Mittwoch, 11. Oktober 2006

Handelsreisende mit Handkarren

Manchmal ist ja Brasilien noch Mittelalter. Bekannte von mir wohnen auf einer kleinen Farm auf dem Land. Auf dem Land heißt in diesem Fall: rund drei Kilometer vom nächsten Dorf und 25 von der nächsten Stadt entfernt. Und Mittelalter bedeutet nicht etwa, daß es auf dem „Sitio“ (so heißen hier kleine Farmen) keinen Strom oder kein fließend Wasser gäbe. Gibt es alles.


Mittelalter bedeutet, daß da heute vor dem großen Holztor ein Handkarren parkt. Mit dem aus alten Autoreifen und diversem Gestänge zusammengebastelten Gefährt sind zwei Handlungsreisende unterwegs. Sie ziehen und schieben ihren mobilen Laden über löcherige Lehm- und Sandwege, in Gegenden, in denen nur alle paar hundert Meter mal ein Haus steht, in denen nie ein Bus vorbei kommt und nur wenige ein Fahrrad besitzen. Der Handkarren ersetzt den modernen Handlungsreisenden den Esel. Das ist ein entscheidender Fortschritt, weil der Karren nicht frisst.


Das Warenangebot hat sich natürlich auch erweitert: Dampfkochtöpfe haben die Jungs dabei, Plastikwannen und –eimer in allen Größen, Geschirrhandtücher, Bettlaken, Hängematten, Fußabtreter, Geschirrsets und Besteckkästen, Kehrschaufeln und Schrubber. Es ist erstaunlich, was auf so einen Karren paßt und noch erstaunlicher, daß auf der holperigen Reise anscheinend nichts verloren geht oder zerbricht.


Gerade hebt einer der Verkäufer einen rotbraunen Plastik-Gartenstuhl über das Tor des Sitio. „Nein, ich will nichts kaufen“, beteuert Gilvan, schüttelt zur Bekräftigung den Kopf, und hört trotzdem zu, was der Verkäufer zu sagen hat. Hier auf dem Land kommt nicht so oft Besuch. Also plaudert Gilvan ein bißchen mit den beiden Handlungsreisenden, die ja schließlich rumkommen in der Welt. Lässt sich erklären, was in der Stadt so passiert, vom letzten Autounfall bis zum neusten Tanzschuppen und erfährt außerdem, daß die Gartenstühle nahezu unzerstörbar sind, daß sie Regen und Sonne vertragen – und vor allem dann gut ankommen, wenn Gilvan mal Damen einen Sitzplatz anbieten will.


Nach einer halben Stunde angeregten Gesprächs öffnet Gilvan das Tor, trägt zwei rotbraune Gartenstühle auf seine Terrasse, hängt eine schwarzweißgemusterte Hängematte an die bisher nutzlosen Haken und bietet den Besuchern ein Glas Wasser an. Das Wasser ist lauwarm, denn einen Kühlschrank besitzt Gilvan nicht. Eigentlich muß er sein Geld zusammen halten, hat er erst letztens gesagt. Geld wechselt auch nicht den Besitzer in dieser Transaktion. Bevor die beiden schwitzenden Händler ihren Karren weiterschieben, unterschreibt Gilvan einen rosa Zettel, das ist alles.


„Ich muß erst nächsten Monat bezahlen“, erklärt er stolz und schaukelt probeweise in seiner Hängematte. 75 Reais hat sie gekostet. Plus 35 für jeden der Stühle, macht insgesamt 145 Reais, umgerechnet gut 55 Euro, das ist mehr als ein Drittel des Monatslohns eines Landarbeiters und vermutlich ungefähr doppelt so viel, wie die Sachen im Laden gekostet hätten.


Aber solche Rechnungen macht Gilvan nicht. Machen die meisten Landbewohner nicht. Viele von ihnen gehören zu den zehn Prozent funktionaler Analphabeten Brasiliens: Sie sind nur ein paar Jahre zur Schule gegangen und haben bald wieder vergessen, was sie dort gelernt haben. Beim Ratenkauf - sogar in normalen Geschäften - zahlen Brasilianer manchmal mehr als 200 Prozent Zinsen. Rechnet ja keiner nach.


Ich frage mich, ob die Jungs, wenn sie dann in einem Monat wieder den Sandweg entlang schwitzen, all ihre Schuldner wiederfinden. Ob die sich nicht einfach im Haus verstecken oder zufällig kein Geld parat haben, wenn es ans Zahlen geht. „In den Städten ist das so“, gibt der Händler zu. „aber auf dem Land gilt noch das Ehrenwort. Schlimmstenfalls bieten uns die Leute ein paar Hühner zum Tausch an, wenn sie nicht genug Geld haben“. Das ist wohl auch seit dem Mittelalter so.

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