Dienstag, 27. Februar 2007

Irgendwie geht es immer noch glatt

Glatt gehen muß es. Das ist ein nationales Phänomen in Brasilien. Und wenn Formaldehyd dazu nötig ist, auch egal. Zu stark dosiertes Formaldehyd läßt das Haar ausfallen, verbrennt die Haut, läßt die Augen jucken - und um den gewünschten Langzeiteffekt zu erzielen, muß es zu stark dosiert sein. Macht nichts. Wer schön sein will, muß leiden. Und schön heißt in Brasilien: Glatt. Jedenfalls, was die Haare betrifft. Die chemische Bügelkeule mit Formaldehyd, „Alisamento progressivo“ genannt, ist inzwischen verboten. Dafür gibt es zwanzig (sic!) neue Verfahren, um von der simplen Korkenzieherlocke bis zur Afrokrause alles gnadenlos glatt zu zwingen, was auf brasilianischen Köpfen so wächst.


Neun von zehn brasilianischen Frauen haben Locken. Grosse, kleine, wirre, krause, struppige, trockene, spröde, glänzende, schwingende Locken. Das kann man durchaus schön finden. Geschätzte neuneinhalb von zehn Brasilianerinnen kämpfen mit aller Kraft gegen ihre Locken. Die traditionelle Waffe nennt sich: „Fazer Chapinha“. „Chapa“ heisst auch eine gußeiserne Bratpfanne. Oder ein Sandwich-Waffeleisen. Mit einem ähnlichen Gerät brennen die Friseure den Kundinnen die vorher mit chemischen Produkten getränkten Haare glatt. So ähnlich haben unsere Großmüttern mit der Lockenbrennschere ihre ungeliebten glatten Strippen in Form gebracht. Gut für die Haare war das damals auch nicht.


Etwas schonender und auf jeden Fall die unschlagbar billigste Anti-Locken-Methode ist Glattföhnen. Kann notfalls jede Fön- und Rundbürsten-Besitzerin zu Hause machen, dauert bei dem üblicherweise reichlichen Volumen allerdings gute zwei Stunden und hält maximal bis zur nächsten Wäsche – die bei tropischen Temperaturen meist nicht länger als ein bis zwei Tage auf sich warten läßt.


Deswegen ist Glattföhnen eher etwas für weniger finanzkräftige Lockenhasserinnen. Die finanziell besser gestellte Damenwelt stürzt sich begeistert auf jede neue und angeblich sogar pflegende Chemiebügelmethode die hiesige Haar-Gurus empfehlen. Die heißen zum Beispiel Schokoladen-Brushing, Blaulicht-Brushing oder Milch-Brushing. Sie halten die Haare bis zu vier Monate strammgezogen, die Behandlung dauert bis zu fünf Stunden und kostet bis zu umgerechnet 500 Euro. Trotz der stolzen Preise sind die Kundinnen meist schon zufrieden, wenn es nicht allzu sehr in den Augen brennt und ihnen hinterher nicht die Haare ausfallen.


Das ist bei dem jetzt verbotenen Alisamento progressivo öfter vorgekommen: Die 27jährige Roberta aus Rio brauchte fast drei Monate mit UV-Bestrahlungen, Vitamineinnahme und Spezialkuren, um den Haarausfall zu stoppen, den ihr zwei dieser Formaldehyd-Behandlungen eingebrockt hatten: „Jedes Mal, wenn ich mir in die Haare griff, hatte ich gleich ein ganzes Büschel in der Hand“, erinnert sie sich. Und was macht Roberta jetzt mit ihren neurdings dünnen Haaren? Glattföhnen und Chapinha natürlich. Irgendwie geht es immer noch glatt.

Dienstag, 20. Februar 2007

Nimms mir nicht übel, es ist doch Karneval

Zum Karneval geht Mann nicht einfach so. Er will da schon gern wen kennenlernen. Vielleicht ein paar Küsse ernten. Oder ein paar Blicke wenigstens. Dafür tut jeder, was er kann. Oder was ihm gerade so einfällt.

