Die Hoffnung ist der Reichtum der Armen, habe ich gelesen. Wenn einer also einem eine falsche Hoffnung schenkt, ist die dann - ausser einer Illusion - so etwas wie Glasperlen für Indios - schön glitzernd und gefühlt ebenso wertvoll wie echte Edelsteine? Oder eher so etwas wie ein hübsch anzusehender aber doch schon länger gelagerter Fisch – der erst beim Braten anfängt zu stinken?
Letztens war ich in der Cidade de Deus – in Deutschland besser bekannt als „City of God“. Kurz vorweg: Die Cidade de Deus ist eine der mehr als 600 von der Drogenmafia beherrschten Favelas auf den Hügeln von Rio, und ich bin nicht lebensmüde. In der Cidade de Deus leben nicht nur Killer, sondern auch friedliche Menschen. Nicht jeden Tag gibt es Schießereien, und sogar Ausländer können Favelas betreten, ohne automatisch in Lebensgefahr zu geraten. Zum Beispiel, wenn sie zusammen mit einem Bewohner unterwegs sind. Ich bin mit Gisele gekommen, Gisele lebt in der Cidade de Deus - und sie steht für eine kollektive Hoffnung.
Es ist Samstag nachmittag, die Sonne knallt auf rissigen Asphalt voller Schlaglöcher und schickt ihre Strahlen durch das Oberlicht des Gemeinderaums aus unverputztem Backstein. Zwei Duzend Köpfe drehen sich zum Eingang, als Gisele eintritt; dünne und pummelige, schüchterne und freche, kindliche und kokette Mädchen zwischen sechs und sechzehn gucken erwartungsvoll auf die große Frau im Baseballkäppi mit dem ansteckenden Lächeln. Jeden Samstag unterrichtet Gisele ehrenamtlich alle Interessierten. Davon gibt es viele, vor allem Mädchen. Weil in Brasilien neun von zehn Mädchen davon träumen, Model zu werden. Unten in Copacabana in den schicken Mittelklasse-Appartments genau so wie hier oben in den unverputzten Häusern.
Streng fordert die Lehrerin alle Schülerinnen auf: „High Heels anziehen und aufstellen!“ Manche balancieren in zwei Nummern zu großen Schuhen, andere schlingern unsicher auf Stöckel-Havaianas, die meisten gucken trotzdem so cool, als trügen sie nie Schuhe mit weniger als zehn Zentimetern Absatz. Auch die ganz Kleinen. Dann schallt Musik aus dem Ghettoblaster und Gisele klatscht in die Hände. Los geht der Catwalk über den nackten Beton. Einmal die ganze Länge der Mehrzweckhalle entlang, anhalten, in den Hüften wiegen, umdrehen und noch mal die ganze Länge zurück.
Wie angehende Models sehen sie nicht aus. Ein winziges Mädchen guckt so grimmig, als müsse sie erst ihre eigene Angst besiegen. Eine andere schleicht geduckt, als erwarte sie Schläge. Eine dritte schreitet wie eine Ballerina –viel Charisma, aber höchstens ein Meter sechzig Körpergröße. Gisele nimmt sie alle ernst. Richtet die Geduckte vorsichtig auf, bis sie zehn Zentimeter größer wirkt. Läuft der Grimmigen voran, bis sie ein winziges bißchen lockerer wird. Und noch mal und noch mal und noch mal. In der Pause erklären die Mädchen mir ihren Traum: berühmt werden, viel Geld verdienen, reisen, Interviews geben, Stars treffen.
