Montag, 30. April 2007

Eine Million Kriminelle

Meine Freundin ist kriminell. Sie klaut nicht, betrügt nicht und hat noch nie jemanden umgebracht. Das brasilianische Recht sieht das anders. Denn meine Freundin hat abgetrieben. Weil ihr Freund gerade mal 20 Jahre alt und arbeitslos ist. Weil sie oft abends nur das pappige Sandwich zu essen hat, das es gratis in der Schule gibt. Weil ihre kunsthandwerkliche Schmuckproduktion selten genug für zwei hungrige Münder einbringt. Geschweige denn für drei.

Soziale Indikation gibt es in Brasilien nicht. Wer sich ein (weiteres) Kind nicht leisten kann, hat eben Pech gehabt. Und Kinder sind in Brasilien teuer. Jedenfalls, wenn sie eine Zukunft mit halbwegs ordentlicher Bildungsbasis haben sollen. Deswegen hat sich meine Freundin strafbar gemacht. Hat gespart und gespart und das Medikament Citotec gekauft, mit dem viele weniger finanzstarke Brasilianerinnen abtreiben. Das Medikament ist eigentlich für Nierenleiden gedacht, verursacht meist irgendwie aushaltbare Krämpfe, während es wirkt und beendet ziemlich zuverlässig Schwangerschaften, wenn sie erst ein paar Wochen alt sind. Und es ist illegal. Das macht es teurer, wie jede illegale Droge.

Am 17. April dieses Jahres ist in Bahia eine achtzehnjährige festgenommen worden, weil sie abgetrieben hat. Bekannte sollen sie angezeigt haben. In der gleichen Woche hat der neue Gesundheitsminister sich für eine Volksabstimmung zum Abtreibungsrecht ausgesprochen. Das letzte Mal war das Thema auf dem Tisch, als Frauenrechtlerinnen für eine Änderung eingetreten sind. Das war in den siebziger Jahren und blieb folgenlos. Der Vorstoß des neuen Gesundheitsministers hatte jetzt schon Folgen. In Fortaleza sind religiöse Massen dagegen auf die Strasse gegangen und haben lauthals protestiert. Nicht, weil sie gegen Abtreibung sind. Das sind sie natürlich auch. Aber auf die Strasse sind sie gegangen, weil sie schon gegen die Abstimmung sind.

Selten wird Brasilien so scheinheilig, wie wenn es um Abtreibung geht. Dem Gesetz nach ist sie nur zulässig, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist oder das Leben der Mutter bedroht. Nur dann. Im Extremfall heißt das: Eine Schwangere, deren Kind nach medizinischen Erkenntnissen nicht lebensfähig ist, das also aufgrund physischer Umstände die Geburt nicht überleben wird, ist nach brasilianischem Gesetz trotzdem gezwungen, dieses Kind auszutragen. Solche Fälle hat es tatsächlich gegeben.

Natürlich treiben Brasilianerinnen trotz des Gesetzes ab. Mehr als eine Million Frauen tun es jedes Jahr illegal. In diskreten Kliniken, wenn sie genug Geld haben. Mit Citotec, wenn sie weniger haben. Oder in irgendwelchen Hinterhöfen, wenn es für das Medikament schon zu spät ist. Das ist es oft. Die öffentliche Gesundheitsversorgung SUS, die für alle Menschen ohne Krankenversicherung zuständig ist, verzeichnet im Gynäkologiebereich an erster Stelle Geburten und an zweiter Ausschabungen – als Folge von Pfuscharbeit. 150.000 Frauen erleiden trotzdem jedes Jahr schwerwiegende und bleibende Folgeschäden von illegalen Abtreibungen oder sterben daran.

Meine Freundin hat Glück gehabt: Sie hatte nur Krämpfe. Sie hätte bis zu drei Jahren Gefängnis bekommen können, wenn sie jemand verraten hätte.

Der Senat hat den Antrag des Gesundheitsministers bereits angenommen. Also gibt es echte Chancen für eine Volks-Abstimmung über eine eventuelle Änderung des Abtreibungsrechts. Der erzkatholische Portugal hat in einer ähnlichen Abstimmung Anfang des Jahres die Abtreibung bis zur zehnten Schwangerschaftswoche legalisiert. Ob Brasilien das auch schafft? Erste Meinungsumfragen sagen: 65 Prozent der Befragten haben sich dafür ausgesprochen, das geltende Recht beizubehalten. Das hiesse: weiterhin jedes Jahr eine Million Kriminelle schaffen.

Freitag, 27. April 2007

Clodovils kleine Bürorevolution

Er hatte es ja angekündigt. Nie mehr werde Brasília die gleiche Stadt sein, wenn er erst Abgeordneter wäre (siehe Post vom 12.2.). Eine halbe Million Wähler warteten gespannt, wie die Revolution des Ex-Modedesigners und Ex-TV-Moderators ausfallen würde. Jetzt ist sie da. Den Antrag dazu hat er weniger als einen Monat nach Amtsantritt gestellt.

Clodovil, der noch nie für diplomatische Zurückhaltung bekannt war, hat seine Rolle als Exot im Senat vom ersten Tag an offensiv gespielt: Im hellen Anzug mit Spazierstock leuchtete der Paradiesvogel mutig zwischen all den dunkel Gewandeten. Behauptete, er müsse erst noch lernen, wie die Kleidungsordnung unter Politikern so sei – und ließ sich auch später nie in Diskretes hüllen. Gab ohne Schamgefühle zu, daß er keine Ahnung hat, was PAC bedeutet*, und meckerte über den Präsidenten, weil der seine Ministerialreform nicht vorantrieb. Substantielles war von dem vorlauten Neuling zunächst nicht zu hören.