Am Montagmittag in Olinda versuchen zwei Jungs ganz wörtlich, sich Damen zu angeln. Aufreizend lassen sie ihre Köder in die Menge baumeln: Kreditkarten, ein schickes Handy, der Film „Was Frauen mögen“ und als letzter Trumpf ein Dildo –aus Styropor. Vielleicht haben sie die Frauen zu materialistisch eingeschätzt: Recht viel Erfolg haben die zwei nicht, wenigstens nicht, solange ich zugucke.

Besser kommt die wandelnde Duschkabine an: Bei Mittagstemperaturen von über 30 Grad und keinem Schatten weit und breit drängeln sich erhitzte Mädels gerne unter den kühlen Strahl des Duschmanns.

Fast genau so unwiderstehlich sind die Jungs mit den „Lutsch mich!“-T-Shirts, an denen reichlich Bonbons kleben, die sich Interessierte abreißen können. Oder der Süße, der kleine Honigpäckchen an Schnüren zum Abreißen anbietet.

Andere versuchen sich als Superhelden aufzuwerten, im Zorro-Kostüm nach Antonio Banderas auszusehen oder im Batman-Dress nach George Clooney – unter dem Umhang lassen sich prima weniger perfekte Rundungen verbergen.
Manche werden lieber gleich aktiv:

Ein Pseudo-Blinder klöppelt ausgiebig jede ab, die ihm spannend erscheint, ein Mediziner setzt gleich sein Stethoskop auf strategisch wichtige Körperteile, martialischer Veranlagte erschießen ihre Auserwählte mit einer möglichst beeindruckenden Wasserpistole. Besonders Mutige gehen einfach los und küssen. Schliesslich ist Karneval, und da geht Mann nicht einfach so hin:
Vou te beijar agora

Ich werde dich jetzt küssen

Nao me leve a mal

Nimm’s mir nicht übel

Hoje é carnaval

Heute ist Karneval
Heißt der Text eines Karnevalshits. Und der ist über 50 Jahre alt.

Donnerstag, 15. Februar 2007

Brasilien verliert seine Kinder

Im Norden von Rio de Janeiro wird demnächst ein baumbestandener Platz mit Kinderspielgeräten einen neuen Namen tragen. Platz Joao Hélio Fernandes soll er heißen. Joao Hélio kann nicht mehr spielen. Er ist am Mittwoch letzter Woche gestorben. Joao Hélio war sechs Jahre alt. Er starb, weil er im Sicherheitsgurt hängenblieb, als er aus dem Corsa steigen wollte, den drei Diebe seiner Mutter mit Waffengewalt abgenommen hatten. Joao Hélio wurde sieben Kilometer weit mitgeschleift, sein Körper titschte auf dem Asphalt wie ein Pingpongball, erst wurde sein Kopf abgerissen, dann allmählich sein ganzer Körper zerfetzt. Entsetzte Autofahrer machten die Diebe auf den kleinen Jungen aufmerksam, der da draußen am Auto hing. Zu einem davon sagte der Fahrer des Corsa: „Das ist nur eine Judaspuppe“. Nach zehn Minuten, vierzehn Strassen weiter war es vorbei. Die Diebe ließen das gestohlene Auto mitsamt den Fetzen von Joaos Körper stehen und flüchteten.

Seit mehr als einer Woche steht das gewaltgewohnte Brasilien unter Schock wegen des „mitgeschleiften Jungen“. Weil die Tat so unfaßbar brutal ist, daß sie nahezu unmenschlich wirkt. Und weil gerade diese Tat junge Menschen verübt haben; der jüngste von ihnen 16 Jahre alt. Die Polizei hat die Mörder von Joao Hélio und ihre Helfer in Rekordzeit gefaßt. Einen hat der eigene Vater ausgeliefert. Einer trug eine Bibel, als er festgenommen wurde - der zuständige Polizeiinspektor hält ihn für den kältesten der Fünf. Gefragt, ob er die Tat bereut, sagt einer der Täter: „Ich habe keine Kinder, ich weiß nicht, wie das ist.“ Joaos Mutter sagt: „Wenn Minderjährige Greueltaten begehen, dann müssen sie auch dementsprechend bestraft werden. Die haben kein Herz“.

