie mich freundlich auf.

Später lief das Internet.

Samstag, 17. April 2010

Skalpierte Frauen

Zurzeit läuft in Nordbrasilien eine Kampagne gegen das Skalpieren. Ja, in Brasilien wird bis heute skalpiert. Gar nicht mal selten. Vollständige Erhebungen gibt es nicht, aber es sind wohl mindestens 50 Skalps jedes Jahr, die vor allem im Norden vor allem Frauen und Mädchen vom Kopf gerissen werden. Im Norden nicht etwa deswegen, weil dort besonders viele Indiostämme besonders blutige Bräuche pflegen, sondern weil dort viele Menschen unter bescheidensten Umständen auf Booten leben.

Wer auf einem Boot lebt, verrichtet dort alle Alltagstätigkeiten, vom Waschen und Kochen bis zum Zähneputzen und Haare-Kämmen. In Brasilien hat der Kurzhaarschnitt für Frauen bestenfalls in Metropolen wie Sao Paulo oder Rio bescheidenen Einzug gehalten, für die absolute Mehrheit der Brasilianerinnen ist eine üppige lange Mähne der Inbegriff von weiblicher Schönheit. So auch für die meisten Bootsbewohnerinnen. Wenn diese während der Fahrt auf ihrem Boot ihre langen Haare kämmen, passiert es: Das Haar verfängt sich in der Schraube des ungeschützt offenliegenden Motors, wird aufgewickelt bis an die Haarwurzel – und dann reißt die Motorkraft der Frau den Skalp vom Kopf. Manchmal nur einen Teil der Kopfhaut mit Haaren, manchmal die kompletten Haare, manchmal inklusive Augenbrauen oder sogar Ohren und Teilen der Gesichtshaut. Manche Frauen sterben an den Unfallfolgen, alle werden grausam verunstaltet.

Viele Familien haben nicht genug Geld, der Verletzten eine Perücke zu kaufen, manche kümmern sich aus Abscheu nicht einmal mehr um die Unfallopfer ihrer Familie im Krankenhaus. Die verunstalteten Frauen leben im Abseits der Gesellschaft, finden nur unter großen Schwierigkeiten Partner oder einen Job. Allein im Bundesstaat Amazonas sind schätzungsweise 100.000 Boote mit Personen unterwegs –ein Drittel davon außerhalb jeder Kontrolle. Bislang hat die Vereinigung der skalpierten Frauen 1400 Opfer gezählt, die Dunkelziffer dürfte weit darüber liegen.

Anfang 2010 hat Lula ein Gesetz verabschiedet, das den 28. August zum Tag des Skalpierens erklärt. Kürzlich wurde zudem beschlossen, dass den Skalpierten eine gesetzliche Entschädigung von umgerechnet etwa 1450 Euro zusteht. Das ist selbst in Brasilien kaum genug für eine Schönheits-OP, die den Frauen ein normales Aussehen zurückgäbe. Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria do Socorro Pelaes Damasceno, verlor ihren Skalp als Siebenjährige und hat bereits diverse OPs hinter sich, in denen ihr Gesicht wieder hergestellt werden sollte. Bislang ohne zufriedenstellendes Ergebnis. „Wir fordern, dass Chirurgen, die OPs zur Wiederherstellung durchführen, in unseren Bundesstaat kommen, denn wir haben nicht die nötigen Mittel, um zu ihnen nach Sao Paulo oder Rio zu reisen“, sagt Maria

Obwohl bereits im Juli des vergangenen Jahres ein weiteres Gesetz verabschiedet wurde, welches den Einsatz ungeschützter Motoren auf Booten verbietet und mit Bußgeldern sowie Bootsführerscheinentzug bestraft, geht das Skalpieren weiter. „Wie sollen wir denn unseren eigenen Vater oder Ehemann anzeigen, wenn dieser unseren Lebensunterhalt verdient?“, gibt Maria do Socorro zu bedenken.

Hat mal jemand daran gedacht, dass der gesetzlich geforderte Schutz zu teuer sein könnte, für Menschen, die sich nach einem Unfall nicht einmal eine Perücke leisten können? Oder dass es vielleicht mehr Wirkung zeigen würde, Schutzvorrichtungen zu stiften, anstatt Strafen zu verhängen?

foto: Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria de Socorro, verlor außer ihrem Skalp auch beide Ohren (Antonio Cruz, Agencia Brasil)

Donnerstag, 18. März 2010

Versuch eines Massenmords


Es soll endlich ein Ende nehmen. Ich will keine tierischen Schnüffler und Schnorrer mehr im Haus beherbergen. Schluss mit den ungebetenen Gästen. Gegen Beutelratten und andere Nager habe ich bereits vor Monaten die fiese Futtermischung aus Maisstreuseln und Zementpulver ausgelegt. Keine Ahnung, ob und wie viele sich tatsächlich damit den eigenen Magen zementiert haben. Jedenfalls scheint sich meine Unerbittlichkeit bei den Viechern herumgesprochen zu haben: die Säcke mit Pferdefutter bleiben seitdem unangenagt.

Anders erging es bis vor wenigen Tagen jeglichen Lebensmitteln, die ich in meiner Küche gelagert hatte. Tomaten, Papayas oder Äpfel, die ich zum letzten Nachreifen auf dem Küchentisch liegen ließ, wiesen immer exakt an dem Morgen, an dem sie perfekt gereift und zum Verzehr geeignet waren, hässliche vielleicht daumennagelkleine Knusperstellen auf. Zu klein für Nager. Angemessen für Schmarotzer geringerer Körpergröße. Als ich mir kürzlich nachts ein Glas Wasser aus der Küche holen wollte, wimmelte da der Beweis: Kakerlaken führten einen orgiastischen Tanz auf. Auf dem Fußboden, auf dem Tisch, in der Spüle zwischen den frisch gespülten Gläsern und Tellern.

Ich spüle jetzt jedes Küchenutensil mindestens zweimal gründlich: einmal, wenn ich es nach Gebrauch säubere, um es wegzuräumen. Und ein zweites Mal, wenn ich es aus dem Schrank oder vom Regal nehme, um es zu erneut zu benutzen. Unter den Schrank legte ich eine Art Maispulverimitat aus, das die Viecher töten sollte. Und im Internet recherchierte ich nicht sonderlich ermutigende Informationen: Kakerlaken haben auf dieser Erde bereits eine deutlich längere Geschichte als Menschen. Sie passen durch millimeterkleine Öffnungen, verstecken sich in Rohren und Ritzen, leben gerne in Sickergruben mitten in den menschlichen Exkrementen, können aber notfalls auch wochenlang ohne Wasser und Nahrung auskommen. Sie verpacken ihre (vielen!) Eier in kleinfingernagelkleine schmale Kapseln, die sie überall hinkleben.

Seitdem ich das gelesen habe, finde ich ständig Kakerlakeneierpakete: Im Schrank an ein sauberes Handtuch geklebt. In eine Ritze der Mauer geklebt. Unter einen Teller geklebt. Und letztens sogar in der Packung der papiernen Teefilter an einen solchen geklebt. Kakerlaken haben zwar einen winzigen Kopf, aber trotzdem ein gut funktionierendes Gehirn – das ist irgendwie dezentral untergebracht. Als ich abends auf meiner Terrasse Dutzende von Fühlern entdeckte, die wie Sensoren durch die Luft tentakelten, begann ich mich zum ersten Mal unterlegen zu fühlen.

Vermutlich gehörten diese Fühler Spionen, die für den Rest der Mannschaft heraus fand, was ich als nächstes gegen die Viecher unternehmen wollte –um dem Gift dann eben so sicher auszuweichen, wie sie es offensichtlich mit meinem Maispulver-Imitat handhabten: Das hatte nicht viel mehr ausgerichtet als meine Katze, die täglich zwar zuerlässig rund ein halbes Dutzend Kakerklaken erledigt, aber damit nur unwesentlich zur Verringerung des Bestands beiträgt. Experten raten dazu, in Abständen von mehreren Wochen wiederholt Kammerjäger einzusetzen, um so einer Plage Herr zu werden. Manche Forenbeiträge im Internet vertreten gar die Meinung, ein von Kakerlaken heimgesuchtes Haus würde erst dann kakerlakenfrei, wenn man es komplett abfackelt.

Abfackeln geht nicht, weil das Haus nicht mir gehört. Kammerjäger geht auch nicht, weil die unfehlbar Mittel und Gifte verwenden, die auf der Basis von Pyrethroiden hergestellt sind. Über Pyrethroide, ihre Wirkungen und Nebenwirkungen, sowie über Vereinigungen von Pyrethroid-Geschädigten habe ich vor vielen Jahren als Praktikantin der taz Hamburg einen Text geschrieben. Seitdem weigere ich mich, solche in meinem Wohnumfeld einzusetzen. Meine wochenlange Recherche in Supermärkten, Futterhandlungen und Apotheken ergab: auch alle im Haushalt üblicherweise eingesetzten Insektengifte basieren auf Pyrethroiden. Egal ob Pülverchen, Lockstoffe, Futterimitate, Giftlösungen oder Sprays. Pyrethroide stehen übrigens auf einer Greenpeace-Liste von Mitteln, die möglichst weltweit und möglichst rasch durch weniger gesundheitsschädliche ersetzt werden sollten.

Letzte Woche entdeckte ich ein Kakerlakengel. Doppelt so teuer wie die Pyrethroide, wird es in Spritzen à 10 ml angeboten. Seine Wirkung beruht auf „Sulfamid“. Sulfamid steht nicht auf der schwarzen Liste von Greenpeace. Es steht allerdings auch nicht auf der grünen Liste für die unbedenklichen Mittel. Über die gesundheitsschädigende Wirkung von Sulfamiden ist ganz einfach bislang zu wenig bekannt, um das Mittel zu beurteilen. Ehrlich gesagt befürchte ich, dass um mit einem so hartnäckig agierenden Wesen wie der Kakerlake fertig zu werden, nur absolut brutale Gifte taugen: Immerhin überleben die Viecher aller Voraussicht nach sogar einen Atomkrieg. Ich habe das Sulfamid trotzdem gekauft.