Clodovils erste richtige Rede hätten die anderen Abgeordneten in alter Tradition beinahe verpaßt vor lauter Privatgesprächen im Plenarsaal. Bis der Redner ungehalten schimpfte: „Das ist ja hier wie auf dem Marktplatz!“ Da hörten die 350 Politiker zu, was der Ex-TV-Mann ihnen zu sagen hatte. „Ich möchte euch lieben“, erklärte der bekennende Homosexuelle seinen Kollegen. „Ich bin dafür, dass Güte alle Handlungen in diesem Hause prägen sollte, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, daß die Güte die beste Medizin ist.“ Und dann rief er die anderen Berufspolitiker dazu auf, den Geiz, den Hochmut, die Faulheit und den Neid in sich zu besiegen.

Große Worte.

Vor ein paar Tagen konnte der anspruchsvolle Abgeordnete – im Gegensatz zu vielen Amtskollegen - ein erstes Ergebnis vorweisen: Er hat innerhalb nur eines Monats eine komplette „Reforma“ durchgeführt. „Reforma“ heißt auf portugiesisch auch „Renovierung“ – und Clodovil hat sein Büro von Grund auf neu gestaltet. Weg mit den Pressholz-Trennwänden. Statt dessen getönte Glasscheiben rein. Weg mit den dunklen Farben, den piefigen Aktenschränken. Aus 39 Quadratmetern Standard-Büroarchitektur ist ein individiualisierter heller Arbeitsplatz geworden, ganz im Stile Clodovil.

„Marta“, die Schlange, hat der Presse am besten gefallen. Die Bronzeskulptur mit dem Namen der Ex-Bürgermeisterin von Sao Paulo, der aktuellen Tourismusministerin und Intimfeindin des Abgeordneten. Marta Suplicy, windet sich dekorativ unter der Schreibtischplatte aus Glas – und ist das wohl am meisten fotografierte Detail der Deko-Orgie. An den Wänden: Clodovil selbst mit Hunden und exotischen Früchten, seine Adoptivmutter in einem vom Abgeordneten selbst gemalten Porträt, Pflanzen und chinesische Masken. Das Sofa stammt aus einem der teuersten Möbelläden des Landes, der tibetische Teppich wird auf 18.000 Reais geschätzt.

Zum Vergleich: Die wenigen Kabinettkollegen, die sich ebenfalls „Reformas“ haben genehmigen lassen, haben gerade mal eine Glaswand für 800 Reais eingezogen oder ein neues Sofa gekauft. Clodovil hingegen beziffert die Kosten seiner Büro-Revolution auf 200.000 Reais. Und die habe er ganz alleine bezahlt.

Was Clodovil nicht ganz so laut sagt, ist, daß er jetzt als Politiker auch wieder ins Fernsehen darf. Nicht nur gelegentlich in fremden Talkshows als Plauderpartner. Nein, er soll schon nächsten Monat wieder eine eigene Show bekommen. Darin soll es um aktuelle Ereignisse in Brasília gehen. Gedreht wird im Kongreß. Womöglich sogar in Clodovils Büro.

Das hat es noch nicht gegeben in der Hauptstadt. Der Mann hat nicht gelogen: Brasília wird nicht mehr die gleiche sein. Und die kleine Büro-Revolution hat sich richtig gelohnt.

*PAC ist die Abkürzung für Lulas neues Wirtschafts-Programm zur Beschleunigung des Wachstums

Dienstag, 24. April 2007

Grauen auf dem Grillfest

Jetzt ist es doch wieder passiert. Immer passiert es auf Grillfesten. Und ich kann immer noch nicht damit umgehen. Eigentlich sollten wir das in der Schule lernen. Vielleicht tun das die Schüler heutzutage sogar, wir haben es jedenfalls nicht in der Schule gelernt. Und ich kann’s bis heute nicht.

Es war Sonntag, und sonntags wird hier im Nordosten gegrillt. Auf der Terrasse, im Garten unter Mangobäumen, an befahrenen Strassen und manchmal sogar am Strand. Ich gehe gerade die Dorfstrasse entlang, als mich ein junger Mann anspricht. Groß, bißchen weich in der Hüfte, blaß. Büroarbeiter, Mittelklasse, sagt die Vorurteilsabteilung im Hirn. Die sitzen jetzt alle im Garten und sind schon dicht, flüstert sie weiter. Keine zwingend notwendige Bekanntschaft, sagt die arrogante Skepsis. Ob ich Deutsche sei, fragt der Mann. So eine kleine Antwort kann man ja niemandem ausschlagen, also sage ich: Ja, ich bin Deutsche. Oh toll, da muß ich unbedingt seine Cousine kennenlernen, die ist nämlich auch Deutsche. Oder jedenfalls fast. Sagt der Mann.

Eigentlich wollte ich reiten gehen. Durch den Wald bis zum Fluß und weit weg von allen Grillfesten. Aber wer als Fremde in einem kleinen Dorf wohnt, sollte auch mal ein bißchen offen und kommunikativ sein und das nicht immer nur an den Brasilianern toll finden. „Meine Cousine freut sich, wenn sie mal wieder Deutsch sprechen kann“, sagt der Mann und öffnet schon das Gartentor. Hinter dem Haus sitzen Familie und Freunde beim Grillen: ein Dutzend Menschen die weniger schwitzen als das Rind auf dem Grill, eisgekühltes Bier und Whisky- und Cachacaflaschen auf dem Tisch, direkt daneben ein Falt-Pool für die schnelle Abkühlung. Halt die Klappe, sage ich der Vorurteils-Abteilung, die können alle sehr nett sein.

