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Samstag, 4. September 2010

Kunst und Drogen


„Die Kids hier sollten genauso leicht Zugang zu Kunst haben, wie zu Drogen und Alkohol“. Das hat Lu Araujo gestern zu mir gesagt. Lu hat für Olinda ein Musikfestival erfunden, das eine Woche lang klassische und folkloristische oder poppige moderne Instrumentalmusik in Olindas Barockkirchen bringt. Olinda ist bekannt für seine koloniale Altstadt, die sogar UNESCO-Weltkulturerbe-Rang hat. Von Olindas Slums ist weniger oft die Rede.

Heute traf ich Maestro Ivan, den Leiter des Orchesters für zeitgenössische Musik, Orquestra contemporanea de Olinda. Er arbeitet mit jungen Leuten – auch aus den Slums. Sie spielen unter anderem Musik, die Mestre Ivan erfunden hat. Eine abenteuerliche Mischung aus Klassik und Folklore, nordostbrasilianischen und afrikanischen Traditionen und der Moderne. Ein Kritiker der New York Times hat sie gehört und geschrieben, aus Brasilien sei seit Chico Science nicht mehr so Aufregendes gekommen.

Der Maestro hat mir heute erzählt, dass ihm kürzlich eine vielversprechende Flötenschülerin ihr Instrument zurück gebracht habe. Sie wolle nicht mehr spielen, habe sie dazu gesagt. Als er zu dem Mädchen nach Hause in die Favela V8 ging, um mit der Mutter zu sprechen, merkte der Maestro, dass diese ihm etwas verschweigen wollte. Zwei Wochen später war das Mädchen tot. Gesteinigt. Sie hatte sich in die Welt des Crack hineinziehen lassen und war – ungewöhnlich schnell und gewöhnlich brutal – dabei umgekommen.

Am Montagabend spielt Maestro Ivan mit dem Orchestra contemporanea de Olinda oben auf dem Platz vor der Kathedrale Igreja da Sé. Das ist einer der Höhepunkte der MIMO, Kritiker aus dem ganzen Land werden darüber berichten. In den sieben Jahren, seit die MIMO existiert, haben mehrere Tausend junge und nicht so junge Leute dabei an Workshops und Kursen teilgenommen. Manche waren schon professionelle Musiker, andere wollen es werden. Hoffen wir dass es Lu; Mestre Ivan und all den anderen gelingt, für immer mehr Kinder und junge Leute Kunst genau so erreichbar zu machen, wie Drogen. Damit sie wenigstens eine Wahl haben.

Foto: Promo

Sonntag, 20. Dezember 2009

Das Glück im Jammerthal


Tatsächlich bin ich im Jammerthal gar nicht gewesen. Nur in Walachai, im Batatenthal, im Frankenthal und in Padre Eterno. Aber das macht wenig Unterschied: es sind allesamt winzig kleine Gemeinden im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Und in allen leben Nachkommen deutscher Einwanderer aus dem Hunsrück. Sie sprechen bis heute einen Dialekt, den sie als Hunsrückisch bezeichnen. Hochdeutsch lernen manche der Kinder neuerdings in der Schule. Portugiesisch lernen die meisten auch erst in der Schule – und sprechen es zeitlebens mit einem harten deutschen Akzent.

Walachai – ganz weit weg also, nannte der erste Einwanderer damals den von ihm gegründeten Ort, weil er eben ganz weit weg war – von der Küste, von den Städten. Von der globalen Marktwirtschaft sind die hunsrückischen Dörfer bis heute ziemlich weit weg. Und das ist gut so. Die Einwohner bearbeiten den Boden der vielen Hügel mit Gerätschaften wie aus dem Mittelalter: Pflügen mit Ochsen, fahren mit Ochsenkarren, dreschen das Bohnenstroh mit dem Dreschpflegel, melken von Hand und stapfen die Butter im Budderfass. Klingt ganz schön rückständig. Dabei haben die Jammerthaler, die Walachaier, die Batatenthaler und die Frankenthaler uns einiges voraus.

Damals, als die 70,80 Kilometer, die die Gemeinden heute von der Großstadt Porto Alegre trennen, noch eine lange Reise erforderten, haben die Einwanderer sich angewöhnt, alles selbst zu machen. Reis zu pflanzen und Kartoffeln, Bohnen und Gurken. Sie sägten die Bretter selbst, aus denen sie ihre Häuser auf einem Fundament aus selbst gesammelten Feldsteinen errichteten. Sie machten ihren Käse und ihre Butter selbst und ließen Zitronensaft mit Zucker und Wasser zu Spritzbier vergären. Sie rollten ihren Tabak selbst, den sie in getrockneten Maisblättern zum Palheiro rollten, und schmiedeten ihre Pflugmesser ebenso archaisch auf dem offenen Feuer wie die eiserenen Beschläge der Ochsenkarren. Jeder hatte seine eigene Trinkwasserquelle oder wenigstens einen sauberen Bach im Garten. Geld hatten die meisten keines: Sie brauchten auch selten welches.