Vorgestern habe ich den Massenmord eingeläutet. Habe die Küche komplett ausgeräumt. Alle Schubladen, alle Regale, alle Schränke, alle Gewürze, alles Geschirr, sämtliches Besteck. Gewaschen, desinfiziert, Regale und Flächen mit Kerosin abgerieben. Alle Geschirrhandtücher mit garantiert höchst umweltschädlichem Chlor ausgewaschen. Alles, was zu deutliche Spuren kakerlakischen Lebens aufwies: weggeworfen. Alle nicht hundertprozentig glatten Flächen mit einem Versiegelungs-Harz gestrichen. Ich war den ganzen Tag beschäftigt, hatte hinterher zwei ehemalige Pferdefuttersäcke mit Müll gefüllt, eine Dose Harz und einen halben Liter Kerosin verbraucht. Bevor ich alles wieder eingeräumt habe, kam das Sulfamid zum Einsatz. Es ist ein bräunliches Gel, das mittels der Spritze in Ritzen in Wänden und Türen gedrückt werden kann, unter den Herd und neben den Kühlschrank. Nachdem ich eine ganze Spritze aufgebraucht hatte, habe ich vorsichtshalber das Haus verlassen: 0.05 Gramm sollten laut Packungsbeilage für einen Quadratmeter reichen, und ich hatte 10 Gramm in meinen maximal sechs Quadratmetern Küche und weitere 5 Gramm im noch kleineren Bad verbraucht.

Gestern habe ich mich wieder nach Hause gewagt. Im Bad lag etwa ein Dutzend Leichen. In der Küche lagen vier. Verdächtig wenig eigentlich. Aber eine wunderbar reife Tomate, die ich auf dem Tisch liegen lassen hatte, war unversehrt. Das lässt eine verführerische Hoffnung in mir wachsen: Angeblich sind Kakerlaken ja Kannibalen und fressen ihre eigenen Toten, inklusive dem Gift, das diese im Leib haben. Vielleicht gelingt mir diesmal doch noch ein richtiger Massenmord.

Foto: gesehen auf http://www.topgyn.com.br/conso00/noticias.php?ultima=1230

Sonntag, 7. März 2010

Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf


Am Sonntag kosten die Bustickets hier im Großraum Recife nur den halben Preis, deswegen ist Sonntag Volkswandertag. Die meisten fahren an den Strand, manche vergnügen sich auch in vollklimatisierten Shopping Malls. Es gibt noch eine dritte Gruppe, die jeden Sonntag unterwegs ist. Sie besteht vor allem aus Frauen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen, die mit großen Picknicktaschen schon in aller Frühe aufbrechen: Sonntag ist Besuchstag in Pernambucos Gefängnissen.

Letztens bin ich mit gefahren. Weil mir eine Freundin so viele Geschichten erzählt hat. Von den Vier-Mann-Zellen, die mit 20 belegt sind, und den anderen, die auf den Fluren nächtigen müssen. Von den „Capos“, die Einzelzellen vermieten und anderen, die an Besuchstagen im Hof aus Bettlaken Zelte improvisieren, die ebenfalls vermietet werden. Wie einmal ein spielendes Kind ein solches Laken runtergezupft hat und dahinter ein splitterfasernacktes Paar gerade voll bei der Sache war – illegal, denn Intimbesuche sind nur mittwochs gestattet. Wie am Eingang die Besucherinnen sogar das Höschen runter lassen müssen, damit sie ja keine Drogen einschmuggeln, drinnen aber Crack-Steine offen über die Tische verschoben werden. Und dass auch nicht-verwandte Frauen besuchen dürfen.

Also bin ich am Vorabend schon in die Kreisstadt gefahren, um von dort den ersten Bus zu nehmen, bin um drei Uhr nachts aufgestanden und um halb vier mit den anderen zum Busbahnhof gewankt. Normale Busse sind sonntags um vier Uhr morgens leer. So können wir noch eine Weile dösen, bis wir in den ersten fahlen Lichtstrahlen in Recife ankommen. Am nächsten Umsteige-Busbahnhof ist dann gleich zu erkennen, wo es weiter geht: an der Haltestelle des Gefängnisbusses hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Wir drängen uns zwischen alten Mütterchen, tätowierten Minirockträgerinnen und allen nur denkbaren Varianten Frauen in den Bus, schwanken eine weitere halbe Stunde durch einsamer werdende Straßen und kommen an im Centro de Triagem Professor Everardo Luna.

Es ist sechs Uhr morgens, die Sonne deutet erst an, zu welcher Kraft sie sich in den nächsten Stunden steigern wird, und die Schlange vor dem Untersuchungsgefängnis ist bereits mehrere Hundert Personen lang. Tatsächlich sind es vier Schlangen: die längste ist unsere, in der Frauen mit Gepäck stehen. Auch ein Alupäckchen mit Essen ist Gepäck. Die anderen Schlangen sind kürzer und für Frauen ohne Gepäck, für solche mit kleinen Kindern, für über 65-Jährige sowie eine für Männer. Die warten auf gut Glück, denn selten dürfen an einem Sonntag alle wartenden Männer hinein, nach nur Verwaltungsangestelltem bekannten Regeln wird jeweils für den aktuellen Sonntag eine Höchstzahl festgelegt, die am nächsten Sonntag schon nicht mehr bindend ist. Auch sonst gibt es allerlei Regeln. Männer dürfen kein Schwarz tragen, Frauen weder kurze Röcke und Shorts, noch zu tief ausgeschnittene oder rückenfreie Oberteile. „Lächerlich“, sagt eine, „kaum sind sie drinnen, duschen die meisten und laufen dann in den Boxershorts ihres Mannes rum“. Für alle Fälle gibt es an mehreren Ständen, die neben der Warteschlange aufgebaut sind, dezente Hosen, Röcke, Blusen oder Jäckchen zu kaufen und zu mieten.

Überhaupt ist hier einiges geboten. Da weder Handys, noch Fotoapparate mit hineingenommen werden dürfen, ist eine Gepäckaufbewahrung organisiert, die umgerechnet 40 Cent kostet, komplett auf Vertrauen beruht und hervorragend funktioniert: die Habseligkeiten werden erst in eine Plastiktüte und dann in eine leere Kühlbox gestopft, bis die Besitzerin wieder nach Hause will. Da die Sonne schon um sieben empfindlich brennt, und sich in der Folge nur noch weiter steigert, sind auch Schirmmützen, Sonnenmilch und Sonnenschirme im Angebot. Und natürlich Snacks vom Wurstbrot bis zur frittierten Pastete, Zuckerrohrsaft, Kokoswasser oder Bier für die härteren Kandidatinnen. Auf die sicher hoch lukrative Idee, Klapphocker zu vermieten, ist noch niemand gekommen. Also hocken sich die Wartenden auf Ziegelsteine von einer nahen Baustelle, auf Kartonfetzen von einem nahen Müllhaufen, auf leere Plastiktüten oder Stücke Stoff, lehnen die Rücken aneinander und nehmen die Sonne ergeben hin.

Aus einem Kombi dröhnt Musik der Evangelikalen und kündet davon, dass es auch heute Wunder gebe, wenn man nur daran glaubt. Vielleicht gilt es schon als Wunder, dass wir es um elf bis in den Vorhof des Centro geschafft haben. Der ist von weißen Mauern umgeben, die das Licht unbarmherzig bündeln und jeden Luftzug zuverlässig abhalten. So muss sich ein Hühnchen auf dem Grill fühlen. Hätte mir doch eine Schirmmütze kaufen sollen, aber wer jetzt wieder hinaus geht, muss sich anschließend ganz hinten an der Schlange wieder anstellen. So wie eine leichtgeschürzte Blondierte, die sich wohl jetzt schnell noch ein Jäckchen besorgt. Gelegentlich gibt es ein paar Zentimeter Schatten, aus dem man am liebsten nie mehr heraus treten will. Wir kaufen Mineralwasser, um es auf unsere kochenden Häupter zu tröpfeln. Vorher haben die Frauen noch erzählt, von dem Mörder, der sich frech vor die Leiche des soeben von ihm ermordeten Kindes setzt, bis die Polizei kommt und zynisch kommentiert: „Unmenschlich so etwas“. Alle Anwohner wissen Bescheid, alle schweigen, denn „lieber feige leben als ehrenhaft sterben“. Von dem ungerecht eingesperrten Ehemann. Oder davon, dass sie zum ersten Mal hier sind und noch nie mit der Polizei zu tun hatten. Jetzt spricht keine mehr. Es ist sogar für Worte zu heiß.

In kleinen Grüppchen werden die ersten ins Gebäude eingelassen. Dort werden die Taschen und Plastiktüten durchleuchtet, die Frauen müssen sich ausziehen, das Höschen herunter lassen und dann dürfen sie hinein, zur Sonntagsfrische mit dem Liebsten, Bruder oder Sohn. Manche beziehen erst mal Prügel vom Ehemann, weil sie sich nicht benommen haben, wie es ihm gefällt. Manche haben draußen ihre Spitzel. Manche leiten von drinnen einen lukrativen Drogenhandel und wollen gar nicht mehr raus. Jetzt lässt der Wachmann an der Tür einen Riesenschwung auf einmal hinein. Bis zwölf Uhr werden Besucherinnen eingelassen, dann ist Mittagspause bis halb zwei. Wenn es in diesem Tempo weiter geht, könnten wir es gerade so eben schaffen. Da knallt der Wachmann die schwere Glastür zu und legt das Gitter vor. Um 11 Uhr 45. Für uns bedeutet das: eineinhalb zusätzliche Stunden hier im Hof, auf dem Hühnergrill.

Schade, dass ich meine Kamera draußen zur Aufbewahrung lassen musste. Das wäre jetzt das Bild: Manche Frauen haben sich das Oberteil ausgezogen und stehen im BH in der prallen Sonne, eine Übergewichtige stopft sich gerade gierig das Huhn in den Schlund, das sie vermutlich eigentlich dem Inhaftierten mitbringen wollte. Auf den wenigen Zentimetern Schatten direkt an der Mauer drängen sich so viele Menschen, wie man es nicht für möglich halten sollte. Wer nicht schnell genug in den Schatten gestürmt ist, steht in der Sonne, ergeben wie ein Schaf vor der Schlachtbank. Bekommt hier nie jemand einen Sonnenstich? Und wenn, interessiert das jemanden?