Was sind das für Kinder, die Kinder umbringen? Die schon Pläne gemacht hatten, wie das gestohlene Auto auseinandergenommen und verteilt werden sollte? Die kilometerweit im Zickzack fahren, um den mitgeschleiften Joao loszuwerden, um ihr Vorhaben doch noch zu Ende zu bringen – als spielten sie ein Videogame, in dem siegt, wer am emotionslosesten handelt.

Nach geltendem brasilianischen Strafrecht können die beiden Volljährigen, die sowohl am Raub des Autos, als auch am Mord an Joao Helio beteiligt waren bis zu 23 Jahre Haft bekommen – wovon sie nach geltendem Recht mindestens ein Drittel absitzen müssen. Wiederholungstäter – und das ist mindestens einer der beiden, allerdings war er bei früheren Raubüberfällen noch minderjährig – müssen die Hälfte absitzen. Der minderjährige Bruder eines der beiden Haupttäter wird maximal drei Jahre lang an erzieherischen Maßnahmen teilnehmen müssen. Die Helfer, von denen einer die anderen im Taxi seines Vaters an den Tatort gebracht und der andere Schmiere gestanden hat, erwartet bis zu 13 Jahren Haft.

Ist das gerecht? Ist das eine Lösung? Hilft das, künftig solcher Greueltaten zu verhindern? Die schockierten Brasilianer finden: Nein. Redaktionen bekommen Mails und Briefe, in denen Leser die Einführung der Todesstrafe fordern. Die Senatoren planen, das Strafrecht zu ändern. Einige wollen die Strafmündigkeit auf sechzehn Jahre herabsetzen, wenigstens für Greueltaten. Der Bürgermeister meint, das allein helfe nichts. Der Gouverneuer hält die Massnahme für notwendig, außerdem könne man darüber nachdenken, kontrollierten Drogenkonsum freizugeben, um die Gewalt zu verringern. Ein anderer Senator fordert, Erwachsene, die Minderjährige zu Straftaten anstiften, härter zu bestrafen. Die Bischofskonferenz findet, es müsse in präventive Erziehung investiert werden. Lula mahnt, der Staat dürfe nicht emotional reagieren, er müsse juristisch reagieren. Und auch er meint, die Herabsetzung der Strafmündigkeit löse das Problem nicht. Der Anthropologe Gilberto Velho sagt: „Unsere Polizei funktioniert schlecht und ist in Teilen korrupt, die Justiz ist langsam, bürokratisch und ineffizient, unsere Strafgesetzgebung ist inadäquat und unser Strafvollzugssystem eine Monsterfabrik. Ich bin strikt gegen die Todesstrafe, aber auch gegen Straffreiheit.“

Was wird aus unvorstellbar grausamen Jugendlichen, wenn sie Jahre in einer Monsterfabrik verbringen? Was wird aus Brasilien, wenn immer jüngere Täter in diese jetzt schon hoffnungslos überfüllten Fabriken verfrachtet werden? Kopflos und zutiefst ratlos wirken die Reaktionen. Der Schock will nicht vergehen. Hinter Ereignissen wie diesem steht: Brasilien verliert seine Kinder. Als Opfer von Greueltaten und als Greueltäter. Was wird aus einem Land, das so seine Kinder verliert? Die Schulkameraden von Joao haben für ihn gebetet. Und weil sie nicht wußten, wo ihr Freund hingegangen ist, hat einer gemeint: „Joao ist jetzt ein Stern am Himmel.“

Die Menschenrechtskommission des Senats hat heute einstimmig die Gesetzesvorlage gutgeheißen, nach der Erwachsene, die Minderjährige zu Straftaten anstiften, sie dazu benutzen oder sie dabei unterstützen, künftig mit vier bis 15 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden sollen. Ebenfalls heute ist sehr früh morgens ein Zwölfjähriger im Bundesstaat Rio festgenommen worden, als er eine in ein Laken eingewickelte Leiche in einen Graben warf. Es handelte sich um die Großmutter des Jungen. Der Zwölfjährige hatte sie erstochen.