Die Cousine kann es kaum glauben: „Du bist Deutsche? Und du wohnst hier?“ Sie selbst kommt hier aus dem Dorf, hat vierzehn Jahre in Berlin gelebt und ist seit zwei Jahren in Boa Viagem, dem Strandviertel von Recife. Vor kurzem ist auch ihr Sohn angekommen, und der spricht perfekt Deutsch und will jetzt hier studieren. Ob ihm sein deutsches Abi anerkannt wird?, frage ich interessiert. Hat er gar nicht. Aber elf Jahre Schule plus Berufsausbildung, das reicht, behauptet seine Mutter. Optimistisch die Dame. Und in den Sohn verliebt wie die meisten Mütter. Inzwischen spricht sie längst wieder Portugiesisch und schwärmt von den deutschen Tugenden, die ihr Sohn alle angenommen hat: Pünktlich ist er und fleißig und zuverlässig und ernsthaft, aber auch flexibel...

„Jaja“, tönt es da von der anderen Seite, „die Deutschen haben aber auch Öfen“. Ist nicht wahr. Kann nicht wahr sein. Nicht hier. Nicht von diesem Menschen. „Wie bitte“, fragt die Cousine, ebenfalls ungläubig. „Nun ja, Öfen zum Vergasen“, sagt mein Nachbar zur Linken.

Ich kenne den Mann. Er war mal ein richtig guter Surfer, bevor der Bauch das Gleichgewicht zu stören begann, wohnt schon ewig hier im Dorf, und ich hatte ihn immer zu den Intellektuelleren gezählt. Während ich das denke, redet es schon aus mir heraus. „Findest du das etwa lustig?“, ich weiß genau, das verdirbt jetzt die Stimmung, ist vollkommen kontraproduktiv, wer weiß, ob mich jemals wieder irgendwer mag hier im Dorf. Aber ich bin noch nicht fertig, mein Mund redet einfach weiter: „Ich gehe dann besser. Das Thema brauche ich nicht.“

Der letzte Teil wird übertönt von der Beschwichtigung der Cousine– jetzt aus diplomatischen Gründen wieder auf Deutsch: „Nein, reg dich nicht auf, das lohnt nicht, ich kenne die Geschichte“, während der Mann weiter faselt, aber die Deutschen seien ja so eine reine Rasse, kommen aus dem Indogermanischen, und die Cousine fängt auf Portugiesisch an, dem Mann zu erklären, was die Deutschen alles an die Juden zahlen, andere Völker haben auch gemordet..., und plötzlich kommt der Mann doch irgendwie partiell zur Besinnung und sagt zu mir: „Wenn einer geht, dann bin ich das wegen des geschmacklosen Scherzes, entschuldige bitte“ – und ich will doch niemandem die Stimmung verderben, ich will ja gar nicht auf diesem Grillfest sein, also sage ich: „Ach was, schon vergeben, ich wollte sowieso gehen, solange du so was nicht wiederholst, wenn ich dabei bin, sind wir die gleichen Freunde wie immer.“

Dann trinkt der Mann in rascher Folge drei Wassergläser Cachaca leer, das hat er vermutlich vorher schon mehrmals gemacht, und das hat ihm vielleicht auch die tolle Gaskammer-Inspiration verschafft. Die Cousine erzählt jetzt von ihrem Mann, der auch bald nach Brasilien ziehen will, und von ihrer Farm und ihrer Firma und ihrem Appartment, und ich warte noch solange, bis alles wieder ganz entspannt ist und gehe endlich reiten. Das wird nicht ganz so entspannend, wie ich mir das vorgestellt hatte, weil ich mich dabei frage, ob es total bescheuert war, dem Mann so großzügig zu verzeihen, oder ob es einfach nur uncool war, überhaupt beleidigt auf den dummen Spruch zu reagieren, oder wie ich herausbekomme, wie die richtig lässige Antwort auf so was lauten würde.

Und vor allem: Warum zum Teufel müssen die Brasilianer mir auf Grillfesten immer wieder mit Hitler kommen? Egal welche Bildungsklasse (die mit dem geringsten Geschichtswissen beschränken sich gelegentlich darauf, nur den Namen „Hitler“ ins Gespräch zu werfen und dann zu grinsen), und im Alter von ungefähr vierzig bis achtzig.

Als ich die Geschichte einem Freund erzähle, meint der: „Ach, der Typ war betrunken.“

Stimmt.

Ich mag keine Grillfeste.

Donnerstag, 19. April 2007

Allein gegen die Transmitter

Meine Katze ist tot. Das ist traurig. Weil es eine fröhliche, flauschige Katze war, die noch ein langes Leben hätte haben können. Abgesehen von meiner womöglich sentimentalen Katzenliebe ist es außerdem traurig, weil gerade die Zeit der Transmitter angebrochen ist.