Ein Mann verkauft Zweiliterflaschen mit selbstgepresstem Fruchtsaft. Als wir den ersten Plastikbecher an die Lippen setzen, bemerken wir ein leichtes Fäulnisaroma. Beim dritten Becher haben wir uns daran gewöhnt. In der Mitte des Hofes geht zuweilen so etwas wie ein winziger Hauch. Den Kopf auf den Arm zu stützen bringt ein winziges bisschen Schatten. Um halb zwei bleibt die Tür geschlossen. Sie öffnet sich erst um zwei. Um halb drei bin ich dran. Und werde abgewiesen: mein Ausweis entspreche nicht der Norm. Ich könne ja mein Glück beim Oberaufseher versuchen, wenn der es gestattet, dann ja. Der Oberaufseher sieht mich nicht einmal an. Also wanke ich zurück zur Bushaltestelle. Inzwischen sind alle Busse rappelvoll, weil all die Billigticketnutzer von den Stränden und aus den Einkaufszentren wieder nach Hause fahren. Abends um sechs stehe ich im letzten Bus nach Hause. Manche Frauen machen diese Sonntagsausflüge jede Woche. Jahre lang. Auf dem Hof hatte eine Frau eine Tätowierung quer über den Rücken die besagte: Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf.

foto: wollowski

Montag, 15. Februar 2010

Wer zu spät kommt, trifft die Dämonen


Die Evangelikalen brüllen ihre Predigten noch lauter als sonst. Sogar die Candomblé-Priester rufen ihre Söhne und Töchter zusammen, zu einer pre-karnevalesken Reinigungs-Zeremonie. Als Schutz vor den Dämonen, die in diesen hemmungslos tollen Tagen so ungehemmt durch die Straßen jagen.

Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, am Eröffnungsabend am Freitag in der frischen Brise am Marco Zero in Recifes Altstadt zu stehen und das Konzert von Zeca Baleiro zu hören. Bloß klemmte ich länger als erwartet in diversen Bussen, die allesamt nicht ihre normale Route, sondern um die „Folia“ genannten feiernden Massen herumfuhren. Die ersten zwei Kilometer des verbliebenen Fußwegs gingen schnell – dann näherte ich mich der Folia.

Die drängte sich zutraulich zusammen wie eine betrunkene Schafherde und stank wie ein Müllwagen. Zu durchdringen war sie nur, wenn man sich an einen möglichst aggressiven Tremzinho anhing: so heißen die Zweck-Polonaisen, in denen sich Freundesgruppen im Karneval durch die Massen quälen. Dunklere Straßen waren zwar weniger bevölkert, dafür aber von Lachen und Seen eindeutiger Herkunft bestanden. Die Pinkler suchten sich längst nicht mal mehr dunklere Straßen, sondern drehten sich mitten in der Folia mal eben zur Seite an die Brücke, an das nächste Auto, an eine Plakatwand zur ungezwungenen Erleichterung. Ebenso ungezwungen schütteten sie sich gleichzeitig allerlei alkoholische Getränke ins Hirn.

Als ich es – nicht zur Bühne, die war unerreichbar – bis zu eine der Großleinwände geschafft hatte, sagte Zeca Pagodinho gerade : „Danke, Recife!“ – und dann erklärte einer der Organisatoren, es gäbe ja noch vier weitere Tage Karneval, wir sollten also nicht traurig sein! Traurig wurde ich erst, als ich die Schlangen am Busbahnhof sah.

Drei Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken versuchten, die Wartenden aus zwei konkurrierenden Warteschlangen per Reißverschlussverfahren in einen Bus einzufädeln bis der randvoll war. Dertweil stürmten ungesicherte Horden zwei weitere Busse, die unvorsichtigerweise bereits auf dem Weg zur Haltestelle ihre Türen geöffnet hatten. Aus einem dröhnten Hilferufe, es gäbe eine Schlägerei. Die Sicherheitskräfte zögerten kurz, erkannten dann aber, dass es, wendete sie sich der Schlägerei zu, voraussichtlich hier, wo sie jetzt standen, auch nicht mehr länger friedlich zugehen würde. Also blieben sie wo sie waren.

Ich schaffte es in den vierten Bus auf den letzten verfügbaren Platz. Als ich mich auf den bierklebrigen Sitz niederließ, drängte eine kleine Folia aus vielleicht sechs Leuten hinter mir in den Wagen. Sie stimmten alsbald in den höchsten Tönen fröhliche Karnevalslieder an, wie „Pega, pega minha rola*“, wobei ein Kleingewachsener mit nackte Oberkörper, der vor Anstrengung und Männlichkeit einen ziemlich strengen Geruch entwickelt hatte, mit voller Wucht gegen die Busdecke hämmerte. Erstaunlicherweise gab das keine Dellen, also versuchte der junge Wilde es mit den Füßen.

Danach fiel der fröhlichen Truppe eine vermutlich sinnlich gemeinte Schunkelvariante ein, bei der die Männer ihre Leibesmitte eng aneinander drängten und im Takt ihres Gesangs möglichst synchron vor und zurück schwankten. Gelegentlich geriet einer dabei ein wenig aus der Spur und torkelte einem Mitreisenden auf den Schoß. Aus anderen Bussen, die neben unserem im Stau standen, staunten uns langweiligere Passagiere zu. Mein Sitznachbar nahm einen tiefen Schluck aus seiner mitgebrachten Bierdose und kommentierte das Geschehen: „Alles Karneval, alles Spaß!“

Ich würde eher sagen: Wer im Karneval zu spät kommt, trifft die Dämonen.

foto geshen bei: g1.globo.com

Montag, 8. Februar 2010

Feuchte Brüder in den Knast


Es ist eine internationale männliche Macke, die weltweit Spuren hinterlässt. Zu Oktoberfest-Zeiten verbreiten sich internationale Duftmarken in München im ganzen Theresienwiesen-Viertel. Männern ist es anatomisch leicht möglich, sich auf der Straße zu erleichtern, und das scheint für viele Grund genug, vor allem bei feuchtfröhlichen Anlässen und nach einigem Biergenuss mehr oder weniger in der Öffentlichkeit einfach so den Hosenlatz aufzumachen und an den nächsten Laternenpfahl zu strullern wie ein Köter.

Was in München das Oktoberfest, ist in Rio de Janeiro der Karneval. Will sagen: die Hochsaison der Mackenmänner ist angebrochen. In diesem Jahr haben sie sogar einen eigenen Namen bekommen: als Mijoes – Pinkler, gehen sie neuerdings in offizielle Statistiken ein. Weil die Stadtverwaltung genug hat von den allgegenwärtigen Duftmarken und jetzt hart gegen die Pinkler vorgeht: Am vergangenen Wochenende wurde bei Probe-Karnevalsumzügen insgesamt 46 der Rumstruller festgenommen.

„Es wird nicht mehr toleriert, dass die Karnevalisten an die Türen der Anwohner urinieren. Das ist inakzeptabel. Die Stadt hat 4000 Chemie-Toiletten aufgestellt. Die Leute sollen feiern und sich amüsieren, aber dabei ihre Erziehung nicht vergessen. Die Pinkler, die in flagranti erwischt werden, bringen wir zur nächsten Polizeidienststelle“, erklärt dazu der Sekretär für Öffentliche Ordnung, Rodrigo Bethlem. Wie lange die feuchten Jungs im Knast bleiben und was danach mit ihnen passiert, sagte er nicht.

Foto: gesehen bei seraquepode.blig.ig.com.br

Montag, 18. Januar 2010

Der gezähmte Strand



Jedes Kind weiß, dass der Strand der demokratischste Raum von Rio de Janeiro ist. Die einzelnen Lebensretter-Stationen und ihr Gebiet mögen unter Hausfrauen, Gays und Modelanwärterinnen aufgeteilt sein. Aber die Stadtverwaltung hat sich da nie groß eingemischt. Nie. Sie bezahlt die Jungs auf den großen Traktoren, die jede Nacht die Spuren von Picknicks, Sportveranstaltungen, Flirts und Orgien beseitigen. Sie hat die Plakatwände mit den Sprühdüsen aufgestellt, aus denen sich Jogger oder schwitzende Touristen mit einer frischen Brise bestäuben können. Sie hat sogar – vor Jahren – versucht, ein neues überaus elegantes Modell an Kiosken an der Avenida Atlantica einzuführen. Beispiele für die Metall-Glas-Konstruktionen sind vor dem Copacabana Palace und etwas weiter unten zu besichtigen, viel weiter ist die Initiative bislang nicht gediehen. Und das war‘s. Das hätte es sein können.

Der Strand von Rio de Janeiro bietet Platz für allerlei Beschäftigungen und Geschäfte. Sonntags ist besonders viel zu sehen. Von perfekt modellierten Körpern bis zu perfekt frisierten Hunden, von Selbstdarstellern bis zu selbstvergessenen Sandburgen-Bau-Profis. Ich setze mich am liebsten irgendwo in die Mitte und gucke. Und kaufe mir all die herrlichen Snacks, die mir sozusagen unter der Nase vorbei getragen werden: Garnelenspieße oder gegrillter Käse, frische Säfte oder knuspriges Kokoskrokant. Alles hausgemacht oft besser und immer billiger als in den Bars und Restaurants. Das soll jetzt alles anders werden.

Der Bürgermeister der Stadt hat vielleicht an die nahende WM 2014 oder die ebenfalls vor der Tür stehenden Olympischen Spiele 2016 gedacht, als er verfügt hat: Nur noch industrialisierte Nahrung an Rios Stränden. Toller Wurf: Statt vieler komplizierter Euro-Normen ein einziges Gesetz. Das auch nur eine einzige Firma begünstigt. Von der nämlich künftig alle der mehreren Hundert Strandkiosk-Betreiber mit festem Standort ihre industrialisierten Waren beziehen müssen. Das erzählt der Bürgermeister natürlich nicht so gerne.

Zu gucken gibt es auch weniger. Strandsportarten wie Fuß- oder Volleyball dürfen nämlich jetzt zwischen 8 und 17 Uhr nicht mehr am Wasser betrieben werden, sondern nur noch neben der Avenida im tiefen Sand. Das macht zwar sicher mehr Muskeln, aber garantiert weniger Zuschauer: Am Strand guckt man Richtung Wasser, das ist ehernes Gesetz. Zuletzt wird es auch nahezu unmöglich, Freunde am Strand zu treffen, jedenfalls sonntags. Üblicherweise kostet es bereits ein gutes Dutzend Handygespräche, um sich in dem wilden Getümmel zur richtigen Stelle zu lotsen, orientiert an gelben und grünen Sonnenschirmen und mehr oder minder hübschen Styropor-Kühlkästen. Das war einmal. Jetzt sehen alle Kioske weiß, alle Sonnenschirme rot und alle Strandstühle gelb aus, egal ob sie Dona Dilma oder Claudete gehören.


