Sonntag, 5. Oktober 2008

Prost auf die Demokratie

Heute ist hier im Ort schon seit morgens Party. Die ganze Hauptstraße entlang sitzen die Menschen auf den Bürgersteigen und trinken und lachen und diskutieren. Heute sind Kommunalwahlen, und eigentlich ist es hier im Bundesstaat den ganzen Tag verboten, alkoholische Getränke zu verkaufen. Vielleicht haben sich die fröhlichen Feierer schon vorher mit Bier und Schnaps eingedeckt und jetzt Kühltaschen mitgebracht?

Vielleicht ist das Trinken aber auch ihre Art, sich über die gezwungene Ausübung der Demokratie lustig zu machen, nach dem Motto: Wenn ich schon wählen muss, wähle ich eben betrunken. In Brasilien müssen alle Menschen zwischen 18 und 70 Jahren wählen gehen. Das ist seit 1932 so, und dementsprechend haben wir hier Wahlbeteiligungen von 85 Prozent – die laut Untersuchungen auf 55 Prozent absinken würde, wäre das Wahlrecht freiwillig auszuüben. Wer weder wählt, noch sein Nicht-Wählen ordentlich entschuldigt, darf sich nicht auf öffentlich ausgeschriebene Stellen bewerben, keinen Personalausweis oder Reisepass beantragen – oder muss eine Strafe von bis zu 45 Reais zahlen. Das sind umgerechnet weniger als 20 Euro, aber so weit hat vermutlich niemand das Gesetz gelesen. (Lei 4737/65. art 7º).

Wer nicht lesen kann, muss übrigens nicht wählen: Analphabeten sind von der Wahlpflicht ausgenommen. Warum? Ist mir unbekannt. Theoretisch sind sie auch nicht wählbar, so steht es jedenfalls in der Verfassung. Die Christliche Soziale Partei (PCS) findet, dadurch würden die 16 offiziell registrierten Millionen Analphabeten des Landes benachteiligt. Vielleicht wird also demnächst diese Bestimmung der Verfassung als nicht verfassungskonform erklärt. Die Analphabeten unter den Kandidaten müssten sich natürlich auch nicht so blauäugig outen, wie das in diesem Jahr zwei Bürgermeisterkandidaten, 15 Kandidaten für Vizebürgermeister und 294 Gemeinderatskandidaten getan haben, die offen zugeben, weder lesen noch schreiben zu können. Weitere 76.000 Kandidaten haben keinen mittleren Schulabschluss – darunter sind sicher auch noch ein paar funktionale Analphabeten versteckt.

Der Spitzenkandidat hier in Recife kann sicher lesen und schreiben – immerhin wäre seine Kandidatur beinahe daran geplatzt, dass seine Mitarbeiter im Erziehungssektor der Stadt per Mailkampagne für ihren Chef als künftigen Bürgermeister geworben haben. Ein öffentliches Amt und die damit verbundenen Privilegien für den Wahlkampf zu nutzen, ist gesetzeswidrig. Joao behauptet frech, alle seine Mitarbeiter haben freiwillig und spontan ihre positive Meinung über den Chef verbreitet, er habe da keinen Einfluss drauf gehabt. Resultat: Joao bleibt wählbar, und es sieht ganz so aus, als werde er der neue Bürgermeister. Mit noch mehr Mitarbeitern, auf die er keinen Einfluss haben wird. Dann doch lieber einen Analphabeten? Oder nicht wählen und Strafe zahlen? Oder gleich einen trinken gehen?

Inzwischen ist es übrigens draußen noch ein bisschen lauter geworden: Seit 18 Uhr ist der Alkoholverkauf wieder erlaubt und es kann Nachschub besorgt werden. Prost auf die Demokratie!

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