Was Transmitter sind? Weiß ich auch nicht. Deswegen habe ich ihnen diesen Namen gegeben. Nach meiner Definition sind Transmitter alle unbekannten Flugobjekte, die mit Beginn der Regenzeit in großer Zahl und Vielfalt bei mir einfallen, um ausgerechnet bei mir zuhause verschiedene, ihnen vermutlich genetisch vorgegebene Verrichtungen zu erledigen. Letztens waren das Hunderte flügelbewehrter Ameisen, die mein Haus ausschliesslich zu dem Zweck aufsuchten, um dort ihre Flügel abzuwerfen. Ob das ganze Volk an einem verabredeten Datum extra herbeigeflogen kommt, um in bewohnten Gegenden kollektiv das Fliegen aufzugeben? Und dann? Bleiben sie für immer da? Oder kriechen den ganzen Weg wieder zurück? Ameisen habe ich bald keine mehr gesehen. Aber noch Tage danach habe ich im ganzen Haus ihre etwa einen halben Zentimeter langen durchsichtigen Flügel zusammengekehrt – was durch die Eigenschaft von Flügeln, bei jedem Luftzug aufzufliegen, nicht unbedingt erleichtert wurde. Wenn die Katze nicht das ein oder andere Dutzend davon aufgeleckt hätte, würde ich vermutlich heute noch kehren.

Vor ein paar Tagen kamen ebenfalls ameisenähnliche Transmitter, die allerdings nicht flogen, sondern an den Wänden hoch krabbelten um sich auf dem Weg zur Lampe hinter Bildern zu verstecken. Zu welchem Zweck, weiß ich nicht. Um dort Eier auszubrüten? Sich wüst zu vermehren? Zu überwintern? Vorsichtshalber habe ich sie alle von den Wänden gekehrt, um das Ergebnis der potentiellen Verpuppung gar nicht erst abzuwarten. Die Katze hat bei der Beseitigung der Abgestürzten ebenso zuverlässig geholfen, wie sie jede Kakerlake verputzt, die unvorsichtig ihren Weg kreuzt.

Gestern kamen gleich zwei Sorten unbekannter Flugobjekte: einige Dutzend kleinerer Art, zwar beflügelt, aber trotzdem am Boden herumkriechend. Und eine größere libellenähnliche Art, die unerbittlich um die Terrassenlampe kreiselte. Die hatte ich noch gar nicht bemerkt, als die Katze, die auf meinem Bauch lag, ihre Krallen in denselben grub und mit einem Satz in die Höhe sprang, einer Libellenähnlichen entgegen. Die Attacke endete erfolglos und unschön auf der Sofakante. Die erste. Nach stillem Warten auf der Sofalehne kam irgendwann so ein Riesentransmitter bis auf etwa einen halben Meter herangeschwirrt – und da packte sich mein Hausraubtier zielsicher das Viech, um es umgehend zu verknuspern. Das sah für menschliche Augen weniger appetitlich aus, deswegen habe ich nicht weiter zugesehen. Die Katze sprang jedenfalls weiter wild durch die Gegend, und als ich ein paar Stunden später schlafen gegangen bin, schwirrte nichts mehr.

Heute ist der Transmitter-Killerin ihr Jagdtrieb zum Verhängnis geworden. Der Snack, den sie sich beim Nachbarn erjagt hat, war wohl mit Rattengift getränkt. Die Leute versprühen Mata-Tudo (Tötet alles) gegen Insekten und streuen allerlei Gift gegen Kakerlaken und Mäuse, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen. Die Inhaltsstoffe, Risiken und Nebenwirkungen sind hilfreich so klein gedruckt, daß man sie nur mit der Lupe lesen könnte. Manche Zutaten sind in Europa längst verboten, aber das weiß ja hier niemand. Tatsache ist: sie wirken. Sogar bei Katzen.

Vorhin sass ein unsympathisches schwarzes Insekt an meiner Küchenwand. Womöglich nur ein Vorbote einer weiteren Horde. Die Regenzeit hat ja gerade erst angefangen. Ohne Katze bedeutet das: Allein gegen die Transmitter.

Montag, 16. April 2007

Let's go daqui und Joao Cachaca

Heute war einer da und hat mir was über Breitband-Internetanschlüsse erzählt. Soll es hier im Dorf angeblich bald geben. Schön wär’s ja. Habe mir also die Nummer des Typen aufgeschrieben, um gegebenenfalls in ein paar Monaten nachfragen zu können, ob es schon soweit ist. Der Mann heißt Jarlis. Wenn man sich den Namen so richtig auf der Zunge zergehen läßt, klingt das beinahe wie Charles – brasilianisch ausgesprochen, versteht sich. So haben die Eltern von Jarlis den Namen vermutlich auch gemeint.

Das Tolle ist, dass man in Brasilien so ziemlich jeden beliebigen Namen in jeder beliebigen Schreibweise auf dem Amt registrieren kann. Und die Brasilianer sind erstens kreativ und zweitens auch in der Orthographie nicht engstirnig. Deswegen gibt es eine Menge Johnnys hier. Die schreiben sich allerdings nicht so, sondern Jonne, Jone, Joni oder sogar Jhone. Ebenso vielfältig variierbar ist der beliebte Name Washington, etwa als Uoston oder Woxingtone. Familiennamen haben die Brasilianer vergleichsweise weniger. Aber das ist ganz egal, wer hierzulande da Silva oder de Souza heißt – so ähnlich wie Müller oder Maier in Deutschland - kann den ordinären Familiennamen durch eine klangvolle Prominenz-Anleihe (natürlich auch diese mit frei wählbarer Orthographie) davor prima aufpeppen. Ich habe ein bißchen recherchiert und Elvis Presley da Silva, Hericlapiton da Silva, Marlon Brando Benedito da Silva, Sherlock Holmes da Silva und Ludwig van Beethoven Silva gefunden. Gibt es alle in echt. Je nach aktuellem Fernsehprogramm und Hitparade kommen außerdem mal mehr mal weniger Maicon Jakisson und Marili Monrói vor, soweit ist das alles nachvollziehbar. Aber warum hierzulande so viel Hunde Beethoven heißen, hat mir bisher niemand erklären können.