Die Brasilianer sind nicht für ihren revolutionären Geist bekannt, sie ziehen es meist vor, still und unauffällig eine hübsch flexible, ihnen genehme Lösung zu suchen, als auf die Straße zu gehen. Aber diese Aktion des Bürgermeisters ging den Cariocas zu weit. Nutzte nichts, dass der bedrängte Mann betonte, er habe gar keine neuen Gesetze gemacht, er lasse nur zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes für ihre Beachtung sorgen. Pustekuchen. Am schlimmsten schien es den Strandgängern, künftig Kokoswasser aus Plastikflaschen trinken zu müssen, anstatt direkt aus der grünen Kokosnuss, ökologisch korrekt und außerdem natürlich kühl gehalten. Nach einigem Hin und Her – öffentlich und lautstark – ist der Gouverneur zurück gerudert. Kokosnüsse werden doch nicht verboten. Ob er das seinem teuer eingekauften Berater, dem ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani verschwiegen hat? Zu dessen „Null Toleranz“ passt solche Schwäche jedenfalls nicht so richtig.

Insgesamt wird der Spezialeinsatz markig fortgeführt: Statt 143 sollen jetzt 400 Aufpasser kontrollieren, ob alles seinen gesetzlich erlaubten Gang geht, mit elektrisch angetriebenen Skates und Elektroautos, Einsatzleitungs-Zelten und einem regionalen Einsatz-Zentrum. Zweifler gibt es trotzdem.

„Das Gesetz existiert, aber wir sind hier in Brasilien“, wird der Student Bernardo von der Agentur Reuters zitiert: „Man muss hier nur ein bisschen rum laufen, dann sieht man, wie alle Gesetze ignoriert werden.“ Der gezähmte Strand wird wohl eine Utopie bleiben.


fotos: christine wollowski (2), globo.com und reuters

Sonntag, 22. November 2009

Zeit ist Geld

Manchmal funktioniert das öffentliche brasilianische Gesundheitssystem hervorragend. Zum Beispiel fahre ich nächste Woche nach Französisch Guyana, und für die Einreise ist eine Gelbfieberimpfung vorgeschrieben. Also habe ich bei unserer dörflichen Gesundheitsstation angerufen, um höflich anzufragen, wo ich so eine Impfung bekommen kann. Schon am nächsten Tag hat mich eine freundliche Dame in der Gesundheitsstation des nächsten Orts geimpft. Vollkommen kostenlos, ich musste nur mein Flugticket in die gefährdete Region vorlegen. Nicht einmal warten musste ich.

Das mag daran liegen, dass nicht so viele Menschen Gelbfieber-Impfungen brauchen. Normal ist eher, was ich erlebt habe, als ich einen Allergietest machen wollte. Zuerst saß ich auf der Wartebank hier im Dorf, bis der Allgemeinarzt mich vorließ. Der plauderte recht nett über seine Erfahrungen mit deutscher Literatur, empfahl mir ein gaaaanz neues Medikament und schrieb mir schließlich den Überweisungsschein zum Hautarzt im nächsten Ort. Zu dem konnte ich damit aber nicht etwa einfach gehen. Zuerst musste ich im Morgengrauen in einer weiteren Schlange ausharren, um unter Vorlage des Überweisungsscheins einen Termin zu ergattern. Dieser Termin lag etwa zwei Monate nach dem ersten Arztbesuch, eine Stunde Busfahrt von meinem Dorf entfernt.

Ich hatte an dem Tag ziemliches Glück, denn von den mehreren Dutzend Menschen, die mit mir warteten, tat das die Hälfte umsonst: die Psychologin, die ebenfalls Patienten empfangen sollte, war krank und konnte nicht kommen. Unsere Dermatologin hingegen war da. „Sag nicht immer Dermatologin“, tadelte der Rezeptionsfachmann seine offensichtlich neue Kollegin, „das versteht hier niemand. Sag, die Ärztin für die Hautsachen“. Nach drei Stunden saß ich vor der Ärztin für die Hautsachen. In einem Zimmer, das an einen Klassenraum für Zwerge erinnerte. Die Dermatologin war jung, lächelte freundlich und sah lange auf meinen Schein. Dann schüttelte sie bedauernd den Kopf und sagte: „Allergietests mache ich nicht.“ Da müsse ich ins Allergie-Zentrum in Recife gehen.

Dafür brauchte ich einen neuen Schein. Der freundliche Allgemeinarzt empfahl mir ein weiteres uuuuuunfehlbares Medikament. Dann schrieb er einen neuen Schein. Die Krankenschwester riet mir, ich solle mit dem ersten Bus morgens um vier losfahren, um rechtzeitig im Allergiezentrum anzukommen. Nein, ich müsse vorher keinen Termin machen, man würde da gleich behandelt. Also gut. Um vier ist es noch kalt und dunkel. Bis ich in Recife ankam, war es hell und halb sieben. Die Schlange im Allergiezentrum war ermutigend kurz. Der Wärter an der Tür blickte auf meinen Zettel und sagte: „Für heute sind alle Termine vergeben, aber da Sie nicht aus dem Stadtbereich Recife kommen, müssen Sie ohnehin nächste Woche wieder kommen, wenn alle Auswärtigen-Termine für den Dezember vergeben werden.“ Um am gleichen Tag untersucht zu werden, erfuhr ich, muss man um vier da sein. Vor anderen Krankenhäusern schlafen die Menschen deswegen in Schlangen. Bei diesem ist das wegen der riskanten Sicherheitslage unmöglich. Aber für die Auswärtigen wie mich reichte es, um halb sieben da zu sein. Sagte der Wärter.

Als ich am Stichtag um halb sieben aus dem dritten und letzten Bus stieg, war die Schlange vor dem Zentrum bereits mehrere Hundert Meter lang, obwohl die Rezeption noch nicht geöffnet hatte. Wenig später brannte die Sonne. Meine Nachbarin hatte einen Regenschirm dabei und lud mich in den Schatten ein. In den nächsten Stunden kamen wir uns alle ein wenig näher. Tauschten Pfefferminzbonbons und Tipps, um welche Uhrzeit man in welchem Krankenhaus noch eine Chance hat. Schimpften über Männer und die Regierung. Denn in solchen öffentlichen Krankenstationen stehen fast ausschließlich Frauen Schlange. Vielleicht jammern deren Männer lieber zuhause, anstatt medizinische Hilfe zu suchen. Versorgt werden sie ja auch so.

Irgendwann kam ein mobiler DJ auf einem Moped und spielte uns ein paar Roberto-Carlos-Schnulzen vor. Leider fuhr er schnell weiter, als er merkte, dass er seine raubkopierten Best-of-CDs bei uns nicht loswurde. Um elf Uhr mittags hatte ich meinen Termin. Für den 21.12. um die Mittagszeit. Angeblich muss ich dann nicht mehr warten. Ich habe lieber nicht gefragt, wie es aussieht, falls ich einen Folgetermin brauche.

Als ich in meinem Dorf aus dem Bus stieg, hatte sich in der Nachmittagssonne eine lange Schlange vor der Einwohnervereinigung gebildet. Darin entdeckte ich meine Nachbarin. Weil Präsident Lula jetzt auch in unserem Dorf den Hunger ausrottet: Säckeweise Yamswurzeln und Maniok, grüne Bananen und Süßkartoffeln warteten in dem geräumigen Schuppen darauf, an die Bevölkerung verteilt zu werden. „Stell dich doch auch an“, riet mir die freundliche Nachbarin. Wie bedürftig einer war, fragten die unendlich geduldigen Frauen an der Ausgabe anscheinend niemanden. Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass nur der für ein paar Wurzelgemüse Stunden Schlange steht, der das wirklich nötig hat.

Tatsächlich ist es so, dass, wer kein Geld hat, ständig in der Schlange steht. An der Bank, um sich jeden Monat seine staatlichen Unterstützungen abzuholen. An der Lottoannahmestelle, wo er aufs Glück hofft und seine Rechnungen in bar bezahlt, weil er kein Bankkonto hat. An der Null-Hunger-Gemüse-Ausgabe. Und in der Krankenstation. Kurz: Wer kein Geld hat, zahlt mir Zeit. Viel Zeit.
Hsaben wir ja alle schon mal gehört: Zeit ist Geld – und also ein probates Zahlungsmittel. Für wen aber diese Zeit, die all diese Leute in den Schlangen verlieren, Geld bedeutet, das ist mir nicht klar geworden.

Foto: Wollowski

Samstag, 7. November 2009

Sicherheits-Seil gegen die Bekehrung


Heute morgen haben sie mich erwischt. Ich hatte den Müll an die Straße gestellt und dann vergessen, das Seil wieder zu spannen.

Gleich nach meinem Einzug hier habe ich nämlich ein dickes Seil in die Einfahrt gespannt. Gegen die Missionarinnen. Hier im Dorf sind schätzungsweise 80 Prozent der Bewohner religiös fanatisch. Sei es bei den Baptisten, bei den Erlösern oder der Osterbewegung. Im Dorf selbst gibt es drei solcher Kirchen, neben der die kleine katholische Kapelle beinahe wie eine Puppenstube wirkt. Und die Hirten der Schäfchen dieser Kirchen schicken alle Tage Missionarinnen aus. Es sind immer Frauen. In Zweier- oder Dreier-Grüppchen ducken sie sich unter großen bunten Sonnenschirmen durchstreifen unermüdlich die Sträßchen des Dorfs nach Opfern. Mein Seil hat sie bisher abgehalten. Die Haustür ist auch weit genug davon entfernt, als dass sie sich zum Rufen inspiriert fühlten.