Die endgültigen Abstimmungen über die Vorschläge zu Änderungen im Strafgesetz sind auf den 28. Februar vertagt. Damit niemand im Eifer der Emotionen seine Stimme abgibt. Jetzt kommt erst mal der Karneval.

Montag, 12. Februar 2007

Ein Platz in der Presse für Clodovil

Politisch ist grad wenig los. Oder es gibt jedenfalls nichts zu berichten, weil die Ministerien erst irgendwann nach Karneval verteilen werden. Was macht da die Presse? Sie macht Platz frei für Clodovil. Der ist letztens doch tatsächlich nicht ins Parlament reingelassen worden. Weil der Polit-Neuling zwar höchst elegant aber ohne die obligatorische Krawatte erschienen war. War also nix mit seiner Teilnahme am Einführungskurs für Anfänger-Abgeordnete.

Dabei hätte er sicher etwas lernen können. Der Abgeordnete der Christlichen Arbeiterpartei PTC ist ja eigentlich kein Politiker. In den sechziger Jahren war er berühmter Designer und in den letzten 40 Jahren vor allem TV-Moderator, der gerne jeden und alle beleidigte und immer wieder Verleumdungsprozesse verlor bis seine scharfe Zunge ihn seine Show „A Casa é sua“ gekostet hat. Das war 2005. Danach hat Clodovil sich konsequent mit dem Rest der TV-Kollegen zerstritten, bis ihn niemand mehr im Fernsehen haben wollte. Allmählich wurde es schrecklich still um den gestylten Moderator im Rentenalter. Nur über seine Prostata-OP und ein angebliches Silikon-Implantat im Hintern berichteten noch ein paar Journalisten.

Dann kam die Idee mit der Politik, die Wahl, fast eine halbe Million Stimmen, und alles wurde anders. Das ist toll aber auch alles etwas schnell gegangen für den trendy Siebzigjährigen, der Schönheitsoperationen im Gesicht und an den Ohren zugibt und das angebliche Silikonimplantat im Allerwertesten nicht dementiert. Also macht Clo, wie ihn seine Freunde nennen dürfen, das, was er am besten kann: Leute verärgern. Zum Beispiel die Homosexuellen, die den ersten offiziell geouteten Abgeordneten gerne für die schwule Ehe kämpfen sehen würden. Clodovil dazu: „Für mich ist es keine Ehre, schwul zu sein, ich fühle keine gay pride – und diese Geschichte mit dem weißen Anzug in der Kirche, das ist doch das Letzte!“ Oder den Präsidenten: „Ich bin nicht so unvorsichtig wie der Präsident, der unwissend an die Macht gekommen ist und das auch noch mit Alkohol vermischt.“

Eigene substantielle Aussagen zur Politik konnte dem Neu-Parlamentarier bislang niemand entlocken. Nach seinem Wahlversprechen gefragt: „Brasilia wird nie wieder die gleiche Stadt sein, nachdem ich gewählt bin!“ – sagt er nur: „Natürlich werde ich das nicht mit Gesetzen erreichen.“ Und wenn die Journalisten dann noch mehr wissen wollen, schimpft er: „Sie haben mich nicht gewählt. Und wenn Sie mich nicht gewählt haben, bin ich Ihnen auch keine Rechenschaft schuldig. Ich weiß nicht, wie man Gesetze macht, ich werde Brasilia auf meine Art verändern.“

Ich vermute, Clo interessiert sich nicht die Bohne für Politik. Letztens war er bei einem Treffen von Industrievertretern zur Entwicklung von Ideen für das Wirtschaftswachstum. Sein Kommentar zu den Ideen: „Ich kann das nicht beurteilen, ich bin auch zu spät gekommen“. Das war die Pflicht. Dann kam die Kür: Ausführlich stand der Mann Modell für die Fotografen - im grauen Anzug mit rosa Hemd und Krawatte. Und sah dabei ziemlich glücklich aus. Verständlich, denn auch ohne Worte löst die neue Karriere prima seine Probleme:

- Endlich wieder ein angemessenes regelmäßiges Einkommen

- Endlich nach Herzenslust jeden beleidigen und von niemandem verklagt werden können

- Endlich wieder Sendeplatz für ihn im Fernsehen

Es wird noch zu hören sein von Clodovil. Nicht nur, wenn politisch nicht viel los ist im Land.