Vielleicht hat das mit der Vorliebe des Volks für Bildung zu tun? Oder für komplizierte Worte? Denn auch die Vornamen Hypotenuse und Hydraulik oder Magnesium und Mangan sind laut Internet-Liste schon registriert. Besonders beliebt sind Alliterationen bei mehreren Kindern: Zigfird, Zigfrida, Zingrid können dabei rauskommen, oder Rosimere, Rosineide und Rosilane – die kenn ich sogar persönlich. Den Ideen sind keine Grenzen gesetzt: Auch die Schwestern Komma und Punkt gibt es, ebenso Herzinfarkt Oliveira und Joao Cachaca, sowie Letsgo Daqui. Sind alle in einer offiziellen Liste* besonderer Namen verzeichnet. Leider fehlt die jeweilige Entstehungsgeschichte. Was hat zu „Beimgehen Beimkommen Beimwiederkommen Pereira“ geführt? Und wie konnten die Eltern bei der Geburt schon wissen, daß ihr Sohn ein „Joao Heiratete In Kurzen Hosen“ werde würde? Fragen über Fragen. Bei Frau Jafa Lei ist die Sache immerhin leicht zu raten. Da muß der schwerhörige Beamte nachgefragt haben: Wie war noch gleich der Name? Darauf der genervte Vater: Hab ich doch schon gesagt – auf Portugiesisch: „Ja falei“.

Immer noch besser als „Bittere Medizin“ oder „Produkt der Ehelichen Liebe von Marichá und Maribel“. Doch. Das sind auch legitime Namen hier. Jarlis klingt dagegen nahezu langweilig.

* http://constanteevolucao.wordpress.com/2007/01/19/nomes-proprios-exoticos/

Freitag, 13. April 2007

Stiller Markt in Sao Paulo

Schon von Gilberto Kassab gehört? Nein? Aber von Sao Paulo, oder? Sao Paulo will nicht mehr laut sein. Reichste Stadt des Landes, ok. Größte deutsche Industriestadt, genehm. Größtes Verkehrschaos Brasiliens, nicht ganz so toll. Terrorvereinigung Drittes Kommando, ganz schlecht. Und der neue Bürgermeister Gilberto Kassab verschwindet im Schatten seines Vorgängers José Serra. Bislang jedenfalls.. Denn jetzt wird der Mann die Stadt ändern. Er macht Sao Paulo leise. Und weil das bei einer 12-Millionen-Einwohner-Stadt nicht so einfach ist, fängt er erst mal klein an.

Seit Ostern ist in Sao Paulo stiller Markt. Kassabs „Gesetz der Stille“ verbietet elektronisch verstärktes, aber auch traditionelles Marktschreien auf allen knapp 900 Marktplätzen der Stadt. „Tomaten, hier billiger!“ oder „Schöne Äpfel, Kilo nur 2 Reais“, – gibt es nicht mehr. „Treten Sie näher, schöne Frau“ oder „Angucken kostet nichts!“ - aus und vorbei. Oder eben nur geflüstert. Fragt sich, wie die Leute ihre Ware künftig anpreisen sollen. Vielleicht gestikulieren sie mehr? Oder sie malen größere Schilder?

Ihr Gewerkschaftsführer jedenfalls findet stille Märkte gut: „Der traditionelle Kontakt zwischen Verkäufer und Käufer bleibt bestehen, es wird nur nicht mehr so rumgebrüllt“, sagt er. Und verkennt womöglich damit die Natur des Gewerbes. „Ich kann gar nicht anders, ich schreie automatisch“, erklärt die Obstverkäuferin Sandra. Ohne lautstarkes Anpreisen kein Markt, finden auch viele andere Verkäufer. Hausfrau und Stammkundin Tereza ist ihrer Meinung: „Markt ohne Marktschreien verliert den Charme.“

Wie Kassab die Marktverkäufer zum Verstummen bringen will, ist ohnehin nicht ganz klar. Er schickt nicht etwa ständig Kontrolleure mit dem Dezibelmesser durch die Gegend. Es ist nicht einmal festgelegt, ab wann Schreien, Schreien und damit verboten ist. Ob ein Marktschreier authentisch und sympathisch oder ein lästiger Gesetzesübertreter ist, entscheidet nicht die Stadtverwaltung. Marktbesucher und Anwohner sollen die Brüllaffen unter den Verkäufern bei der nächstgelegenen Rathaus-Unterabteilung anzeigen. Dann erst verwarnen die Offiziellen die Missetäter. Wer wiederholt angezeigt wird, muß Strafe zahlen, und wenn das immer noch nichts hilft, können notorische Lärmer sogar ihre Lizenz verlieren.

So richtig beliebt hat sich Kassab mit seiner Maßnahme nicht gemacht, auch wenn Stadtsekretär Matarazzo (der für die Koordinierung der Rathaus-Unterabteilungen zuständig ist) noch schnell nachschob: „Natürlich werden wir den gesunden Menschenverstand walten lassen.“ In einem Internetforum zum Thema riet ein Teilnehmer dem Bürgermeister gar, wenn er stille Märkte so sehr liebe, solle er doch das Land verlassen und die Bürger hier in Ruhe lassen. Wo auf der Welt es bereits stille Märkte gibt, sagt der Internaut nicht.

