Samstag, 23. Februar 2008

Banale Gedanken zu banalern Morden

Recife liegt beim neuesten Ranking auf Platz eins oder neun, je nachdem wie man zählt. Seit 1981 besetzt die Stadt, in deren Großraum ich wohne, regelmäßig einen der obersten Plätze. Das ist allerdings eher ein Grund zum Weinen als zum Feiern, denn es geht hier um die vom Gesundheitsministerium herausgegebene Statistik zu den brasilianischen Städten mit den meisten Mordfällen. Es weint trotzdem niemand: Mord ist hier etwas ziemlich Banales.

In beinahe acht Jahren Brasilien habe ich meine eigene Erlebnissammlung zur allgegenwärtigen Gewalt: Zuerst erlebte ich, wie bei einem Fest auf dem Dorfplatz Schüsse fielen. Danach konnte ich die halbe Nacht nicht schlafen. Monate später sah ich am selben Dorfplatz in einer Kneipe dabei zu, wie ein paar Meter weiter ein Volltrunkener einen anderen mit einem Revolver bedrohte - wobei seine Hand dermaßen unsicher war, dass das Ding locker ungewollt losgehen und auch mich hätte treffen können. Ich werde nie vergessen, wie der Barbesitzer sich unbewaffnet zwischen die Streithähne stellte und den Revolverheld ruhig aufforderte, nach Hause zu gehen. Machte der tatsächlich. Ich ging wenig später und habe, so weit ich mich erinnern kann, gut geschlafen.

Jahre später hörte ich nachts beim Feiern mit Freunden ein schußähnliches Geräusch ganz in der Nähe und wir witzelten darüber: Da hat bestimmt jemand einen abgeknallt. Am nächsten Morgen erfuhr ich: dem war tatsächlich so. Der Mörder war ein junger Typ, den ich vom Sehen kannte und der mich immer freundlich gegrüßt hatte. Angeblich hat er den anderen erschossen, weil der ihm keine Zigarette schenken wollte. Eine Zeitlang habe ich danach allerlei flüchtige Bekannte beim Grüßen etwas mißtrauisch angesehen: Jeder konnte ja der nächste Mörder sein.

Irgendwann gab sich das Checken wieder. Nicht, weil weniger passierte, eher im Gegenteil: Unbekannte haben den Freund einer Bekannten in einer Kneipe erschossen– vermutlich, weil er irgendwelche Crack-Schulden hatte, ein ehemaliger Nachbar ist an einem Heiligabend abgestochen worden, weil er einen Streit wegen eines rauchenden Feuers angezettelt hatte, ein gerade Volljähriger aus der Nachbarschaft hat einen anderen erschossen, weil beide um den Verkaufserlös eines Schweins stritten, das beiden gehört hatte – und so weiter.

Mich haben dabei mehrere Dinge schockiert: Wie jung Mörder und Opfer meist sind. Wie leicht die Täter offenbar eine Schußwaffe gelangen. Wie banal die Gründe für so einen Mord im Affekt sein können. Und: wie mir selbst solche Nachrichten immer banaler vorkommen, je mehr sie sich häufen. Warum so viel gemordet wird? Ich bin keine Soziologin. Aber Júlio Jacobo Waiselfisz, der Herausgeber einer Studie über die Gewalt im Land, ist einer. Und der sagt: Vierzig Prozent der in Pernambuco Befragten hätten angegeben zu wissen, wo sie sich einen Revolver beschaffen könnten. Und Probleme mit der Waffe zu regeln sei typisch pernambucanisch. Klingt banal, oder?

Eine ander Geschichte ist noch banaler. Beim Untersuchen der Mordberichte ist irgendwem aufgefallen, dass die Bluttaten sich auf bestimmte Faktoren konzentrieren: In immer denselben Vierteln sterben vor allem junge Männer vor allem zwischen 23 und 5 Uhr morgens in oder in der Nähe von Etablissements, die Alkohol ausschenken. Im November 2005 erließ die Regierung Pernambucos das Gesetz „Lei seca“ – eine Art selektive Prohibition: In den ermittelten gewaltreichen Vierteln durfte niemand zwischen 23 und 5 Uhr öffentlich alkoholische Getränke ausschenken. Die Folge: Im Vergleich zum Vorjahr gingen die Gewaltopfer in diesen Gegenden um 43 Prozent zurück.

Ein wunderbarer Erfolg. Eigentlich. Nur manche Alkoholausschenker waren hinterher nicht so glücklich über ihre Verdiensteinbußen. Manche Linke waren auch nicht glücklich und sprachen von „faschistoider Ausgangssperre“. Der nächste Bürgermeister- von der Arbeiterpartei PT - schaffte deswegen das umstrittene Gesetz mit der Begründung wieder ab, es seien davon ungerechterweise nur arme Viertel und damit die arme Bevölkerung betroffen. Das war Ende 2006. Im Januar 2007 sollen die Mordraten in mindestens einem der betroffenen Viertel sofort um 100 Prozent in die Höhe geschnellt sein.

Zwei junge Journalisten unterhalten seit über einem Jahr die Website www.pebodycount.com.br, auf der sie aktuell die Morde im Bundesstaat mitzählen, über Mord-Umstände berichten, Angehörige zu Wort kommen lassen und Handlungsbeispiele gegen die explodierende Gewalt zitieren - etwa aus Kolumbien. Dort hat es die Hauptstadt Bogotá in den letzten Jahren geschafft, von einer der gewalttätigsten Metropolen Südamerikas zur einer der friedlichsten zu werden. Unter anderem durch ein hartes „Lei-Seca“-Gesetz. Was mir dazu einfällt? Schnaps macht Leichen. Ganz banal.

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