Wie die meisten Eltern denken auch manche Walachaier, ihre Kinder sollen es einmal besser haben. Mit „besser“ meinen sie „fortschrittlicher“. Deswegen zog Vater Zilles mit seinen Töchtern irgendwann in die Stadt. Und die kleine Rejane weinte, weil sie Heimweh hatte und von den Klassenkameraden als „Kartoffeldeutsche“ gehänselt wurde. Später wurde Rejane Zilles Schauspielerin im großen Rio de Janeiro. Und noch später kehrte sie mit einem Filmteam zurück in ihr Dorf Walachai. Wo ihr Onkel Lídio immer noch mit dem Ochsenkarren aufs Feld fährt. Wo die Menschen immer noch wenig Geld haben. Und trotzdem ganz unglaublich glücklich aussehen.

Durch eine Verkettung von Umständen habe ich Rejane in Rio kennengerlernt, als die Dreharbeiten gerade abgeschlossen waren. Und jetzt, zwei Jahre später, bin ich mit ihr in den Süden gefahren, zur Premiere ihres Dokumentarfilms mit dem Titel „Walachai“. Ein Filmkritiker aus Porto Alegre fand, Rejane habe einen übertrieben dramatischen Soundtrack gewählt - vermutlich meinte er damit den ständigen Vogelgesang, der die Bilder untermalt. Bei meiner Reise habe ich gemerkt: Der ist nicht gewählt. Der ist echt. Den Film kannte ich schon, weil ich vor ein paar Monaten die Untertitel ins Deutsche übersetzt habe. Beim ersten Mal sind mir beinahe die Tränen gekommen, als ich die Menschen gesehen habe, in ihrer so gar nicht zeitgemäßen Unverstelltheit. Jetzt, in Walachai, im Batatenthal, im Frankenthal und in Padre Eterno, habe ich die Personen aus dem Film live erlebt. Habe mit Cousine Silvane Zwiebeln geerntet und mit Tio Lídio gepflügt. Habe der alten Bertha dabei zugesehen, wie sie die Glocken der Dorfkirche läutet, und habe mit der jungen Inadia Kartoffelkichelche gegessen, die sie auf dem Holzofen in selbstgemachtem Schmalz gebraten hat.

Es macht nichts., dass ich das Jammerthal dabei nicht kennengelernt habe. Das unwahrscheinliche Glück der Menschen in den einsamen Tälern habe ich auch so erlebt. Ich mag gar nicht versuchen, es zu erklären. Nur staunen und dankbar sein, dass ich es kennenlernen durfte. Silvane sagt: „Ich werde hier nie weggehen. Höchstens im Sarg.“ Recht hat sie.

PS. Über meine Reise wird – irgendwann in 2010 – ein Text im Reiseteil der Süddeutschen Zeitung erscheinen. Der Dokumentarfilm „Walachai“ von Rejane Zilles ist bei diversen Filmfesten in Deutschland eingeschrieben, bislang ist noch nicht entschieden, ob und wo er laufen wird.

fotos: wollowski (oben: Onkel Lídio mit seinem Ochsengespann; mitte: Silvane beim Zwiebeln Ernten; unten: seit 35 Jahren glücklich verheiratet: Cleci und Werno Hoffmann)

Dienstag, 14. November 2006

Ein kleines Hotel am Strand - deutsche Lebensträume in Brasilien

Wir Deutschen haben nicht gerade den Ruf, das phantasievollste Volk der Welt zu sein. Vielleicht fasziniert uns deswegen Brasilien mit seinen Überlebenskünstlern so. Die Deutschen stehen unter den europäischen Brasilienurlaubern an zweiter Stelle (gleich nach den Portugiesen), und die meisten kommen mehr als einmal. Kein Wunder, daß mancher irgendwann von einem Aussteigerleben unter ewiger Sonne an einem palmenbestandenen Strand träumt. Wie kann ich an einem solchen Paradies leben, und trotzdem Geld verdienen, fragen sich die deutschen Brasilienfans. Und finden flugs eine Antwort: Ja, klar, das ist es – ein kleine nettes Familienhotel an einem idyllischen Ort aufmachen. Wer nicht vom Hotel träumt, macht ein Restaurant auf, und damit ist die Bandbreite der Kreativität auch schon am Ende. Neun von zehn Deutschen, die ich hier treffe, haben ein kleines Hotel am Strand. Glücklich sind viele meiner Mit-Deutschen in Brasilien trotzdem nicht.