Wie wäre es statt dessen mit der folgenden Idee: Kassab könnte den Marktschreiern ein paar kostenlose Kurse in Schweige-Erziehung spendieren. Oder eine kleine Pantomime-Ausbildung. Das bringt ihm vielleicht sogar positive Schlagzeilen.

Sonntag, 8. April 2007

Der Rabbi kann nicht klauen

Heute ist Ostersonntag, und Pessach. Grund genug zum Vergeben und Verzeihen, findet der Koordenator der „Amigos Brasileiros do Paz Agora“.

Die Geschichte fängt in Florida an, vor knapp zwei Wochen.

Ein Mann mit blondem Topfschnitt schlendert durch Palm Beach, stöbert in einem Laden von Louis Vouitton, findet eine nette Designerkrawatte und steckt sie sorgfältig gefaltet in die Tasche. Dummerweise bezahlt er das kleine Souvenir nicht, bevor er den Laden verläßt. Und noch blöder ist, daß er beim Krawatten-Einstecken gefilmt wird. Da hilft es dem Blonden auch nichts, daß er Henri Sobel heißt, Ober-Rabbi von Sao Paulo und einer der wichtigsten Religionsführer Brasiliens ist und die Krawatte sofort bezahlen will, um den Fall zu vertuschen. In Brasilien hätte er damit vielleicht Chancen gehabt. In Palm Beach muß er die Nacht im Knast verbringen. Wie ein normaler Dieb.

Die Schmach der Nacht hat er überlebt. Gegen 3000 Dollar Kaution freigelassen, fliegt der Gottesmann nach Hause und gut ist.

Bis ein paar Tage später die einheimische Presse das Abenteuer des Rabbi entdeckt. Da leugnet Sobel sowohl Diebeshandlung als auch Knast – nicht einmal seiner Frau hat er von seinem peinlichen Zwangsaufenthalt erzählt. Als das nichts hilft, macht er es wie die Politiker und tritt erst mal zurück von seinem Amt des Präsidenten der Israelitischen Kongregation von Sao Paulo. Damit nicht genug. Eine Woche nach der Langfingeraktion in Florida gerät der Rabbi plötzlich endgültig emotional aus der Kontrolle (Im medizinischen Bericht heißt es: Stimmungsschwankungen und Verhaltensauffälligkeiten) und läßt sich ins größte Privat-Krankenhaus Sao Paulos einweisen. Er habe auf eigene Faust verschreibungspflichtige Psychopharmaka genommen, erklärt er den Pressevertretern. Später heißt es, er leide an schwerer Schlaflosigkeit. Jedenfalls war vor ein paar Tagen laut Ärzten noch nicht abzusehen, wann Sobel die Klinik wieder verlassen würde.

Inzwischen hat der prominente Dieb reichlich Mitleid erregt. Die Sobel-Anhänger finden: „Niemand ist perfekt, jeder macht mal Fehler“ und sammelten unter diesem Motto 5 Millionen elektronische Unterschriften für ihren Mann. Der Schauspieler José de Abreu findet: „Es ist im Endeffekt nicht so wichtig, ob er nun gestohlen hat oder ob Medikamente zu der Tat geführt haben. Wichtig ist, was er für Brasilien getan hat, vor allem für den Kommunismus im Land.“ Das wird sogar Sobel überraschen. Er wurde als Gegner der Militärdiktatur bekannt, trat als Menschenrechtsaktivist und Friedensstifter zwischen den Religionen hervor. Und jetzt hat er Krawatten geklaut. Kommt in den besten Familien vor. Und heute ist Ostern, Pessach, da werden zu den 5 Millionen sicher noch ein paar mehr Brasilianer verzeihen. Gestern ist Sobel aus dem Krankenhaus entlassen worden, seinen Job als Präsident hat er wieder, und im Mai wird er sogar den Papst treffen.

Eigentlich sollten wir uns freuen, daß es Männer wie Henry Sobel gibt. Erstens: Der Mann hat Geschmack. Er hat bei seiner Klepto-Tour in Palm Beach nur vom Feinsten mitgehen lassen: Neben der Louis Vuitton-Krawatte fand die Polizei in seinem Wagen weitere Krawatten ohne zugehörigen Kassenzettel von Giorgio's, Gucci und Giorgio Armani. Zweitens: Er kurbelt die brasilianische Wirtschaft an. Louis-Vuitton-Krawatten sind inzwischen die Verkaufshits in Sao Paulo, wo jeder Strassenhändler für ein paar Reais prima Imitate anbietet: Da muß künftig wirklich niemand mehr zum Dieb werden!

Drittens: Es gibt Menschen, die in Rabbi Sobel schon den perfekten Kandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl sehen. Dass er nicht klauen kann, hat er ja nun wirklich bewiesen.

Freitag, 6. April 2007

Frohe Ostern

Ist ja grade noch mal gut gegangen. Für das Osterwochenende hatte die Infraero, die Verwaltung der brasilianischen Flughäfen, einen weiteren Höhepunkt der Krise vorausgesagt – nachdem Ende März bei einem Kurzstreik der Fluglotsen mal wieder alles drunter und drüber gegangen ist. 18 Lotsen-Sergeants waren vorübergehend festgenommen worden und manche unkten schon, Lula werde sich jetzt mit den Militärs anlegen, die in Brasilien für die Flugsicherheit zuständig sind. Die drohten, just am Feiertag womöglich wieder zu streiken. Obwohl der Präsident, statt ins große Armdrücken einzusteigen, gleich eine Sonderzahlung in ungenannter Höhe bewilligt und außerdem versprochen hat, den Sektor mittelfristig zu entmilitarisieren.


