Montag, 23. März 2009
Haben wir uns wirklich daran gewöhnt?
Gestern abends saß ich mit Freunden im alten Hafenviertel von Recife unter Bäumen. Ein Schlagzeuger, ein Kontrabassist und ein Saxophonist spielten Jazzklassiker von Over the rainbow bis Summertime. Irgendwann kam eine uneitel wirkende junge Frau dazu und machte mit ihrer Stimme Töne zum Gänsehautbekommen, wie früher Ella Fitzgerald oder hierzulande Elis Regina. Das war so schön, dass den Zuhörern an den Bartischen manchmal momenteweise die Konversation erstummte. So etwas kommt nicht oft vor bei den gesprächsfreudigen Recifensern. Katharina, so hieß die Frau, mag ein bisschen mit schuld daran sein, dass es bis auf weiteres jeden Sonntag Jazz in Recife Antigo geben wird.
Bis auf weiteres heißt: Bis das Publikum der neuen Attraktion müde ist und die Bar durch die Musik keinen besseren Umsatz macht. Oder, bis die sensationelle Sängerin wieder abgereist ist. Katharina ist nämlich Engländerin, seit eineinhalb Jahren hier und hat Recife allmählich satt. Das erklärt ihr brasilianischer Freund und sieht dabei nicht sehr glücklcih aus. Sie hingegen sieht nicht im mindestens aus, als habe sie irgendetwas satt, in diesem Moment. Was gefällt ihr denn nicht? Ihr brasilianischer Freund druckst ein bisschen. Dann sagt er es doch. „Die Gewalt“.
Wer würde an einem solchen lauen Abend mit so wunderbarer Musik an Gewalt denken? Ich hatte nicht daran gedacht. Meine Freundin auch nicht. Vielleicht sind die Engländer da empfindlicher, überlegt sie, vielleicht haben wir uns einfach mehr daran gewöhnt, dass wir hier mit Gewalt leben müssen.
Damit leben müssen wir wirklich, keine Frage. Letztens zum Beispiel, wurde hier im Nachbarviertel einer umgebracht. Ein recht frisch Zugezogener, der eine gut gehende Kneipe führte. Niemand weiß, ob er einem alten oder einem neuen Streit zum Opfer gefallen ist. Aber eine schwerwiegende Angelegenheit muss es gewesen sein, denn die Täter haben ihn nach dem eigentlichen Mord noch gevierteilt. Die Kneipe des Opfers ist vielleicht drei Kilometer Luftlinie von meinem Haus entfernt. Für mich bleibt die Tat trotz der geographischen Nähe so unvorstellbar, dass die Geschichte etwas Irreales hat. Es geschehen gelegentlich Morde hier. Meist sind es Abrechnungen unter Drogenabhängigen und Drogenhändlern, gelegentlich Eifersuchtsdramen. Normalerweise erzählt mir eine Nachbarin so eine Geschichte, und ich versuche, mir keine Einzelheiten dabei vorzustellen.
Seit dem ersten Januar 2009 sind in Recife 957 Menschen ermordet worden, Heute waren es bislang 22, diesen Monat 216 – so vermeldet der PE Body Count, eine Privatinitiative, die auf Gewalttaten hinweist und dafür im Stadtteil Derby in Recife sogar einen öffentlichen Mord-Zähler aufgestellt hat. Der Body Count läuft seit mehr als einem Jahr – verbessert hat sich die Lage seitdem nicht. Statistiken zeigen: Vor allem junge männliche Täter erschießen junge männliche Opfer. Vor allem in der Peripherie, vor allem nachts, vor allem nach Alkoholgenuss. Wer nicht zur Zielgruppe gehört, mag sich so halbwegs sicher fühlen.
In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag ist im Vorort Jaboatao der Pfarrer Ramiro Ludeño erschossen worden. Der Padre war 64 Jahre alt und sein Fehler war es womöglich, einen Hilux zu fahren – ein Geländewagen in einer Preisklasse, die in Jaboatao Aufsehen erregt. In dieser Nacht die Aufmerksamkeit eines mageren jungen Drogensüchtigen, der sich erhoffte, vom Fahrer eines solchen Wagens sei ordentlich Asche zu holen. Vielleicht war der Pfarrer auch nicht ängstlich genug. Er händigte dem Dieb nämlich kein Geld aus, sondern griff statt dessen zur Gangschaltung. Darauf schoss der junge Mann und floh – ohne etwas erbeutet zu haben.
Der spanische Pfarrer Ramiro hatte 34 Jahre in Jaboatao gelebt. In dieser Zeit hat er sein Leben jungen Leuten ohne Perspektive gewidmet, denen er Jobs, Ausbildungsplätze und eine Zukunft besorgte. Menschen wie sein Mörder. Es haben viele geweint auf der Beerdigung von Padre Ramiro. Weil gerade die Bewohner der Peripherie sich nicht daran gewöhnen wollen, dass die Gewalt überall sein kann.
Am Sonntagabend spricht keiner vom Tod des Padre. Wir lauschen der Stimme der jungen Engländerin und spüren die nächtliche Brise auf der Haut. Heißt das wirklich, wir haben uns gewöhnt?
Foto: Casa da Moeda
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1 Kommentar:
hallo,
ich sage es ja ungern: aber die antwort lautet: "JA".
man gewöhnt sich an alles, und das auch noch relativ schnell.
allerdings kann ich keine hilfe anbieten oder mit einer lösung aufwarten. ich weiß auch nicht wie man mit so etwas richtig umgehen sollte. traurig aber wahr.
umziehen/auswandern ist auch keine lösung.
...dass es in bestimmten teilen rios und vor allem in sao paulo noch viel schlimmer ist hilft auch nicht weiter...
es gab schon mehrere fälle in sao paulo in denen meine frau, meine kinder und ich in lebensgefahr schwebten. aber besser geld(beutel), ausweise und gegenstände verlieren als das leben. es ist nicht schön pistolenmündungen anzublicken. ausländischer (deutscher) dialekt in der öffentlichkeit kann in brasilien böse enden.
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