Freitag, 31. Oktober 2008

Vorsicht Suchtgefahr - Capoeira


„Capoeira kann süchtig machen.“ Sprach Mestre Nenel zu mir, Sohn des berühmten Mestre Bimba, der die Capoeira regional erfunden hat. Das war vor einigen Jahren während eines Telefoninterviews, vor dem ich nicht viel mehr wusste, als dass die Capoeira mit den Sklaven aus Angola gekommen sein soll und sich die Schwarzen damit fit hielten. Später habe ich die akrobatischen Spiele der durchtrainierten Capoeiristas von Salvador bewundert – und mich über die aggressive Art geärgert, mit der manche davon die Zuschauer um Geld angehen. Auf die Idee gekommen, es selbst auszuprobieren, bin ich erst viele Jahre später. Im vergangenen Sommer. In Berlin.

Meine Schwester wollte zu einem Probetraining gehen als ich gerade zu Besuch war. All die weißen Gestalten in den weiten Capoeira-Hosen sahen für mich zunächst ungewohnt aus – beinahe ein bisschen verkleidet. Dann ging es los. Ohne die eindringliche Musik aus dem einsaitigen Instrument Berimbau, der großen Trommel Atabaque und dem Pandeiro, dem Tamburin. Trocken sozusagen. Aber rasant. Schon die Grundbewegung, die Ginga, in der sich die brasilianischen Tänzer so scheinbar mühelos wiegen, ist ein Oberschenkeltraining gegen das sämtliche Callanetics, Pilates und wie sie alle heißen, einpacken können. Die Knie bleiben nämlich dabei gebeugt. Die ganze Zeit. Nach Minuten waren wir schweißüberströmt, kurz darauf keuchten wir, während die anderen mit komplizierteren Bewegungsabläufen, Tritten, Sprüngen und Drehungen anfingen. Alle ordentlich mit den portugiesischen Namen bezeichnet: esquiva lateral, für das seitliche Wegducken, martelo für den seitlich aus der Hüfte vorschnellenden Tritt, meia-lua für die Drehung des Beins und so fort. Das wirkte aus den deutschen Mündern dann wieder seltsam, und natürlich konnte ich mir nichts merken und fast nichts nachahmen.

Nach den eineinhalb Stunden Training hatte ich mehrere Liter Flüssigkeit verloren und Blut geleckt. Am nächsten Tag taten mir Muskeln weh, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte – abgesehen von allen anderen am gesamten Körper. Ich konnte mich kaum bewegen. Aber mein Entschluss stand fest: Ich wollte weiter machen. Der Capoeira-Lehrer im Nachbardorf war mir als durchaus gelassener, ein wenig langsamer Mensch bekannt – bei dem würde das Training sicher nicht so hart ausfallen.

Die Gruppe hier übt in einem Mehrzweckraum der Anwohnervereinigung, dessen Zementboden gefährliche Löcher aufweist, in denen sich schon manch einer den Zehennagel abgerissen hat. Keine Klimaanlage, nicht einmal ein Ventilator. In einer Ecke steht eine 20-Liter-Flasche lauwarmes Wasser. Die Musik kommt während des Trainings aus einem Transistorradio, erst wenn es ans Spielen in der Runde geht, bedient der Chef das Berimbau. Beim ersten Mal konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten, als es nach Stunden soweit war für die Runde, die roda, in der zwei Spieler aufeinander treffen. Keine Gnade, ich musste auch rein – obwohl ich noch nicht mal die Ginga richtig verstanden hatte. Von wegen langsam. Hochkonzentriert und flüssig zieht der Mann hier ein dreistündiges Training durch, das für Spitzensportler angelegt sein muss. Das Aufwärmen allein kostet mehr Schweiß als der Normalmensch pro Tag zur Verfügung hat. Hinterher dauerte es dreimal so lange wie sonst, den Hügel bis zu meinem Haus herab zu steigen.

Das ist drei Monate her. Wenn ich nicht gerade auf Reisen bin, gehe ich seitdem zu allen Abend-Trainings. Selbst eine Hornhautentzündung konnte mich kürzlich nicht abhalten. Der Hügel macht mir inzwischen weder bergauf noch bergab etwas aus. Der Rückweg im sanften Mondlicht ist regelmäßig einer der größten Glücksmomente des Tages. Manche Refrains kann ich schon mitsingen. Und so ganz allmählich bekomme ich auch eine Ahnung davon, was damals Mestre Nenel gemeint hat, als er von der Philosophie der Capoeira sprach. Mit den Muskeln scheint auch die Gelassenheit zu wachsen. Ich habe selten irgendwo so eine absolut konkurrenzfreie Stimmung erlebt, wie beim Training: Jeder freut sich über die Fortschritte der Anderen, egal auf welchem Niveau. Geduldig zeigt uns der Lehrer auch zum hundersten Mal die gleiche Bewegung. Und Konflikte werden lachend gelöst.

Letztens kam zur Runde, schon abends gegen 22 Uhr unerwarteter Besuch. Erst wehte eine Schnapsfahne in den Raum, dann kam ein Mann hinterher. Er wollte mit spielen. Trat energisch in die Roda und drängte einen der beiden Spieler mit eher groben Fußtritten hinaus. Zurück blieb einer unserer besten Capoeiristas. Der jagte den Fremden in einem Irrsinnstempo durch die Runde, schleuderte ihm die Beine rechts und links über die Schulter, ließ ihm Tritte millimetergenau vor dem Gesicht stoppen, und machte sich nach Strich und Faden dabei über den Eindringling lustig. Bis alle sich vor Lachen hielten. Und der Schnaps-Mann sich betreten zurückzog.

Grandiose Philosophie. Mir fehlen allerdings bis zu ihrer Umsetzung in der Runde noch ein paar Jährchen. Ich glaube ab jetzt mache ich das Morgentraining am Samstag auch noch mit.

foto: wollowski (wie immer, wenn nicht anders angegeben)

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ja ja ich kenne das mit dem Muskelkater nur zu gut. Der Bruder meines Freundes, Rizadinha, ist Professor für Capoeira und hat vor zwei Wochen mit dem Unterricht begonnen. Ich habe natürlich auch angefangen, weil ich in meinem Büroakrobaten-Job nicht all zu viel Bewegung habe und ich dies als super Ausgleich für die bewegungslose Tätigkeit im Büro gefunden.
Drei Tage nach dem ersten Training lief ich dann immer noch wie Popeye durch die Gegend, aber ich habe es geliebt meinen Körper so zu spüren und trainiere nun 4 Mal pro Woche mit meinen brasilianischen cunhado und kann nur bestätigen Capoeira macht süchtig!
Hier ein Link zu Rizadinha in seiner Roda in Recifie:
http://de.youtube.com/watch?v=S8UMe6gC4H8

 
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