Das allein hat niemanden so recht beruhigt. Die Gewerkschaft der Flughafenangestellten riet ihren Mitgliedern prophylaktisch, lieber gleich ihren Arbeitsplatz zu verlassen, falls Tumulte wie im Dezember aufkämen. Viele Brasilianer verzichteten vorsichtshalber auf jegliche Osterreise. Die anderen haben anscheinend Glück gehabt. Nur zehn Prozent der Flüge waren gestern verspätet. Zum Vergleich: Vor Weihnachten hoben mehr als die Hälfte der Maschinen zu spät ab, ein weiterer Teil blieb, samt Passagieren am Boden. Dagegen sind die paar Wartenden von gestern ein Klacks. Ausserdem haben sich die Fluglotsen öffentlich bei der brasilianischen Gesellschaft entschuldigt. Fragt sich, wofür eigentlich? Für den Streik? Oder dafür, dass sie jetzt nur noch die gesetzlich vorgeschriebenen 14 Maschinen gleichzeitig beaufsichtigen, anstatt, wie früher hierzulande üblich, bis zu 20? Oder dafür, daß sie die nicht bezifferte Gratifikation eingesteckt haben, als besonders hübsches Osterei?


Tatsache ist: In den letzten Jahren ist die Menge der Flugreisenden in Brasilien gestiegen wie sonst nur noch das chinesische Bruttosozialprodukt – und gleichzeitig sind mehr als ein Drittel der brasilianischen Flugzeuge aus dem Verkehr gezogen worden. Das hat mit der Krise der einst größten brasilianischen Fluggesellschaft Varig zu tun – die kürzlich von der boomenden Billiglinie Gol aufgekauft worden ist. Ob die Gol künftig auf einen Teil ihres Rekordgewinns von 15 Prozent des Umsatzes* verzichten wird, um in mehr und größere Maschinen zu investieren? Oder werden die Gol-Manager es darauf anlegen, in den nächsten Jahren 89 Prozent Auslastung zu erzielen? Diese Zahl haben Spezialisten prophezeit, falls die Investitionspläne der Gesellschaft sich nicht ändern.


Die Brasilianer haben nicht gerade eine üppige Auswahl, wenn sie ihr Riesenland bereisen wollen. Die Strassenverhältnisse sind großteils bescheiden und zudem teilweise unsicher, ein Personenverkehr auf Schienen ist nahezu nicht vorhanden. Also fliegen die Brasilianer. Immer mehr. Und deutlich mehr, als die Infrastruktur verträgt. Der Flughafen Congonhas in Sao Paulo etwa, der für maximal 12 Millionen Passagiere im Jahr geplant war, mußte in 2006 ein Drittel mehr ertragen. Auf die Dauer wird das nicht gut gehen. Auch wenn die Fluglotsen gerade still halten. Sie haben ja schon gedroht: Falls die Regierung sich nicht an die Abmachungen hält, können sie jederzeit wieder streiken.

Es freue sich, wer gut nach Hause oder in den Urlaub gekommen ist. Frohe Ostern!



*im internationalen Vergleich werden drei bis fünf Prozent Gewinn als hervorragendes Ergebnis gewertet

Montag, 2. April 2007

Der Mann mit dem Schubkarren will kein anderes Leben

Gestern hab ich ihn endlich angesehen, den Sitio. Seit Monaten hat mich der Mann mit dem Schubkarren immer wieder angesprochen: Dieser Sitio wäre genau das Richtige für mich und meine Pferde. Ein Sitio ist so etwas wie eine Mini-Farm, und davon gibt es hier jede Menge: auf einem mehr als Hundert Hektar großen Areal nicht weit vom Meer entfernt, das früher eine einzige Plantage gewesen ist. Irgendwann wurde das Land unter den Plantagenarbeitern aufgeteilt, und deren Nachfahren leben bis heute dort. So wie Virgulino, der Mann mit dem Schubkarren.

Jeden Tag schiebt er seinen Karren hier durchs Dorf, schützt seine hellen Augen mit einer Schirmmütze vor der Sonne und seine Waren mit einer Plane vor eventuellem Sturzregen. Lauthals kündigt er den Hausfrauen sein Nahen an: Maaa-ca-xeeeeeeeera! Macaxeira* hat er immer, dazu kommen je nach Saison Passionsfrüchte, Mais, Papaya, Bananen und Mangos. Die Tonfolge seines Rufs ist seit vielen Generationen immer die Gleiche, ebenso wie die aller anderen ambulanten Verkäufer: Man muß die Worte nicht verstehen, um zu wissen, ob gerade der Gemüsemann, der Scherenschleifer oder der Topfflicker des Wegs kommt. Weil diese dörflichen Ambulanten allmählich aussterben, hat angeblich kürzlich ein Anthropologen-Team vorsichtshalber ihre charakteristischen Rufe archiviert.