Jetzt standen sie direkt an meine Haustür, und die beiden Hunde hatten nicht einmal gebellt. Faules Pack. Freundlich fragte die eine: „Bist du gerade beschäftigt?“. Nun ja, es war samstags vormittags zur Frühstückszeit. „Ich arbeite gerade“, sagte ich vorsichtshalber. „Ah, dann werde ich dich nur ganz kurz stören“, sagte die Missionarin und blätterte in ihrer Bibel. „Nur so viel, will ich dir sagen. Manche glauben ja, Jesus sei nur für die Reichen da. Aber nein, er segnet auch die Armen.“ Offensichtlich sieht es hier aus wie bei armen Leuten. Zur Bekräftigung ihres Urteils suchte sie weiter in der Bibel und las mir einen entsprechenden Vers vor, der vielleicht zwei Zeilen lang war. Länger können sich die meisten Dörfler wohl nicht konzentrieren. Ich eingeschlossen, denn ich hörte den Spruch und vergaß ihn in derselben Sekunde. „Jesus war auch ein einfacher Mensch“, sagte die Dame noch. Auch? Wie ich? Wie sie? Ich zog es vor, nicht nachzufragen, um das Gespräch nicht in die Länge zu ziehen.

Prüfend blickte die Retterin der Seelen mir ins Gesicht und fragte dann: „Liest du gern?“ Da antwortete es aus mir heraus „ja“, bevor ich nachdenken konnte. Das brachte mir ein Heftlein mit dem Titel ein: „Wer ist Jesus“, auf dem vorne ein für einen maximal 37-Jährigen ziemlich verlebter Typ in Gesundheitssandalen abgebildet ist. Innen erklärt ein Text, dass Jesus vor 2000 Jahren gelebt hatte, ein Lehrer war, der seine Lehren lebte, und dass er die Liebe gelehrt und gelebt hatte. Später ist noch die Rede von den Wundern, die er vollbracht hat, und dass wie seine Liebe imitieren sollen. Klingt hübsch. Illustriert ist das Ganze mit Bildern von Korngaben tragenden Männern und blonden Kindern. Sieht nicht sehr nach Brasilien oder dem biblischen Land aus.

Das Kleingedruckte am unteren Rand des Heftleins erklärt, warum: Es ist eine Produktion von www.watchtower.org – und wer mehr Informationen möchte, bekommt Adressen der Zeugen Jehovas in Angola, Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Ecuador, USA, Französisch Guyana, Mosambik, Paraguay, Peru, Portugal, Surinam, Uruyguay und Venezuela. Nach welchen Kriterien die Länder wohl so zusammen gefasst worden sind?

Die freundliche Dame jedenfalls hat sich gleich verabschiedet, nachdem sie mir die Lektüre in die Hand gedrückt hatte. Ihr gutes Werk für heute ist getan. Und „nächstes Mal“, so kündigt sie an: „da werden wir uns dann länger unterhalten!“

Ich weiß, was dann kommt: Einladungen und Einladungen und Abholkommandos zum Besuch des „Culto“, den ich beinahe täglich bis in mein Wohnzimmer vernehme, mit all den gebrüllten Sündenbekenntnissen und Attacken auf die Geldbörsen der Schafe. Denn umsonst ist bei diesen Leuten nur das allererste Heftlein. Kaum waren die Missionarinnen außer Sichtweite, habe ich deswegen sofort mein Sicherheits-Seil gespannt. Vielleicht sollte ich noch ein Schild dazu hängen: Vorsicht bissige Hunde.

Foto: Wollowski

Samstag, 17. Oktober 2009

Plopp, da war die Kröte

Manche mögen allmählich denken, ich erfinde diese Tiere. Manchmal glaube ich selbst kaum daran, dass sie echt sind. Deswegen habe ich diesmal gleich das Original fotografiert. Und darüber andere, womöglich wichtigere Handlungen vergessen. Aber der Reihe nach. Letztens beim Zähneputzen wurden plötzlich meine Füße nass. Der Zusammenhang erschloss sich mir nicht sofort. War ja auch noch früh am Morgen und ich nicht ganz wach. Beim Gesicht Waschen wurden meine Füße noch nasser. Ein bisschen Anschauung im Bad brachte mich auf folgende Lösung des Rätsels: Das Wasser aus dem Waschbecken fließt in ein Abflussrohr, das einen zweiten Zulauf am Fußboden des Bades hat. Und was oben gerade abgeflossen war, spülte mir nun unten die Füße. Unschön.

Ich weiß, ganz Brasilien singt derweil fröhlich „wir sind Olympia“, wer nicht singt, bereitet sich auf die WM in Südafrika vor, andere nutzen die Gunst der Stunde, sich schnell illegal die Taschen zu füllen - und überhaupt gibt es viel Wichtigeres als eine Überschwemmung im Bad. Deswegen wollte ich das Problem so schnell wie möglich lösen. Stocherte also mit einem dicken Draht in dem unteren Abflussloch herum. Und brachte tatsächlich ein bisschen Sand und Laub zutage. Laub findet man in deutschen Abflüssen seltener, weil in deutschen Häusern zwischen Wohnraum und Dachziegeln meist ein Dachboden ist und also das Laub nicht einfach so durch Lücken zwischen den Ziegel herein flattern und womöglich unbemerkt heimtückisch daran arbeiten kann, Abflüsse zu verstopfen. Es gelang mir, noch ein wenig mehr Laub zu angeln, aber nicht sehr viel. Nicht genug, um das Problem zu beheben.

Die nächsten Tage übte ich also, mir mit möglichst wenig Wasser den Mund auszuspülen. Das Gesicht wasche ich seitdem in mehreren Etappen. Die verkraftet der Abfluss.

Gestern wollte ich das Bad putzen. Mit ungesund riechenden chemikalischen Zusätzen namens Pinho Sol: Falls es wegen des drohenden Wasserstaus nicht richtig sauber werden würde, hatte ich mir überlegt, sollte es doch wenigstens nach geputzt riechen. Fröhlich schrubbte ich den etwas sandigen Boden, die Dusche und die Wände und goss schließlich schwungvoll den letzten Rest Pinho-Sol-Putzwasser Richtung Abfluss.

„Plopp“ machte es da. Und wie im Märchen ploppte plötzlich eine kleine Kröte aus dem Abflussrohr in die Überschwemmung. Saß da auf dem Badezimmerboden und erzählte mir leider nichts von drei freien Wünschen. Die Kröte sagte gar nichts, sie saß nur da. Und ich rannte los, den Fotoapparat zu holen, damit mir das auch jemand glauben würde. Beim Fotografieren fiel mir auf, dass die Kröte beinahe exakt die Rohrgröße hatte. Sie musste sich nur ein winziges bisschen lang machen, um wieder in dem Rohr zu verschwinden. Weg war sie, als sei sie nur zum Fototermin aufgeploppt. Die Kröte war die Verstopfung, ganz klar!

Mein Vermieter fand das auch. Ich hätte es gleich ausprobieren sollen, kritisierte er, als die Kröte aus dem Rohr raus geploppt war, sofort das Wasser aufdrehen. Recht hatte er, aber ich musste ja fotografieren. Macht nichts, meinte er, schütte einfach wieder Pinho Sol in das Rohr. Dann wird sie wieder vor den Chemikalien flüchten, du nimmst sie und trägst sie tief in den Wald hinein, damit sie den Weg nicht mehr zurück findet. Kennt sich jemand mit dem Orientierungssinn von Kröten aus? Ich nicht. Ich machte mich auf eine weitere Wanderung gefasst.

Chemikalien in ein Rohr zu gießen, das verstopft ist, ist gar nicht so einfach. Ich träufelte den Krötenschreck über einen geraumen Zeitraum liebevoll hinein und wartete ab. Es geschah nichts. Keine Kröte. Kein Plopp. Keine Wanderung. Leider floss das Wasser trotzdem nicht ab. Wahrscheinlich hat das Krötentier die märchenhaften Wünsche einfach selbst genutzt und sich zuerst gewünscht, dass so ein Pinho Sol auf der Krötenhaut nicht mehr jucken sollte.

Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als morgen im Garten nach dem Rohr zu graben.

Foto: Wollowski

Donnerstag, 1. Oktober 2009

Schlechtes Karma und schlaflose Nächte


Was ist schlimmer, schlechtes Karma oder schlaflose Nächte? Letztens bin ich mitten in der Nacht von seltsamen Geräuschen wach geworden. Klang so, als würde jemand an den Dachziegeln rütteln. Genaueres Hin-Lauschen ergab, dass das Geräusch vom Dachfirst kam. Innen. Taschenlampe geholt, geleuchtet. Da guckte ein Tier auf mich runter. Mit rundlichen weißen Ohren, einem gestreiften Gesicht und einem Körper, den es lang und platt zwischen Dachbalken und Dachziegel gequetscht hatte. Wozu es da eingeklemmt war? Keine Ahnung. Während wir uns so anstarrten, schlängelte es sich in Zeitlupe weiter, Dachziegel anhebend, den langen nackten Schwanz um den Balken geschlungen.

Von unten bellten die Hunde den Eindringling wütend an, was den wenig kümmerte, waren schließlich beruhigende drei Meter Höhenunterschied zwischen ihm und den Bellern. Mein Kater, dem die Höhe wenig ausmachen würde, saß still und unauffällig in einer Ecke des Wohnzimmers – wahrscheinlich fürchtete er sich vor dem Tier, das deutlich größer war als er. Und ich starrte. Tiere töten bringt schlechtes Karma, fiel mir ein. Weil ich außerdem weder ein Waffe noch eine gute Idee hatte, ging ich irgendwann wieder ins Bett.

Am nächsten Tag suchte ich Rat bei Freunden und Nachbarn. Eie Freundin sagte: Das sind zwei. Die leben als Pärchen und haben garantiert längst ein Nest auf dem Dach, das musst du ausheben. Und warnte: die fressen Hühner und auch manchmal Katzen. Sie bezeichnete das Tier als Timbú.

Timbú, weiß ich inzwischen, ist ein typischer Ausdruck aus Pernambuco, der ein Beuteltier benennt, das anderswo Gambá genannt wird, sich von Früchten, Getreide oder Kleintieren ernährt und Nester gerne in Bäume baut. Der Cashew-Baum des Nachbarn reckt seine Äste weit über mein Dach. Darin versteckt sich womöglich das Nest. Gambá-Kinder zu töten bringt sicher doppelt schlechtes Karma.

