Mittwoch, 28. März 2007

Magrette will ihr Leben ändern

Magrette will ihr Leben ändern. Gestern kam sie bei mir vorbei und erklärte, so gehe es nicht mehr weiter. Magrette ist eine der vielen Althippies hier, die aus Samen, Muscheln, bemalten Federn, Slberdraht und viel Fantasie Schmuck herstellen, die sie dann am Strand an portugiesische und andere Urlauber verkaufen. Der Schmuck von Magrette ist außergewöhnlich schön. Ausserdem singt Magrette in einer Band und näht Klamotten. Trotzdem reicht das Geld immer nur knapp zum Überleben – und das auch nur, weil Magrette keine Miete zahlt. Wie viele Hippies hat sie sich um Schule nie viel gekümmert, kann grade mal Lesen und Schreiben und hat ihr bißchen Allgemeinbildung aus dem Fernsehen. Genau das will sie ändern.

Seit einem Monat schon geht Magrette jeden Abend zum „Supletivo“. Das ist eine Art Abendschule, die interessierte Nachzügler in relativ kurzer Zeit zum dem Abitur vergleichbaren „Segundo grau“ führen soll. Ausserdem sollen sich verlorene Seelen durch den Supletivo an Konzentration, Regelmäßigkeit und gegenseitigen Respekt gewöhnen. Um solche potentiell verlorenen Seelen anzulocken, gibt es für jeden Abend Anwesenheit zwei Transportgutscheine und einen kleinen Snack umsonst. Es ist erschreckend, für wie viele – ansonsten nicht gerade bildungshungrige - Menschen hier ein paar trockene Kekse und ein Becher Saft tatsächlich Anreiz genug sind, jeden Abend in der Schule zu verbringen

Magrette ist trotzdem nicht so richtig glücklich mit ihrem Kurs. Klar, es hat sie auch interessiert, neue Leute zu treffen, wegzukommen aus dem Alltag. Aber sie wollte vor allem lernen, ihren Horizont erweitern, sagt sie. Ihr Supletivo sieht so aus: Mehrere Dutzend Menschen zwischen 25 und 65 versammeln sich in einem Klassenraum. Eine Aufsicht – kein Lehrer! – schaltet das Video mit der Unterrichtseinheit ein, und manche gucken zu, manche schwätzen, manche rutschen auf den Stühlen herum. Nach der Telekurs-Einheit versucht einer der Schüler, an der Tafel das soeben Gelernte zu erklären. Niemand beurteilt, ob er alles richtig verstanden hat. Manche gehen nie an die Tafel. Manche kommen immer zu spät, manche müssen früher weg, manchen ist der Unterricht ganz egal. Wer regelmäßig teilnimmt, Kekse mampft und Saft trinkt, wird am Jahresende trotzdem versetzt.

Manche Arbeitgeber verlangen von Kandidaten für freie Stellen den Segundo Grau. Also erhöht Magrette durch den Abendkurs ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Also geht sie brav weiter jeden Abend zur Schule. Ob sie dabei besser Lesen und Schreiben lernt, bleibt ihr weitgehend selbst überlassen. Das ist ziemlich typisch für das Dilemma des brasilianischen Bildungssystems. Die Regierung frohlockt über Zahlen, die besagen, daß fast 100 Prozent der Schulpflichtigen tatsächlich die Schule besuchen – und vergisst dabei, daß jeder dritte schon in der ersten Klasse sitzenbleibt, daß reichlich 15jährige nicht über die dritte Klasse hinauskommen, daß nach der Grundschule die meisten nicht in der Lage sind, einen einfachen Text zu lesen und zu verstehen – und daß oft nicht mal die Lehrer ihre eigene Sprache beherrschen.

Demnächst könnte sich das alles ändern. Acht Milliarden Reais will Präsident Lula locker machen, damit das Bildungswesen endlich aus seiner Lethargie erwacht und Brasilien nicht länger Schlußlicht bei PISA- und anderen internationalen Studien bleibt. Eine Menge Geld, aber nicht die Menge macht die Hoffnung. Diesmal gehen die staatlichen Finanzspritzen verstärkt an die Schulen und Institutionen, die mit Erfolg arbeiten. Deren Schüler nicht nur irgendwie schulintern durch kommen, sondern die auch externe Prüfungen bestehen. Künftig, so der Plan, sollen nur noch „Berufstätige mit adäquater Ausbildung“ in der Erwachsenenbildung tätig werden. Für Magrette wird das vermutlich zu spät kommen. Aber vielleicht können andere nach ihr wirklich im Supletivo ihr Leben ändern.

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