Donnerstag, 8. Februar 2007

Ein Besen von Dona Teodora

Dona Miuda und Dona Teodora leben in Barro Branco, mehrere Hügel, etwa vier Kilometer und eine Stunde Fußmarsch von der Kokospalmenküste Bahias entfernt. An der Kokospalmenküste kaufen seit Jahren ausländische Investoren immer größere Landstücke und bauen darauf Luxus-Resorts und Ferien-Wohnanlagen. Mehrere Milliarden Euro sollen bis 2020 investiert werden, alles im Fünf-Sterne-Segment. Hunderttausende ausländische Urlauber besuchen jedes Jahr die Kokospalmenküste. Bis nach Barro Branco kommen sie nicht.



Barro Branco heißt zwar „Weißer Lehm“, ist aber rot. Und staubig. Ein paar Häuser drängen sich an ein paar Hundert Metern Strassenrand im Schatten uralter Mangobäume. Viele sind unverputzt, die Gartenzäune aus Latten und Knüppeln improvisiert und mit Palmwedeln geflickt. Die Kirche ist das höchste Gebäude des Dorfs, und vor dem Kramladen parken zwei Esel und ein magerer Klepper.

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Jobs gibt es in Barro Branco nicht, aber neuerdings unabhängige Unternehmer. Die karren mit ihren Mototaxis die arbeitswillige männliche Bevölkerung morgens zu den Resort- und Wohnanlagen-Baustellen an der Küste und holen sie abends wieder ab. Dann wird es noch ein bißchen staubiger auf der Hauptstrasse.



„Hach Männer“, sagt die über sechzigjährige Dona Miuda dazu, „manche arbeiten tatsächlich, aber die meisten saufen doch nur Cachaca. Hier im Dorf liegt alles in den Händen der Frauen!“. Dona Miuda war dreimal verheiratet, jetzt hat sie die Nase voll und kocht nur noch für ihre zwölf Kinder und deren Enkel. Seit letztem Jahr häkelt sie außerdem und macht Flickentaschen und flicht Körbe aus Palmblattstreifen. Im letzten Jahr haben zwei junge Frauen den Kurs „Coisas de mulher“ (Frauenangelegenheiten) nach Barro Branco gebracht. Da durften alle über die Männer meckern, nebenbei hat Dona Teodora

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gelernt, ihren Namen zu schreiben, und alle haben sich im Kunsthandwerk versucht.



Der Kurs soll neue Finanzquellen für die Dorfbevölkerung auftun und wird von einem der ausländischen Investoren bezahlt. Miudas erste Häkelmütze wirkt noch reichlich krumpelig, Dona Teodora bindet perfekte Besen in einem Verfahren, das mehrere Tage dauert, und das sie schon vor dem Kurs kannte. Einmal pro Woche treffen sich alle zum Üben und Reden und Lernen. „Früher haben wir in Vollmondnächten immer so zusammen gesessen“, erinnert sich Dona Teodora, „haben genäht und gebastelt und Geschichten erzählt: es gab ja damals keinen Strom. Jetzt gibt es Strom, aber die Telenovelas lassen uns keine Zeit...“