Also habe ich Gift gelegt. Fies und gemein und in zwei Varianten. Einmal Rattengift in einem Schälchen, zwischen Dachbalken geklemmt, sodass auch sicher nicht die Katzen dran kommen. Das ist für Nagetiere, Gambás sind Nagetiere, also funktioniert das – so die Argumentationskette des Verkäufers. Und einmal in Form von Zementpulver, mit Maisschrot gemischt: den Zement sollen die Nager versehentlich mit verschlucken, und dann innerlich zementieren. Bringt sicher auch schlechtes Karma. Falls es je dazu kommt. Denn die Giftgaben sind auch nach zwei Nächten unberührt.

Mein Bekannter sagt: Die kommen Pferdefutter fressen. Und weil es das bei dir früher im Schuppen gab, bist Du auf deren Route gelandet. Der nächtliche Besucher war ein Späher, der hat nichts Fressbares gefunden, also kommen sie in ein paar Wochen wieder nachsehen. Die wirst du nicht mehr los!

Meine Bekannte sagt: Die kommen die Küken deiner Nachbarin fressen. Und schleichen sich über dein Haus an. Und weil sie nie die ganzen Tiere fressen, sondern nur die Innereien, werden sie hinterher die Leichen bei dir liegen lassen. Dann glaubt deine Nachbarin, dein Kater sei der Mörder gewesen.

Im Internet heißt es: Gambás sind immun gegen Schlangengift, nur eine Dosis, die 4000 Mal stärker wäre als um einen Bullen zu töten, brächte einen Gambá um. Und sie fressen nicht nur Hühner, sie schlürfen auch Hühnerblut direkt aus der Arterie.

Abends sitzt mein Kater jetzt oft auf einer der Zwischenwände, die nicht bis zum Dach hoch gezogen in Fischerhäusern die Zimmer voneinander trennen. Dann starrt er auf die Dachbalken. Keine Ahnung, ob er da etwas sieht oder riecht oder nur auf eine Chance wartet, seine Feigheit vom letzten Mal wett zu machen.

Ich wache inzwischen mehrmals pro Nacht von Geräuschen auf. Die sich dann jedes Mal als eingebildet heraus stellen. Meine Füße setze ich auch tagsüber nur noch vorsichtig auf – immer darauf gefasst, in eine von Innereien befreite Kükenleiche zu treten.

Mein Nachbar nennt das Tier Cassaco und empfiehlt eine Lanze. Nachts bereit gestellt, neben dem Bett. Beim leisesten Geräusch aufspringen und zwischen Balken und Ziegel zielstrebig zustechen. Kaltblütig abmurksen. Und dann glücklich weiter schlafen.

Seit gestern denke ich darüber nach, wie ich mir am besten eine Lanze baue. Ob schlechtes Karma wohl Schlaflosigkeit verursacht?

Foto: Daniel Lavenere

Sonntag, 20. September 2009

Du musst, musst, musst in den Himmel hinein


Gestern tanzten im TV übermenschengroße disneyähnliche Puppen einen albernen Hüpftanz und sangen dabei schmalzige Melodien. Zuerst wollte ich gleich weiter schalten, aber dann guckte ich vorher noch schnell genauer hin: In den Puppen steckten Menschen, und die hüpften in einer Kirche herum und sangen Sachen wie: „….denn du musst, du musst in den Himmel hinein.“ Die Texte der modernen freikirchlichen Lieder sind gelegentlich etwas eigenwillig. Meine Nachbarin etwa hört besonders gerne ein Stück, dessen Refrain lautet: „Jesus, assa-me por dentro“, was auf Deutsch etwa heißen könnte: „Jesus, brate mich von innen“. Weitere mögliche Interpretationen lasse ich hier weg, um nicht pornographisch zu werden.

Bedrohlicher scheint mir dennoch der Refrain mit der Himmelseinfahrt. Denn das meinen die Pastoren anscheinend ernst. Jeder muss in ihren Himmel. Dafür tun sie alles. Schleichen Pastoren in Capoeira-Gruppen und neuerdings sogar in die Nationalelf ein. Die Fifa hat das ostentative Vorzeigen religiöser Botschaften bei den Interviews nach gewonnen Spielen bereits ausdrücklich verboten. Daraufhin hat einer sich das entsprechende Shirt um den Bauch gebunden… Schrift natürlich gut sichtbar. Man sieht: Die Gehirnwäsche klappt bestens.

Um den Weg in den Himmel zu finden, muss sich längst keiner mehr für Kirche und Religion an sich interessieren. Ähnlich wie die Scientologen, die in den 80er Jahren ihre Kunden durch Tests zur Selbsterkenntnis köderten – immerhin mitten in der Psycho-Ära - holen die Seelenfänger der evangelischen Freikirchen ihre Kunden dort ab, wo deren Interesse liegt. Vermutlich deswegen wachsen sie von allen Religionsgemeinschaften in Brasilien am schnellsten.

Besonders beliebt bei jungen Leuten ist die Kirche „Renascer em Cristo“. Kein Wunder: in manchen Tempeln sind Tattoo-Studios integriert, andere bieten Videogames oder Reggae-Shows. Für eine pfiffige Verbindung zur angeblichen Spiritualität sorgen die pfiffigen Pastoren mühelos - selbst wenn das Thema des Abends „Extreme Fight“ heißt, wie kürzlich bei einer Großveranstaltung. Da stiegen zuerst Pastoren beim Jiu-Jitsu gegeneinander in den Ring, danach hielt ein weiterer Pastor in Army-Hosen die passende Predigt: °Kämpfe lieber um dein Leben“ hieß die originelle Botschaft.

Die neuen Gläubigen lieben diese Kirchen wegen ihrer „Flexibilität beim, Ausdruck des Glaubens“, sagt Silvia Fernandes, Professorin aus Rio, die ein Buch über die evangelischen Bewegungen geschrieben hat. Diese Flexibilität geht so weit, dass etwa der Gründer der Kirche „Bola de Neve“ auf einem Surfbrett als Altar predigt- Weil er Surfer ist und im ersten Versammlungsraum kein anderer Altar zur Verfügung stand. Inzwischen gehört das geheiligte Surfbrett zur Ausstattung der Kirche, und aus sieben Mitgliedern sind 3000 Gläubige aller sozialen Schichten geworden. „Sport und Musik überwinden alle Barrieren“, sagt Kirchengründer Rinaldo Pereira. „Selbst Leute, die nicht gerne in die Kirche gehen, mögen Surf-Contests oder Reggae-Konzerte“. Oder Extreme Fight“. Wer in die Kirche kam, um den Kampf anzusehen, geht womöglich mit einem neuen Glauben nach Hause. Den kann er sich gleich auf den Arm schreiben: „Ich gehöre Jesus“ ist einer der Renner unter den Tattoo-Botschaften.

Die Pastoren mögen Surfer sein, Rocker oder tätowiert - eines haben sie alle gemeinsam. Sogar die jüngsten wie der 15jährige Sohn von Kirchengründer Pereira. Der hält bereits Predigten wie ein Profi. Und weiss genau, was am Schluss nicht fehlen darf: "Gib und Gott wird dir doppelt zurück geben“, heißt der Zauberspruch für den Klingelbeutel.

Klingt nicht ganz so schön, wie „du musst, musst, musst in den Himmel hinein.“ Aber auch das ließe sich durchaus noch steigern. Etwa zu: „Du musst, musst, musst in den Himmel hinein, sonst wirst du von innen gebraten“.

Fotos: NYT

Dienstag, 25. August 2009

So ist das auf dem Dorf : Vom toten Fohlen, der Tollwut und einem tollen Grillabend

Es fing damit an, dass letzte Woche mein Fohlen lahmte. Vielleicht hatte es ein Huf getroffen, als fremde Pferde in der Nähe gestritten hatten. Es war keine Wunde zu erkennen, aber das kommt vor. Normalerweise nur eine Frage der Zeit. Also gab ich ihm Entzündungshemmer, ein paar Extra-Vitamine und wartete ab. Am nächsten Morgen konnte die Kleine nicht mehr aufstehen. Das ist schlecht bei einem drei Monate alten Fohlen, denn dann erreicht es Mutters Zitzen nicht mehr. Inzwischen weiß ich, wer im Dorf alles melken kann. Und dass so eine Mutterstute bis zu 20 Liter Milch am Tag produziert. Wir haben die mühsam ermolkenen Mengen mit Kuhmilch ergänzt, außerdem gab es Antibiotika – für alle Fälle.

Am nächsten Tag fragte das ganze Dorf ständig danach, ob es der Kleinen schon besser ginge. So ist das auf dem Dorf. Die Nachbarin offerierte Kokosnüsse, weil deren Wasser die beste Nährlösung ist. Ein Anderer holte beim Gesundheitsposten Nährsalzlösung für Durchfallpatienten. Ein Dritter baute einen Sonnen- und Regenschutz, und ich legte ihr ein improvisiertes Kissen unter den Kopf, damit sie mit dem Auge nicht auf dem Boden zu liegen kam. Abgesehen von wilden Schlürforgien, besonders bei der Muttermilch, wurde das Fohlen trotzdem sichtlich schwächer. Hatte es in der ersten Nacht noch mit den Vorderbeinen eine rechte Grube ausgehoben, bei den Versuchen, aufzustehen, wedelte sie am dritten Tag nicht mal mehr mit dem Schweif gegen die Fliegenbelästigung an.

Derweil waren in der Umgegend drei andere Fohlen und ein erwachsenes Pferd verstorben. Einer hatte sogar einen Tierarzt gerufen, der allerdings nur etwas von Knochenkrankheit wegen der kalten Nächte gefaselt hatte. Die verschriebenen Medikamente brachten nichts, außer dass das Pferd am Folgetag verstarb. Ein Fohlen hatte den Besitzer beißen wollen und Schaum vor dem Mund – Anzeichen von Tollwut. Bei Tollwut bricht auch oft die Hinterhand zusammen. Aber es gehört Fieber dazu. Am Abend des dritten Tages hatte mein Fohlen Fieber. Und das Jungpferd eines Bekannten war in der Hinterhand zusammen gesackt.

