Freitag, 5. Oktober 2007

Der Zirkus und die Statistik

Plötzlich lagen auf der Pferdewiese seltsame Sachen herum: Stangen und Planen und noch mehr Stangen. Sah aus, wie ein Altmetallager. Ein paar Typen wuselten dazwischen rum und erklären: „Das ist ein Zirkus“.

Wenig später stand das Zelt, davor ein wohnwagenähnliches Kassenhäuschen, das war alles. Die gesamten Zirkus-Zutaten passen auf einen klapprigen Anhänger, den wohl der noch klapprigere Chevrolet zieht, der daneben geparkt ist. Ein magerer Junge mit einem alten Gesicht radelt seither jeden Nachmittag mit einer Lautsprecheransage durchs Dorf: „Nur noch heute abend, kommen Sie in den magischen Zirkus Douglas, bringen Sie ihre ganze Familie mit!“

Mangels Familie bin ich mit der Besitzerin der Pferdewiese hin gegangen, eine respektable Dame um die 60, die gleich noch ihre depressive ältere Schwester mitbrachte, damit die mal was anderes zu sehen bekam.

So einen Mini-Zirkus sucht man ja schon milde gestimmt auf. Bereit, allerlei Unzulänglichkeiten zu verzeihen, setzt man sich auf staubige schmale Holzbretter, ignoriert die Moskitos und wartet geduldig darauf, was passiert. Zunächst kommt nacheinander so ziemlich das gesamte Dorf: Mütter, an denen mehrere Kleinkinder klammern, aufgebrezelte Teenies in Miniröcken, Männerrunden in Feierlaune und zittrige Omas drängen in das immer stickiger werdende Zelt. Die letzten müssen stehen bleiben.

Nach umständlichen Vorreden („wir möchten jeden im geschätzten Publikum vollends zufrieden stellen mit unseren einzigartigen Darbietungen“ etc etc.) balanciert uns ein kleinwüchsiger Seiltänzer etwas vor. Nur ein Teil des Publikums ist beeindruckt. Der andere kauft fleißig Bier und Popcorn bei dem mageren Jungen mit dem alten Gesicht, der ständig zwischen den Reihen umherhuscht. Zum Seiltanz gibt es Schmalzhits aus übersteuerten Boxen und ein paar Zwischenrufe der ersten Betrunkenen: „Wo sind die Frauen?“. Als auch noch ein Jongleur auftritt, ein buckliger Kerl im blauen Satinhemd, der gelegentlich eine seiner Keulen verliert, buhen die ersten, obwohl es sich um den „berühmten Michael Douglas“ handelt, nach dem vermutlich der Zirkus benannt ist.

Endlich kommt eine Frau, die „weltberühmte Jaciara“. Mindestens 1,75 gross, davon mehr als die Hälfte Beine, die allerdings unterhalb des Knies in dünne Kleinkinderwaden auslaufen, nur halbwegs kaschiert durch kleine Schnürstiefelchen. Jaciara trägt einen Glitzer-BH, einen Stringtanga, darunter fleischfarbene Nylons und lächelt huldvoll ins Publikum. Dann legt sie los. Jaciara ist kein Schlangenmensch und auch keine Trapezkünstlerin. Sie bewegt sich in einer eigentümlichen Choreographie, deren Elemente aus dem Tanz eines Roboters, einem epileptischen Anfall und einer Peepshow zusammengesetzt scheinen. Das männliche Publikum ist nicht so pingelig wie ich. Es tobt. Ein paar der Stehgäste geraten so in Fahrt, dass ein Kollege Jaciaras sie mit einigem Nachdruck davon abhalten muß, die Arena zu stürmen.

Und die Frauen? Und die Kinder? Und die Omas? Gucken gleichmütig nach vorne, als laufe gerade eine Werbung für Hundefutter, und stopfen Popcorn in sich hinein.

Nach Jaciara kommt ein Clown. Als der sagt "mein Bruder ist schwul" grölen die Leute. Als er anfängt über seine Maniokwurzel in der Hose zu sprechen, fallen sie fast von den Bänken. Danach zeigt Janaína, eine blasse Schwarzhaarige ihren beeindruckendem Bauch, den sie permanent kreisen läßt. Danach kommt der Clown und danach die kaum bekleidete Yvonne. Der magere Junge muß dem Publikum immer öfter Biernachschub holen gehen. Mir würden die rotierenden Hängebäuche jetzt allmählich genügen, aber die Besitzerin der Pferdewiese hält mich vom Gehen ab: „Wart nur ab, gleich werden die Männer anfangen, ihre T-Shirts in die Arena zu werfen, damit die Frauen sich den Schweiß daran abwischen!“, erklärt mir die 60jährige begeistert. Auch die Depressive scheint zufrieden. Niemand verläßt vorzeitig die Show, und nachdem insgesamt sechs Frauen ihre primären und sekundären Geschlechtsteile inklusive Bäuchen vor der Menge geschwenkt haben, strömt gegen 23 Uhr eine aufgeheizte Masse aus dem Zelt. Manche stehen noch eine Weile unschlüssig mit Bierdosen rum, andere schleichen sich ins Dunkel der Pferdewiese zu weiteren Vergnügungen.

Was das mit der Statistik zu tun hat? Nun, der magere Junge gehört vermutlich zu den 16 Prozent der 15-17jährigen, die trotz Schulpflicht dieselbe nicht besuchen. Und die Gleichaltrigen im Publikum könnten zu den 50 Prozent dieser Alterklasse gehören, die zwar zur Schule gehen, aber ein, zwei oder noch mehr Klassen wiederholt haben. Je weniger geübt das Hirn, desto leichter die Begeisterung über die einzigartigen Darbietungen des magischen Zirkus Douglas, oder? Ein wenig aktives Hirn stört auch wenig beim Gang ins nächste Gebüsch. Und hilft dadurch, der nächsten Statistikrubrik zuzuarbeiten: Es gibt immer mehr minderjährige Mütter in Brasilien.

Deren Mütter verstehen nicht, wie das passieren kann: Die Telenovelas zeigen bestenfalls mal leidenschaftliche Küsse. Und sie selbst lassen ihre Töchter niemals abends unbeaufsichtigt aus dem Haus. Ausser vielleicht zum Zirkus.

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