Mittwoch, 4. Oktober 2006

Der Segen des kurzen Gedächtnisses

Das Schöne an den Brasilianern ist, daß sie so gut vergeben und vergessen können. Sie sind absolut nicht nachtragend. Vielleicht haben sie auch einfach nur ein schlechtes Gedächtnis. Ein brasilianisches Sprichwort sagt, „wer keine Seiten umblättern will, ist es nicht wert, das Buch zu lesen.“ Die Brasilianer blättern fleißig um. Manchmal vergessen sie darüber sogar, das Buch zu lesen.

Ein besonders schönes Beispiel für das schwache Gedächtnis – oder für das großzügige Vergeben und Vergessen - des brasilianischen Volkes ist die Liste der Kandidaten, die soeben in den Senat und ins Abgeordnetenhaus gewählt wurden. Jeder zehnte der Abgeordneten ist irgendwelcher Unregelmäßigkeiten verdächtig, gegen 35 der 513 laufen Gerichtsverfahren – und mancher Hauptdarsteller der jüngsten Skandale ist vertreten: Die Brasilianer haben Ex-Minister Palocci gewählt, der wegen Korruptionsvorwürfen vor kurzem zurücktreten mußte. Sie haben den Ex-Chef der Arbeiterpartei PT gewählt, der ebenfalls wegen Korruptionsvorwürfen aus dem Amt entlassen wurde. Und sie haben den aktuellen PT-Parteichef gewählt, den Lula wenige Tage vor der Wahl als „Bandit“ beschimpft hat, weil er in den Dossier-Skandal verwickelt ist.

Mit überwältigender Mehrheit haben sie übrigens auch Fernando Collor in den Senat gewählt. Genau, den Ex-Präsidenten. Der 1992 wegen Korruptionsvorwürfen durch ein Impeachment abgesetzt wurde. Aber nach all den Jahren ist Collor ein anderer Mensch und kehrt „mit reinem Gewissen und gewaschener Seele“ in die Hauptstadt Brasilia zurück, wie er sagt.

Das ist die andere Seite des Vergebens und Vergessens: Mit Schuldgefühlen plagen sich brasilianische Politiker auch nicht lange. Präsident Lula kommentierte seine Niederlage im ersten Wahlgang wie folgt: „Jetzt werden wir einen gerechteren und ehrlicheren Wahlkampf haben. Und der zweite Wahlgang bietet auch bessere Voraussetzungen für die Debatte.“ Debatte? Hatte der Präsiden da nicht blau gemacht? Zum nächsten TV-Duell wird er wohl hingehen müssen. Sonst erinnert sich womöglich irgend jemand daran, was Herausforderer Alckmin gestern gesagt hat: „Lula hat seine Chance gehabt, und er hat sie vertan.“

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