Als er deswegen zur Veterinärhandlung im Stadtzentrum fuhr, sah er dort ein großes Plakat hängen: Achtung Tollwut! Anscheinend grassierte der Virus bereits seit Wochen im Bezirk. Und der Bürgermeister hatte es für ausreichend gehalten, im Stadtzentrum seiner großflächigen Gemeinde auf die Gefahr hinzu weisen. Es hatte sogar eine kostenlose Impfkampagne gegeben. Nur wir hier auf dem Land wussten von nichts. Das ist das Schlechte am Landleben. In der Zwischenzeit hatte das Fohlen einen Helferfinger mit der Mutterzitze verwechselt und zärtlich in den Finger gebissen. Am vierten Tag, am Sonntag, war mein Fohlen tot. Es hatte weißlichen Schaum vor dem Maul.

Am Wochenende haben bei der Stadtverwaltung alle frei, keine Notfallnummer erreichbar, nichts. Am Montag zeigten die Behörden dafür umso größeres Interesse an meinem toten Fohlen. Tollwut ist tödlich. Auch für Menschen. Sobald die ersten Symptome auftreten, ist es schon zu spät. In Stundenfrist kam ein offizieller Tierarzt die Leiche abholen. Erst eine Obduktion kann einen gesicherten Befund ergeben. Dafür muss das zu untersuchende Gehirn noch frisch sein. Trotz der noch schwachen Beweislage mussten wir direkten Helfer umgehend ins zwei Busstunden entfernte Recife fahren, denn nur dort konnten wir uns die Anti-Tollwut-Lösung spritzen lassen.

Im ersten Krankenhaus sagte der Mann an der Pforte: „Wir nehmen heute keine Notfälle mehr an, wegen Überlastung.“ Das darf er natürlich so nicht sagen, weil das öffentliche Gesundheitssystem für jeden da ist und jeden zu behandeln hat. Wir haben trotzdem nicht auf Behandlung bestanden: Im Warteraum hockten Dutzende Grippeopfer mit und ohne Mundschutz – Ansteckung garantiert.

Im zweiten Krankenhaus verpasste uns eine freundliche Oberschwester die erste von insgesamt 5 Spritzen mit Impfstoff gegen Tollwut. Nur die Antivirale Lösung durfte sie uns nicht geben, weil die von einer Ärztin verordnet werden muss. Zwei Busse und eine Stunde später standen wir in einer Schlange im dritten Krankenhaus. Hinter uns ein Grippeopfer, vor uns ein mürrischer Trainingshosenträger, sonst noch im Raum: vier Krankenschwestern, zwei Ärzte, und wechselnde Notfälle. Einmal hing eine ältere Diabetikerin so in den Seilen, dass schnell das Elektroschock-Gerät geholt wurde. Dann sprang ein Mann in Shorts und ohne T-Shirt herein, dem die Hände auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt waren. Aus seinem Verband am Unterschenkel tropfte Blut auf den Boden. Später erzählte uns der Arzt, der Mann habe ins Haus der Diabetikerin eingebrochen – auf der Gesundheitsstation trafen sich Opfer und Täter schneller wieder, als sie wohl geahnt hatten.

Wir bekamen jeder insgesamt vier Spritzen. Zwei mit Kortison, damit die Antivirale Lösung keinen Allergieschock auslöste, zwei mit der Lösung selbst. Nebenwirkungen unerheblich, sagte der Arzt, bisschen Müdigkeit vielleicht. Ärzte untertreiben in solchen Fällen immer, aber dieser war der größte Untertreiber, der mir je unter gekommen ist. Nach der vierten Spritze hatte ich Mühe, die drei Meter bis zur Wartebank zu schaffen. Und als ich artikulieren wollte, wie es mir ging, kam nur ein lalles Nuscheln aus meinem Mund. Wie sollte ich die drei Busse und mindestens ebenso viele Stunden Fahrt nach Hause nur schaffen?

Jedenfalls musste ich dringend vorher noch auf Toilette gehen. An der Bushaltestelle wusste ich nicht mehr: War ich auf Toilette gewesen oder nicht? Leider wusste es mein Begleiter auch nicht mehr. Im zweiten Bus wurde mir klar: Ich war nicht. Der dritte Bus kam nicht. Mit einer Horde Abendschüler standen wir in der Nacht, und wenn es irgendwo einen trockenen Platz gegeben hätte, wäre ich gerne dortselbst eingeschlafen. Leider nieselte es, was die Sache mit der vollen Blase nicht leichter machte . Nach einer Stunde kam der Bus, aber eigentlich passte keiner mehr rein. Der Vorteil daran war, dass wir nicht umfallen konnten, selbst wenn wir es versucht hätten. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich den Hügel zu meinem Haus hinauf gekommen bin. Ich weiß nur, am nächsten Morgen bin ich in meinem Bett aufgewacht.

Kurz darauf klingelte das Telefon. Eine Dame von der Behörde wollte wissen, wie viele andere Personen noch mit dem Fohlen Kontakt gehabt hätten. Die müssten alle geimpft werden. Habe ich heute umgehend an alle Betroffenen weiter gegeben. „Brauch ich nicht“, sagte der eine. „Ich hab Angst vor Spritzen“, sagte der andere. „Ok, mach ich morgen oder so“, meinte der dritte. Das kommt davon, wenn keiner die Leute darüber aufklärt, welche Gefahr Tollwut bedeutet. In einem anderen Viertel sollen die Leute aus dem frisch verendeten Rind noch einen tollen Grillabend gemacht haben. So ist das eben auch manchmal auf dem Dorf.

Dienstag, 18. August 2009

Globo-TV und der Bischof


Wer hätte das nicht schon länger geahnt? Dass die ach so edlen Pastoren der vielen evangelischen Freikirchen und Sekten hier in Brasilien nicht immer rein spirituell motiviert sind? Hier auf dem Dorf jedenfalls ist nicht zu übersehen, dass neben dem Groß-Unternehmer nur der Pastor ein neues Auto fährt und ständig schicke Anzüge trägt. Beachtlich ist auch, dass es in unserem kleinen Dorf gleich drei Kirchen solcher Gemeinden gibt. Muss alles finanziert werden. Also gehört es zumindest zum Pastorendasein dazu, ordentlich Spenden einzutreiben.

Kürzlich zeigte TV Globo in den Abendnachrichten Filmausschnitte, die scharf darauf schließen lassen, dass für den Bischof der Igreja Universal, Edir Macedo, das Spendensammeln längst zur Hauptbeschäftigung geworden ist: Während eines fröhlichen Bolz-Zusammentreffens mit anderen Unter-Pastoren seiner Kirche erzählt er seinen Jungs, wie sie die Gläubigen am besten um ihr Geld erleichtern. Und wird dabei ziemlich deutlich. Die Schäfchen sollten das eindeutige Gefühl bekommen: wenn sie spenden, kommen sie in den Himmel, wenn nicht, gehe es abwärts in die Hölle. Und dass die Pastoren dabei nur nicht zu zimperlich vorgingen, mahnt ihr Kirchoberhaupt: „Bescheidene Pastoren machen keine Schnitte“. Poltern und donnern muss der geistliche Geldeintreiber „ständig im Kampf gegen den Dämon“, ein Held sein, ein Retter – und vor allem ein Kämpfer für die Kirchenkasse. Selbst kann Macedo das übrigens bestens.

Mit dem reichlich fließenden Ablass-Geld lassen es sich die Kirchenoberen gut gehen. Während es bei unserem Dorfpastor nur für ein neues Auto reicht, so hat Macedo sich neben anderen Immobilien gleich zwei Wohnungen in Miami leisten können. Gemeinsam mit anderen Seelenhütern feiert er seine Erfolge bei – ebenfalls gefilmten – Ausflügen in die Inselwelt von Angra dos Reis oder bei fröhlichen Tänzen mit den Kollegen. Besonders spirituell wirkt das alles nicht. Besonders neu ist es aber auch nicht.

Problematisch wurde die materielle Ausrichtung des Bischofs vor allem dadurch, dass er 2007 den TV-Sender Record kaufte – und seitdem eifrig daran bastelt, dem bislang nie herausgeforderten brasilianischen Einschalt-Sieger TV Globo knallharte Konkurrenz zu machen. Ungeniert kopiert Macedo die erfolgreichsten Globo-Formate – und macht seine Kopie nicht selten besser als das Original: Kein Problem mit den Spenden-Milliarden. So gut läuft die kirchliche Vergnügungsmaschinerie, dass sie TV Globo in letzter Zeit bedrohlich nahe kommt – und den Spitzenreiter in der Gunst des Publikums gelegentlich gar überholt. Genau das dürfte der Grund sein, warum TV Globo den Laien-Filme über Edir Macedo ganze neun Minuten bester Sendezeit gewidmet hat.

Schön ist das sicher nicht für die Gläubigen, zu sehen, wie ihre geistigen Vorbilder grölend lachen über ihre eigenen plumpen Sammelmethoden. Wie sie sich auf die Schenkel klopfen und so gar keinen Respekt für ihre Schäfchen zeigen. Seit dem 10. August sind der Bischof und neun seiner Mitstreiter außerdem angeklagt wegen Bandenbildung und Geldwäsche – weil sie das Spendengeld ins Ausland verschafft und wieder zurück geschmuggelt haben sollen, um es so für ihre Zwecke umwidmen zu können.

Natürlich konnte der Oberpastor solche Angriffe nicht ewig schweigend hinnehmen. Am Wochenende ließ er nun - in einer entsetzlich langatmigen Antwort-Sendung im eigenen Sender - verbreiten, dass TV Globo selbst allerlei Dreck am Stecken habe, angefangen von behaupteten illegalen Verflechtungen mit am Fall beteiligten Richtern und Staatsanwälten bis hin zum angeblich von Beginn an illegalen Erwerb des ganzen Senders. Höhepunkt der Sendung war schließlich ein Interview mit Macedo, zu dem dieser – ganz der einfache Gottesmann – im selbst gesteuerten Privatwagen anrollte, und frech behauptete, die Spenden-Millionen würden ausschließlich zum Bau von Kirchen und für gute Werke verwendet. Seine Gegner bei TV Globo hätten Angst vor ihm und seinem Erfolg, sagte der Bischof. Früher hätten sie Angst gehabt, er könne sich zum Präsidenten von Brasilien wählen lassen, jetzt fürchteten sie, er könne höhere Einschaltquoten erreichen.

Zu den in den Nachrichten gezeigten Filmen und seinen eigenen hässlichen Worten darin, sagte der Bischof nichts. Statt dessen sprach er von religiösen Vorurteilen und rief dazu auf, „die Kirche müsse in diesen Zeiten harter Angriffe besonders stark wachsen.“

Ich fürchte, die Schäfchen werden ihm auch das abnehmen. Was ist anderes von Menschen zu erwarten, die glauben, sie kommen in den Himmel, wenn sie nur genug Spenden abdrücken?