Im Verhältnis zu den mehr als Hundert Millionen Euro Investitionssumme wirkt das Sozialengagement in Barro Branco ein bißchen popelig. Und verdient hat auch keine der Frauen viel mit den gebastelten Püppchen und den Häkelarbeiten. Doch die runzeligen Donas sind nicht kleinlich. In ihrem Leben passiert seit letztem Jahr etwas! Sie lernen dazu! Die Welt erinnert sich an sie! „Ich habe sogar schon eine Tasche verkauft“, sagt Dona Miuda stolz, „für zehn Reais! Und jetzt gucke ich, daß ich bis Karneval noch einen Hut fertig häkele.“ Und Dona Teodora erkundigt sich, wie lange ich noch in der Gegend bleibe. „Das reicht“, sagt sie dann zufrieden, „bis übermorgen schicke ich dir einen Besen ins Hotel, als Erinnerung an uns.“

Freitag, 2. Februar 2007

Heiko zeigt uns Land und Leute

Individualisten sind natürlich nicht dabei. Die suchen sich normalerweise bis ins Detail selbst aus, was sie angucken und lernen Heiko nie kennen. Ich spreche hier von denjenigen unter uns, die sich in den Ferien nicht stressen wollen. Von wohlerzogenen Menschen, die zwar auch am Strand abhängen wollen, aber eben nicht nur. Von Menschen, die Veranstaltern vertrauen und zum Beispiel den Ausflug „Land und Leute“ im Bundesstaat Bahia buchen.

Die bekommen neben einem klimatisierten Kleinbus einen deutschen Reiseleiter. Im Zweifelsfall kann das einer wie Heiko sein. Heiko zeigt uns Land und Leute und fängt gleich mal mit sich selbst an. Heiko war lange in leitenden Positionen in Deutschland tätig, bevor er nach Brasilien ging, sagt er. Nachdem er hier diverse Firmen geleitet und auch sonst so einiges ausprobiert hat, arbeitet er jetzt endlich in seinem Traumberuf, sagt er. Dafür hat er acht Monate die Schulbank gedrückt und vorher noch das brasilianische Abitur nachmachen müssen, sagt er.

Vielleicht liegt es daran, daß Heiko so lange büffeln mußte. Vielleicht auch daran, daß er so lange Chef war. Jetzt blubbert es jedenfalls nur so aus ihm heraus über das Land, und Widerspruch duldet er nicht. Nicht, wenn er sagt, die Gleichberechtigung sei hier im Nordosten schon sehr weit gediehen. Auch nicht, wenn er die afro-brasilianische Religion Candomblé mit dem haitianischen Voodoo verwechselt. Und erst recht nicht, wenn er behauptet, Brasilianer machten schon nach zehn Jahren Abi. Ist ja vielleicht auch nicht so wichtig für Urlauber, die nur mal einen kleinen Eindruck von Land und Leuten haben wollen.

Leute lernen sie immerhin reichlich kennen. Beim ersten Stopp an einem lärmenden Provinzmarkt geleitet Heiko fürsorglich seine kleine Herde zum Tabakhändler seines Vertrauens. Der rollt flink die eine oder andere Probezigarette, verschließt unserem Heiko mit einer dicken Zigarre den Mund und verkauft dann Schnupftabak und Kautabak und Honig und Melasse, und verkauft und verkauft, weil die Urlauber ja sonst nicht viel zu tun haben. solange Heiko seine Zigarre raucht.

Im nächsten und recht hübschen Ort wird nicht ausgestiegen, auch wenn manche begehrlich den Fotoapparat zücken. Die Zeit ist knapp, mahnt Herdenführer Heiko. Statt dessen nächster Pflichtstopp zack-zack durch die Zigarrenfabrik von Dannemann, wo emanzipierte Arbeiterinnen in grünen Kitteln Rauchwerk rollen, und dann weiter zum Mittagessen (im Preis inklusive) mit ordentlich Aufenthalt auf einer ehemaligen Farm mit wunderbarem Blick über ein grünes Tal bis auf einen einladenden Stausee in leider weiter Ferne. Während alle schmausen und gucken, steht eine schweigsame Dame am Tischende und wirft in großer Eile etwas auf Papier. Als alle fertig sind, wirft sie immer noch, ohne Worte, ohne Lächeln, als gälte es, ein Wettrennen zu gewinnen. Heiko erklärt: Die Dame sucht sich bei jeder Tischgesellschaft ein bis zwei besonders markante Gesichter als Modelle aus. Ganz unverbindlich überreicht sie den Auserwählten hinterher die Zeichnungen. Die können dann umgerechnet sieben Euro dafür bezahlen. Oder eben nicht. Meine Mitausflügler sind wohlerzogene Menschen. Keiner der drei Porträtierten traut sich, die Zeichnung unbezahlt liegen zu lassen.