Mein Nachbar hat einen halben Lebenstraum verwirklicht. Er besitzt etwas, das mal ein Familienhotel werden will. Auf seinem großen, sorgfältig gemalten Schild heißt es: „Pousada, hier sprechen wir Deutsch“ – beinahe wie im Film von Gerhard Polt. Pousada heißt Pension auf Portugiesisch. Auf dem Schild zeigt ein Pfeil die Richtung, aber eine Pension ist nicht zu entdecken. Statt dessen steht in der Pfeilrichtung ein Rohbau, davor wartet der Betonmischer auf Handwerker, die nie kommen: vielleicht ist dem Besitzer nach dem Schildermalen das Geld ausgegangen. Immerhin steht die Bauruine seiner Träume direkt am Strand – und vielleicht ist mein Nachbar glücklich. Vielleicht wohnt er auch gar nicht mehr hier: Ich habe ihn noch nie gesehen.

Karl hat seinen Lebenstraum aufgegeben. Er hatte sich ebenfalls in einen Strandort verliebt, hat eine Erbschaft gemacht und - ja genau - beschlossen, ein kleines Hotel aufzumachen. Weil Karl nicht – wie der andere - sein ganzes Geld für das Grundstück ausgeben wollte, kaufte er keine Strandlage. Und ist jetzt chronisch pleite und Besitzer eines kleinen Hotels mit neun Zimmern und einem großen Garten, das niemand findet, weil es in einer der kleinen Hinterstrassen des Orts versteckt liegt. Karl stellt schon lange keine Schilder mehr auf oder macht sonstwie Werbung für sein Hotel. Er lebt überwiegend in seinem Garten, wo er Orchideen züchtet und Bananen pflanzt: die Orchideen verkauft er gelegentlich an Sammler und die Bananen kann er immerhin essen.

Thomas hat seinen Lebenstraum satt. Dabei ist sein kleines Hotel fertig gebaut – für die letzten Zimmer hat sich Thomas seine Lebensversicherung auszahlen lassen, denn zurück wollte er sowieso nicht mehr. Dann ist sein Ort vom Geheimtipp für abgebrannte Rucksackreisende zum Lieblingsferienort für hippe Typen aus Europa und Brasilien avanciert und die einst einsame Lage von Thomas’ Hotel zum idealen Standort abseits des Trubels. Das heißt: Thomas kann von seinem Hotel leben. Er muß nicht mal mehr viel arbeiten, Zimmermädchen, Köchin und Gärtner machen ihren Job zuverlässig. Jetzt schaukelt Thomas meistens in der Hängematte und guckt auf den idyllischen Strand. Tolles Leben? Findet Thomas nicht. Die ersten Jahre, als das Geld endlich gereicht hat, seien ja noch ganz nett gewesen, sagt er. Aber immer nur auf den Strand gucken! Manchmal frage er sich schon, warum ihm nichts Besseres eingefallen ist.

Klaus-Dieter ist glücklich ohne Lebenstraum. Sein Traum war die Pension, die er vor zwanzig Jahren von seinen Ersparnissen gebaut hat. Die lief so schlecht, daß Klaus-Dieter sich schon bald als Fremdenführer auf Ökotouren durch den Wald versuchte. Aber den Brasilianern war es zu heiß im Tropenwald – Strandurlauber wollen hier lieber im Schatten sitzen, als bei sportlichen Aktivitäten zu schwitzen. Also hat Klaus-Dieter ein Restaurant aufgemacht. Nachdem er das Restaurant mangels Gästen wieder schließen mußte, hat er eine Räucherkammer gebaut und Hühnerbrüste und Fische geräuchert. Das war so exotisch, daß sich dafür sogar Kunden fanden. Nur zum Leben hat der Verdienst wieder nicht gereicht. Vor einiger Zeit erzählte mir Klaus-Dieter, er habe die Dauerpleite satt, er werde jetzt in die Politik gehen. Kürzlich traf ich ihn wieder: Klaus-Dieter hat jetzt einen Job als Umweltsekretär eines winzigen Ortes und dafür sogar die brasilianische Staatsangehörigkeit angenommen. Als Umweltsekretär verbringt er den halben Tag im eisgekühlten Büro und die andere Hälfte des Tages in stickigen öffentlichen Transportmitteln - am Strand ist er so gut wie nie. Aber glücklich ist Klaus-Dieter. Vielleicht, weil er selbst zum Überlebenskünstler geworden ist.
 
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