Das Foto zeigt eine der Immobilien des Bischofs.

Freitag, 17. Juli 2009

Der Umzug der Killbills

Eine Fischerhütte im Tropenwinter zwei Monate allein zu lassen, hat Folgen. Mit diesen Folgen bin ich seit drei Tagen beschäftigt - Hausputz wäre eine unvollkommene Bezeichnung. Angefangen hat es tatsächlich wie ein solcher: Spinnweben von den Wänden und den Dachziegeln kehren, Blätter und Federn auf dem Boden zusammenfegen, seltsame Feuchtflecken vom Boden wegschrubben (mäßig erfolgreich), Wäsche aus den Schränken auf große Waschstapel räumen, weil sie allesamt muffig riecht, als habe sie die letzten Monate in einem Kellerverlies verbracht, grauschimmelig angelaufene Holzmöbel abwischen und einölen und so fort.

„Und-so-Fort“ heißt unter anderem, neue Hausbewohner hinauswerfen. In meinen Brennholz-Vorrat haben sich so zahlreiche Termiten hinein gefressen, dass ich ihn lieber gleich weg werfe. Spinnen haben ihre Netze in allen Ecken gewoben, Kakerlaken ihre Nachkommen unter den Möbeln verteilt und Horden Mäuse oder Ratten sich inmitten der Säcke Pferdefutter sicher wie im Paradies gefühlt. Den Futterhaufen, den die Ratten in der Sattelkammer aufgehäuft haben, nutzen sie seltsamerweise nicht mehr. Als ich ihn auflesen will, merke ich warum: Millionen winziger schwarzer Ameisen wuseln darin, die ihren Wohn- und Futter-Haufen unter Einsatz von reichlich Giftstoffen verteidigen. Soweit der erste Tag.

Am zweiten Tag finde ich die Killbills. Rosa und nackt und vielleicht zwei Zentimeter lang liegen eine ganze Handvoll vermutlich nur wenige Tage alter Säuglinge warm und gemütlich zwischen meinen T-Shirts und Tops. Wenn die Katzen noch da wären, hätten sie ihre Entdeckung sicher nicht überlebt. Aber die Katzen kennen mich nicht mehr: sie sind zur Nachbarin umgezogen, weil die ihnen schließlich zwei Monate lang Futter gegeben hat. Und ich sehe mich nicht in der Lage, zwei Zentimeter lange Lebewesen zu töten. Also polstere ich eine Schuhschachtel mit einem alten Tuch und mehreren T-Shirts, schneide aus dem Deckel einen Eingang heraus und bette die Viecher um. Dabei fiepsen sie zart. Eigentlich sehen sie sehr nett aus, mit ihren kleinen Händen und Füßen, an denen richtige Finger zu erkennen sind. Aber was sind das für Tiere?

Mein Nachbar konstatiert nach einem fachmännischen Blick in die Schachtel: „Das sind Marsupiais“. Und zeigt mir gleich ein Foto seines ehemaligen Marsupial-Mitbewohners „Killbill“. Der sei so zutraulich gewesen, dass er sich zum gemeinsamen Fernsehen mit seinen Händen bei ihm festgehalten habe. Bis ihn vermutlich eine Katze erwischt hat. Das hier ist Killbill:


Marsupiais sind laut Internet Beuteltiere. Davon gibt es unzählige Sorten vom Känguru bis zu so etwas Ähnlichem wie einer Beutelspitzmaus. Gemein ist ihnen, dass die Kleinen immer bei der Mutter bleiben, notfalls an deren Zitzen festgebissen, wenn nicht alle in den Beutel passen. Wo ist also die Mutter von meinen Killbills? Geflohen, weil ich angekommen bin? Ermordet? Mein Nachbar sagt, seine Nachbarin habe die Mutter seines Killbills erschlagen.

Bald ahne ich, warum. Als ich in einer Schublade allerlei kurze Schnurstückchen finde, wundere ich mich noch. Ich erinnere mich nicht daran, solche Schnur besessen zu haben. Eine Fach weiter unten merke ich: Die Schnurstückchen sind, was von der Aufhängung meiner Hängematte übrig geblieben ist. Außerdem hat die Mama der Kleinen meine All-Stars in Fetzen geknabbert, hübsch großflächig verteilte Löcher und Haken in meine Capoeira-Hose, meine Kookai-Bluse und diverse andere Lieblings-Kleidungsstücke genagt. Marsupiais sind Allesfresser, hatte in dem Internet-Artikel gestanden. Stimmt, aber mit exquisitem Geschmack.

Nachts werde ich von einem Geräusch wach. Oben auf dem Dachbalken huscht ein Wesen entlang. Noch eins. Und noch eins. Ich gucke genauer hin. Es sind Ratten. Vermutlich auf dem Weg zum neuen Pferdefutter, das gestern angekommen ist. Wo bleibt das herzlose Weibsstück? Ob die Killbill-Mutter ihre Brut in ihrer Schachtel verhungern lässt? Im Morgengrauen werde ich wieder wach, diesmal von einem innigen Glucksen und Zirpen, Kollern und Schnalzen. Es kommt aus meinem Schrank. Aus der Schublade, in der vorgestern noch die Killbills ruhten. Ihre Mama ist da. Immer verzweifelter klingt ihr Gefiepe. Die Babys melden sich nicht. Müssen sie aber, sonst haut die Mama ab und kommt nie mehr wieder. Entschlossen stehe ich auf, gehe zur Babyschachtel und wedele ein bisschen mit dem Tuch darin herum, bis die Viecher endlich Laut geben. Als sie eine Weile gequiekt haben, decke ich sie wieder zu und überlasse den Rest der Mama: Marsupiais sollen sehr gute Ohren haben.

Heute kam mein Nachbar neugierig fragen, ob meine kleinen Killbills noch lebten. Als ich die Schachtel vom Schrank holen wollte, um nachzushen, war sie plötzlich ziemlich schwer geworden. Schnell stellte ich sie wieder zurück. Offensichtlich hat jetzt alles seine Ordnung, und die Killbills hängen da wo sie hingehören: an Mutters Zitzen. Wann sie wohl aus der Kiste kommen? Und ob sie sich dann alle neun mit ihren kleinen Händen zum Fernsehen an mir festhalten werden?

Dienstag, 10. März 2009

Hundert Jahre Hybris


Hundert Jahre sind viel Zeit. Damals hat er es schon schwer gehabt, andere mit seinem Beispiel anzustecken. Und heute? Hier in Brasilien erscheinen zwar überall lange Lob-Artikel auf den rebellischen einstigen Erzbischof von Recife und Olinda, Dom Helder Camara, aber anscheinend sind mehr Journalisten als heutige Kirchenvertreter von dem Mann beeindruckt, der sein Dienstauto verkaufte und Bus fuhr, um dem Volk näher zu sein, der gegen Pomp und für Bescheidenheit plädierte und eine Kirche für die einfachen Leute wollte, statt einer für die Damen der besseren Gesellschaft. Von Dom Helder wäre so ein Diskurs nicht zu erwarten gewesen, wie ihn sein Nachfolger Dom José Cardoso Sobrinho, aktueller Erzbischof von Recife und Olinda letzte Woche von sich gegeben hat.

Der Hintergrund ist grausam: Bei einem neunjährigen Mädchen, das erst vor wenigen Monaten seine erste Menstruation erlebt hatte, wurde eine Schwangerschaft festgestellt. Von Zwillingen. Das Mädchen erzählte daraufhin, wie sie seit ihrem sechsten Lebensahr von ihrem Stiefvater vergewaltigt wurde. Der Stiefvater ist der Vater der Zwillinge. Selbst nach der ersten Menstruation ist eine Neunjährige ein Kind. Weder psychisch, noch physisch auf eine Schwangerschaft vorbereitet. Zur besseren Vorstellung: Das Mädchen ist ein Meter 33 groß und wiegt 36 Kilo. Selbst das erzkatholisch inspirierte brasilianische Recht erlaubt Abtreibung in einigen Sonderfällen, zum Beispiel,wenn Gefahr für Leib und Leben der Mutter besteht.

Dem Erzbischof ist das egal. Er suchte schon vor Wochen Kontakt zur Mutter des Mädchens, um ihr ins Gewissen zu reden, dass die Zwillinge ausgetragen werden müssten, um "Leben zu retten". Die Mutter weigerte sich, mit dem alten Kirchenmann zu sprechen. In aller Stille wurde die Schwangerschaft des vergewaltigten Kindes beendet, bevor es noch mehr Schaden nehmen konnte. Und der Erzbischof? Der sagte, mit vom Alter etwas zittriger Stimme, aber fest in seiner Überzeugung: Er werde sowohl die Ärzte, als auch die Mutter des Mädchens exkommunizieren. Denn Abtreibung sei eine Todsünde.

Das war auch Präsident Lula zu heftig. „Es ist doch unmöglich, dass ein vom Stiefvater missbrauchtes Mädchen das Kind behält, wenn es in Lebensgefahr schwebt. Ich denke, aus diesem Grund hat die Medizin korrekter gehandelt als die Kirche. Die Ärzte haben das getan, was getan werden musste: das Leben eines neunjährigen Mädchens retten“, sagte der Präsident letzte Woche zu TV-Journalisten. Das Mädchen werde vermutlich ohnehin Jahrzehnte in psychologischer Behandlung brauchen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können.

Der Nachfolger von Dom Helder sieht das anders. Natürlich sei auch die Vergewaltigung ein Verbrechen. Aber Abtreibung ist schlimmer. Genau so hat der Biachof das gesagt. Im Klartext heißt das: Der Mann, der ein sechsjähriges Kind vergewaltigt, darf in der Kirche bleiben. Die Mutter, die das Leben ihrer misshandelten Tochter schützen will, wird ausgestoßen.

Vielleicht sollten die noch ausstehenden Gedenkfeierlichkeiten zu Dom Helder umbenannt werden: Nicht hundert Jahre liberales Denken in der katholischen Kirche gibt es zu begehen, sondern hundert Jahre Hybris.

Foto: Dom Cardoso Sobrinho / NN
 
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