Montag, 30. April 2007

Eine Million Kriminelle

Meine Freundin ist kriminell. Sie klaut nicht, betrügt nicht und hat noch nie jemanden umgebracht. Das brasilianische Recht sieht das anders. Denn meine Freundin hat abgetrieben. Weil ihr Freund gerade mal 20 Jahre alt und arbeitslos ist. Weil sie oft abends nur das pappige Sandwich zu essen hat, das es gratis in der Schule gibt. Weil ihre kunsthandwerkliche Schmuckproduktion selten genug für zwei hungrige Münder einbringt. Geschweige denn für drei.

Soziale Indikation gibt es in Brasilien nicht. Wer sich ein (weiteres) Kind nicht leisten kann, hat eben Pech gehabt. Und Kinder sind in Brasilien teuer. Jedenfalls, wenn sie eine Zukunft mit halbwegs ordentlicher Bildungsbasis haben sollen. Deswegen hat sich meine Freundin strafbar gemacht. Hat gespart und gespart und das Medikament Citotec gekauft, mit dem viele weniger finanzstarke Brasilianerinnen abtreiben. Das Medikament ist eigentlich für Nierenleiden gedacht, verursacht meist irgendwie aushaltbare Krämpfe, während es wirkt und beendet ziemlich zuverlässig Schwangerschaften, wenn sie erst ein paar Wochen alt sind. Und es ist illegal. Das macht es teurer, wie jede illegale Droge.

Am 17. April dieses Jahres ist in Bahia eine achtzehnjährige festgenommen worden, weil sie abgetrieben hat. Bekannte sollen sie angezeigt haben. In der gleichen Woche hat der neue Gesundheitsminister sich für eine Volksabstimmung zum Abtreibungsrecht ausgesprochen. Das letzte Mal war das Thema auf dem Tisch, als Frauenrechtlerinnen für eine Änderung eingetreten sind. Das war in den siebziger Jahren und blieb folgenlos. Der Vorstoß des neuen Gesundheitsministers hatte jetzt schon Folgen. In Fortaleza sind religiöse Massen dagegen auf die Strasse gegangen und haben lauthals protestiert. Nicht, weil sie gegen Abtreibung sind. Das sind sie natürlich auch. Aber auf die Strasse sind sie gegangen, weil sie schon gegen die Abstimmung sind.

Selten wird Brasilien so scheinheilig, wie wenn es um Abtreibung geht. Dem Gesetz nach ist sie nur zulässig, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist oder das Leben der Mutter bedroht. Nur dann. Im Extremfall heißt das: Eine Schwangere, deren Kind nach medizinischen Erkenntnissen nicht lebensfähig ist, das also aufgrund physischer Umstände die Geburt nicht überleben wird, ist nach brasilianischem Gesetz trotzdem gezwungen, dieses Kind auszutragen. Solche Fälle hat es tatsächlich gegeben.

Natürlich treiben Brasilianerinnen trotz des Gesetzes ab. Mehr als eine Million Frauen tun es jedes Jahr illegal. In diskreten Kliniken, wenn sie genug Geld haben. Mit Citotec, wenn sie weniger haben. Oder in irgendwelchen Hinterhöfen, wenn es für das Medikament schon zu spät ist. Das ist es oft. Die öffentliche Gesundheitsversorgung SUS, die für alle Menschen ohne Krankenversicherung zuständig ist, verzeichnet im Gynäkologiebereich an erster Stelle Geburten und an zweiter Ausschabungen – als Folge von Pfuscharbeit. 150.000 Frauen erleiden trotzdem jedes Jahr schwerwiegende und bleibende Folgeschäden von illegalen Abtreibungen oder sterben daran.

Meine Freundin hat Glück gehabt: Sie hatte nur Krämpfe. Sie hätte bis zu drei Jahren Gefängnis bekommen können, wenn sie jemand verraten hätte.

Der Senat hat den Antrag des Gesundheitsministers bereits angenommen. Also gibt es echte Chancen für eine Volks-Abstimmung über eine eventuelle Änderung des Abtreibungsrechts. Der erzkatholische Portugal hat in einer ähnlichen Abstimmung Anfang des Jahres die Abtreibung bis zur zehnten Schwangerschaftswoche legalisiert. Ob Brasilien das auch schafft? Erste Meinungsumfragen sagen: 65 Prozent der Befragten haben sich dafür ausgesprochen, das geltende Recht beizubehalten. Das hiesse: weiterhin jedes Jahr eine Million Kriminelle schaffen.

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