Nächster Stopp: Die kleine Farm von Dona Maria, eine Art winziger botanischer Garten mit Passionsfrüchten, Pfefferranken, Mango und Jackfrucht und Brotfrucht und Maniokwurzeln. Dona Maria ist eine freundliche alte Dame mit einem großen Messer in der Hand. Sie geht voran von Pflanze zu Pflanze und erzählt Heiko etwas, und der erzählt uns dann etwas weiter. Irgendwann betritt Dann Maria eine niedrige Lehmhütte. Hier hat sie Maniokmehl hergestellt, sagt Heiko. Bis vor ein paar Wochen. Dann hat nämlich ein Reiseleiter den Motor der Maniok-Raspel zerstört. Und jetzt hat Dona Maria kein Einkommen mehr. Und ihr Mann hat sich außerdem noch die Hüfte gebrochen. Also sammeln wir alle für Dona Maria, damit die arme sich einen neuen Motor für ihre Raspel leisten kann. Weil wir vor dem Dunkelwerden noch eine Kakaoplantage besichtigen sollen, muß es nach der Spende ganz schnell weitergehen, und niemand bemerkt Dona Marias Sohn im arbeitsfähigen Alter, der außerplanmäßig aus dem Haus lugt und unsanft wieder zurückgestopft wird.

Die Kakaoplantage sollen wir uns eher so als Familienbetrieb vorstellen, bittet Heiko, noch ganz sanftmütig gestimmt von unserer edlen Spende. Statt auf eine weitere kleine Farm fährt der Kleinbus jetzt in eine Siedlung der radikalen Landlosenvereinigung MST – deren plakative Zerstörungsaktionen in Brasilien durchaus umstritten sind. Dort besuchen wir Dona Bibi. Die Dame trägt ein rotes Käppi der Bewegung und macht sich nicht die Mühe, uns in ihren Garten zu begleiten, der so groß ist wie ein Berliner Hinterhof und in dem drei Kakaopflanzen eher unbeachtet vor sich hin wachsen. Dona Bibis Haus ist nicht überall verputzt und der Fußboden besteht aus glattem Zement. Für frisch eingeflogene Urlauber muß das aussehen wie Armut. Die neue Gefriertruhe, den neuen LCD-Fernseher, die neue Waschmaschine, die neuen Küchenmöbel und die neue Stereoanlage bemerken sie vielleicht nicht.

Als Dona Bibi selbstgemachtes Kokoskakao-Krokant (leicht angebrannt) und selbstgemachten Kakaoschnaps (extrem hochprozentig) herumreicht, probieren alle brav. Und als Heiko erklärt, daß es üblich sei, entweder etwas zu kaufen oder etwas zu spenden, entscheiden sich die meisten für grob gemahlenen Kakao für 4 Euro den Plastikbeutel mit vielleicht 100 Gramm. Keiner fragt, ob das nicht ein bißchen überteuert ist. Keiner fragt, wie die drei Kakaobäume in Dona Bibis Garten überhaupt all die vielen Dosen, Flaschen und Tüten mit Kakaocreme und Kakaobutter und Kakaopulver und Kakaolikör füllen können, unter denen Dona Bibis Wohnzimmertisch beinahe zusammenbricht.

Sie fragen vermutlich deswegen nicht, weil sie wohl erzogene Menschen sind. Denn ich erwische mehrere dabei, wie sie sich ganz unauffällig verdrücken, als es ans Spenden geht. Und im Bus bei der Rückfahrt ziehen noch mehr die Kopfhörer ihres I-Pod dem Dauerblubbern von Heiko vor. Heiko haben sie an diesem Tag reichlich kennen gelernt. Aber Land und Leute?
 
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