Der erste Star ihres Lebens ist ihre Lehrerin beim Catwalk. Gisele Guimarães, aufgewachsen in der Cidade de Deus, hat einen Vertrag als Model bei der internationalen Agentur Elite. Deren Büro im Nobelviertel Leblon hat nicht mal ein Schild an der Tür– um Massenandrang zu vermeiden. Geschafft hat die 21jährige Gisele das mit ihren meterlangen schlanken Beinen, schmalen Hüften, kleinen Brüsten und dem hüftlangen, glatten, rotbraunen Haar. Sie trägt falsche Wimpern über den dunklen Augen und zaubert lustige Grübchen in ihr coververdächtiges Lächeln. Ihr Geld verdient Gisele immer noch in einem Restaurant in Leblon – weil sie immer noch kein professionelles Book hat, mit dem die Agentur sie besser verkaufen könnte. Aber der wichtigste Schritt ist geschafft, findet Gisele: Sie schämt sich nicht mehr, dass sie in der Cidade de Deus wohnt. „Klar kommen viele Models aus Favelas“, sagt sie, „aber die geben das nicht zu“.
Deswegen unterrichtet Gisele jeden Samstag ehrenamtlich die Mädchen hier im Catwalk. Zwei Stunden kostenloser Unterricht in Selbstbewußtsein, aufrechter Haltung, Rhythmus und Stolz. Auch wenn sie das so nicht sagt. Deswegen darf jeder an dem Kurs teilnehmen, unabhängig von Modelmaßen. „Wir versuchen die Mädchen erst mal her- und dann auch auf andere Träume zu bringen“, sagt Gisele.
Letztens waren schon mal Ausländer in der Cidade de Deus. Sie haben einen Dokumentarfilm für das ZDF gedreht. Über die Träume der Mädchen und über Gisele und den Unterricht. Gisele zeigt mir die Hauptdarstellerin, die das ZDF-Teams sich ausgesucht hat: Eine besonders magere kindliche Sechzehnjährige, deren Hüftknochen sogar in der Jeans auffällig herausstechen. Sie hat ein bißchen tiefliegende Augen, dunkle Locken und keine besonders auffallende Ausstrahlung.
Der Favela-Fotograf Tony Barros zeigt mir die DVD mit dem TV-Film, die ihm das Team gegeben hat: Den Fernsehleuten hat S. ihre Plüschtiere zuhause gezeigt und erzählt, wie sehr sie von einer Model-Karriere träumt. Schüchtern strahlt sie, als die Fremden sie in schicke Klamotten stecken und Tony eine professionelle Kamera in die Hand drücken, damit er Book-Fotos für sie machen kann. Ihr Mutter betont, sie würde die Tochter in der Karriere unbedingt unterstützen.
Und dann begleiten die Kameraleute das Mädchen ohne Modelmaße bis nach Leblon. Die Agentur Elite hält zweimal wöchentlich „open door“. Da dürfen sich alle vorstellen, die Model werden wollen. Mit und ohne Book. Wer gar keine Chancen hat, kommt nur bis ins Vorzimmer. Wer interessant aussieht und ins Bild paßt, darf rein zu den Bookern. Und wer ganz viel Glück hat, wird unter Vertrag genommen.
Die kleine Karawane mit der TV-Träumerin an ihrer Spitze gelangt bis zum Booker. Auch wenn der etwas gequält aussieht, als er sagt: „Du bist wirklich sehr hübsch. Aber leider ein paar Zentimeter zu klein. Wenn Du noch wächst, kannst du gerne nächstes Jahr wieder kommen.“ S. bemerkt das Gequälte nicht. Vielleicht ist sie sogar erleichtert, dass sich die Aufregung auf diese Art noch einmal verschoben hat. Erst nächstes Jahr wird sie ihren Traum der Realität zur Prüfung stellen müssen. Sie weiß nicht, dass sie ohne das deutsche TV-Team nicht über das Vorzimmer hinaus gekommen wäre.
So stakst sie weiter jeden Samstag über den rohen Betonboden, der flüchtige Doku-Ruhm verblasst jede Woche ein bißchen mehr, und wenn sie Glück hat, verblasst auch ihr großer Elite-Traum noch vor dem nächsten Jahr und macht einem anderen Platz. Als ob sie die geschenkte Glasperlenkette zwar schön finde, aber irgendwann doch in die Ecke legt. Oder den geschenkten Fisch gar nicht erst brät: Dann kann er auch nicht stinken.
Sonntag, 23. September 2007
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen