Montag, 2. April 2007

Der Mann mit dem Schubkarren will kein anderes Leben

Gestern hab ich ihn endlich angesehen, den Sitio. Seit Monaten hat mich der Mann mit dem Schubkarren immer wieder angesprochen: Dieser Sitio wäre genau das Richtige für mich und meine Pferde. Ein Sitio ist so etwas wie eine Mini-Farm, und davon gibt es hier jede Menge: auf einem mehr als Hundert Hektar großen Areal nicht weit vom Meer entfernt, das früher eine einzige Plantage gewesen ist. Irgendwann wurde das Land unter den Plantagenarbeitern aufgeteilt, und deren Nachfahren leben bis heute dort. So wie Virgulino, der Mann mit dem Schubkarren.

Jeden Tag schiebt er seinen Karren hier durchs Dorf, schützt seine hellen Augen mit einer Schirmmütze vor der Sonne und seine Waren mit einer Plane vor eventuellem Sturzregen. Lauthals kündigt er den Hausfrauen sein Nahen an: Maaa-ca-xeeeeeeeera! Macaxeira* hat er immer, dazu kommen je nach Saison Passionsfrüchte, Mais, Papaya, Bananen und Mangos. Die Tonfolge seines Rufs ist seit vielen Generationen immer die Gleiche, ebenso wie die aller anderen ambulanten Verkäufer: Man muß die Worte nicht verstehen, um zu wissen, ob gerade der Gemüsemann, der Scherenschleifer oder der Topfflicker des Wegs kommt. Weil diese dörflichen Ambulanten allmählich aussterben, hat angeblich kürzlich ein Anthropologen-Team vorsichtshalber ihre charakteristischen Rufe archiviert.

Um zu Virgulinos Haus zu gelangen, reite ich endlose Sandwege zwischen Zuckerrohr- und Maniokpflanzungen auf sanften Hügeln entlang bis zum ehemaligen Hauptgebäude der Plantage. Ein Herrenhaus gibt es nicht, aber einen Laden mit Gasflaschen, Reis, Bohnen und Zuckerrohrschnaps, eine kleine Kirche, das Gebäude der Einwohnervereinigung und eine Handvoll Arbeiterhäuser. Hier lese ich Adriano auf, einen barfüssigen Knirps, der gerne hinten auf dem Pferd mitreiten will, um mir den weiteren Weg zu zeigen. Bergauf vorbei an noch mehr Zuckerrohr und Macaxeira, dann durch ein Stück wild zugewucherten Wald, dann abbiegen in einen Trampelpfad bergab, so steil, daß wir absteigen. „Da wohnt Virgulino“, erklärt Adriano schließlich.
Virgulinos Haus ist klein, unverputzt und die Terrasse sauber gefegt. Daneben wachsen Bananenstauden und Kokospalmen, Mango-, Jackfrucht- und Cashewbäume. An der Seite lädt ein Baumstumpf zum Sitzen ein: Von hier aus hat Virgulino einen Blick über das ganze weite Tal bis zum gegenüberliegenden Hügelkamm, hinter dem bald die Sonne untergehen wird. Deswegen beeilen wir uns, den Sitio anzugucken, den der Nachbar verkaufen will. „Der ist viel schöner als meiner!“, betont Virgulino, dem der Nachbar sicher für erfolgreiche Vermittlung eine Provision versprochen hat.

Der Sitio ist wirklich schön. Wie ein Stück beackertes Paradies schmiegt er sich an den Hügel. Neben den üblichen Macaxeira, Mais und Kürbissen wachsen allerlei mir weniger bekannte Pflanzen und dazwischen sprießt fröhlich Gras und anderes Kraut - die Erde ist offensichtlich fruchtbar. Seu Zé ist drahtig, vielleicht ein Meter fünfzig groß, und kommt in brauner Anzughose aus Nylon, frisch gebügeltem Hemd und Plastiksandalen mit der Gitarre unterm Arm gerade aus dem Gottesdienst. Zu Fuß, versteht sich. Deswegen will er auch verkaufen. Die Enkel haben es satt, morgens mehr als eine Stunde zur Schule und mittags mehr als eine Stunde wieder zurück zu laufen. Und die Söhne wollen Jobs in der Stadt finden, anstatt den Hügel zu beackern.
Seu Zés Haus hat er selbst aus Lehm gebaut – immer noch ein Zimmer, wenn wieder Nachwuchs kam. Es duckt sich auf einer Terrasse am Hang geschickt in den Schatten jahrhundertealter Mango- und Jaboticababäume. Unten in der Senke fließt eine kleine Quelle. Daneben hat Seu Ze einen rohen Holztisch gezimmert, zum Wäschewaschen. Hinter einem Sichtschutz aus Palmwedeln duscht die Familie: aus einem Tonkrug, dreißig Meter vom Haus entfernt. „Für eine Wasserpumpe hat das Geld nicht gereicht“, erklärt Seu Zé verschämt. Dabei hat er sogar einen Stromanschluß. Und bezahlt nicht mal dafür, ganz legal. Er steht bei der Stromversorgung auf der Warteliste: Bald, bald sollen seine selbst geschlagenen Holzmasten durch offizielle ersetzt werden. Und dann wird auch ein Stromzähler installiert. Das haben die Leute von der Stromversorgung jedenfalls vor zwei Jahren gesagt.

„Das ist ideal für dich und deine Pferde“, wirbt Virgulino wieder. Und Zés Frau erklärt mit Blick auf ihr Blumenbeet hinterm Haus: „Wir gehen nur wegen der Kinder weg.“ Ich stelle mir Seu Zés Zukunft vor. Er wird auf ein Grundstück von zwölf mal zwanzig Meter umziehen, das ein Vetter ihm in einer bescheidenen Siedlung in der Nähe der Stadt Ipojuca geschenkt hat, hat er mir erklärt. Keine Ahnung, wovon er leben wird, wenn er nicht mehr pflanzen kann. Vielleicht von den potentiellen Gehältern der Söhne. Ich würde ihm gerne seinen Sitio abkaufen – schon allein, weil er seit Monaten keinen Kaufinteressenten findet. Aber könnte ich hier leben? Langsam versinkt die Sonne hinter der gegenüberliegenden Hügelkette und färbt den Abendhimmel kitschig rosa. Inzwischen hat es sich unter den Mücken rumgesprochen, daß ich frisches Blut mitgebracht habe. Frösche quaken im nahen Mangrovensumpf, Grillen zischen in der dröhnenden Stille. Wie es hier wohl sein mag, wenn um sieben Uhr abends die Sonne vollends untergegangen ist und alles schwarz wird?

„Ich mache alles selbst“, erzählt Virgulino, als wir auf dem Trampelpfad wieder zurück gehen, zu seinem Haus. „Morgens kümmere ich mich um die Pflanzen, dann gehe ich mit meinem Schubkarren ins Dorf verkaufen – es ist gar nicht so weit, man gewöhnt sich daran! Mag sein, daß ich nicht viel verdiene, aber ich würde nicht für 18 Reais am Tag** für andere arbeiten wollen – wochenlang auf den Lohn warten müssen und sich obendrein vom Chef anmeckern lassen.“ Inzwischen sind wir an seinem Baumstumpf mit Blick angekommen. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Das hier“ – dabei macht der Mann eine weit ausholende Geste, „das tausche ich gegen nichts anderes auf der Welt ein.“ Womöglich hat er Recht.

Ich brauche eine gute halbe Stunde bis nach Hause. Immer im Galopp und dem Vollmond entgegen.

* kartoffelähnliches Wurzelgemüse

** hier üblicher Mindest-Tagessatz für Landarbeiter, umgerechnet rund 6,5 Euro

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