Um zu Virgulinos Haus zu gelangen, reite ich endlose Sandwege zwischen Zuckerrohr- und Maniokpflanzungen auf sanften Hügeln entlang bis zum ehemaligen Hauptgebäude der Plantage. Ein Herrenhaus gibt es nicht, aber einen Laden mit Gasflaschen, Reis, Bohnen und Zuckerrohrschnaps, eine kleine Kirche, das Gebäude der Einwohnervereinigung und eine Handvoll Arbeiterhäuser. Hier lese ich Adriano auf, einen barfüssigen Knirps, der gerne hinten auf dem Pferd mitreiten will, um mir den weiteren Weg zu zeigen. Bergauf vorbei an noch mehr Zuckerrohr und Macaxeira, dann durch ein Stück wild zugewucherten Wald, dann abbiegen in einen Trampelpfad bergab, so steil, daß wir absteigen. „Da wohnt Virgulino“, erklärt Adriano schließlich.
Virgulinos Haus ist klein, unverputzt und die Terrasse sauber gefegt. Daneben wachsen Bananenstauden und Kokospalmen, Mango-, Jackfrucht- und Cashewbäume. An der Seite lädt ein Baumstumpf zum Sitzen ein: Von hier aus hat Virgulino einen Blick über das ganze weite Tal bis zum gegenüberliegenden Hügelkamm, hinter dem bald die Sonne untergehen wird. Deswegen beeilen wir uns, den Sitio anzugucken, den der Nachbar verkaufen will. „Der ist viel schöner als meiner!“, betont Virgulino, dem der Nachbar sicher für erfolgreiche Vermittlung eine Provision versprochen hat.

Der Sitio ist wirklich schön. Wie ein Stück beackertes Paradies schmiegt er sich an den Hügel. Neben den üblichen Macaxeira, Mais und Kürbissen wachsen allerlei mir weniger bekannte Pflanzen und dazwischen sprießt fröhlich Gras und anderes Kraut - die Erde ist offensichtlich fruchtbar. Seu Zé ist drahtig, vielleicht ein Meter fünfzig groß, und kommt in brauner Anzughose aus Nylon, frisch gebügeltem Hemd und Plastiksandalen mit der Gitarre unterm Arm gerade aus dem Gottesdienst. Zu Fuß, versteht sich. Deswegen will er auch verkaufen. Die Enkel haben es satt, morgens mehr als eine Stunde zur Schule und mittags mehr als eine Stunde wieder zurück zu laufen. Und die Söhne wollen Jobs in der Stadt finden, anstatt den Hügel zu beackern.
Seu Zés Haus hat er selbst aus Lehm gebaut – immer noch ein Zimmer, wenn wieder Nachwuchs kam. Es duckt sich auf einer Terrasse am Hang geschickt in den Schatten jahrhundertealter Mango- und Jaboticababäume. Unten in der Senke fließt eine kleine Quelle. Daneben hat Seu Ze einen rohen Holztisch gezimmert, zum Wäschewaschen. Hinter einem Sichtschutz aus Palmwedeln duscht die Familie: aus einem Tonkrug, dreißig Meter vom Haus entfernt. „Für eine Wasserpumpe hat das Geld nicht gereicht“, erklärt Seu Zé verschämt. Dabei hat er sogar einen Stromanschluß. Und bezahlt nicht mal dafür, ganz legal. Er steht bei der Stromversorgung auf der Warteliste: Bald, bald sollen seine selbst geschlagenen Holzmasten durch offizielle ersetzt werden. Und dann wird auch ein Stromzähler installiert. Das haben die Leute von der Stromversorgung jedenfalls vor zwei Jahren gesagt.

„Das ist ideal für dich und deine Pferde“, wirbt Virgulino wieder. Und Zés Frau erklärt mit Blick auf ihr Blumenbeet hinterm Haus: „Wir gehen nur wegen der Kinder weg.“ Ich stelle mir Seu Zés Zukunft vor. Er wird auf ein Grundstück von zwölf mal zwanzig Meter umziehen, das ein Vetter ihm in einer bescheidenen Siedlung in der Nähe der Stadt Ipojuca geschenkt hat, hat er mir erklärt. Keine Ahnung, wovon er leben wird, wenn er nicht mehr pflanzen kann. Vielleicht von den potentiellen Gehältern der Söhne. Ich würde ihm gerne seinen Sitio abkaufen – schon allein, weil er seit Monaten keinen Kaufinteressenten findet. Aber könnte ich hier leben? Langsam versinkt die Sonne hinter der gegenüberliegenden Hügelkette und färbt den Abendhimmel kitschig rosa. Inzwischen hat es sich unter den Mücken rumgesprochen, daß ich frisches Blut mitgebracht habe. Frösche quaken im nahen Mangrovensumpf, Grillen zischen in der dröhnenden Stille. Wie es hier wohl sein mag, wenn um sieben Uhr abends die Sonne vollends untergegangen ist und alles schwarz wird?

„Ich mache alles selbst“, erzählt Virgulino, als wir auf dem Trampelpfad wieder zurück gehen, zu seinem Haus. „Morgens kümmere ich mich um die Pflanzen, dann gehe ich mit meinem Schubkarren ins Dorf verkaufen – es ist gar nicht so weit, man gewöhnt sich daran! Mag sein, daß ich nicht viel verdiene, aber ich würde nicht für 18 Reais am Tag** für andere arbeiten wollen – wochenlang auf den Lohn warten müssen und sich obendrein vom Chef anmeckern lassen.“ Inzwischen sind wir an seinem Baumstumpf mit Blick angekommen. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Das hier“ – dabei macht der Mann eine weit ausholende Geste, „das tausche ich gegen nichts anderes auf der Welt ein.“ Womöglich hat er Recht.

Ich brauche eine gute halbe Stunde bis nach Hause. Immer im Galopp und dem Vollmond entgegen.

* kartoffelähnliches Wurzelgemüse

** hier üblicher Mindest-Tagessatz für Landarbeiter, umgerechnet rund 6,5 Euro
 
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