Montag, 7. April 2008

Inszenierung am Straßenrand

Zuerst habe ich sie gar nicht bemerkt. Was am Rand eines Weges passiert, den man ständig fährt, sieht man ja irgendwann nicht mehr. Die Erinnerung produziert ein immer gleiches Bild auf die Netzhaut, weil das Gehirn anderweitig beschäftigt ist. Mit Musik aus dem Kopfhörer, Gedanken, Träumen. Also habe ich auf dem Weg nach Recife lange nur Zuckerrohr-Pflanzungen gesehen. Wie immer. Endlose grüne Hügel voller Zuckerrohr, eine gnadenlos den Boden aussaugende Monokultur. Aber hübsch anzusehen. Und sicher nicht unproduktiv.

Irgendwann sind sie mir dann aufgefallen. Dicht aneinander gedrängte Holzgerüste in einer langen Reihe, direkt am Straßenrand. So nah an der Bundesstraße bauen normalerweise Verkäufer ihre Buden auf, die den Vorbeisausenden allerlei Früchte, selbst geröstete Nüsse, Pflanzen oder Tontöpfe anbieten. Dazu bedecken sie ein Holzgerüst mit einer schattenspendenden Plane, breiten ihre Ware auf einem improvisierten Tisch darunter aus, und treten mit einer Probe in der Hand ganz nah an den Asphalt. Über diesen Holzgerüsten hingen keine Planen, und es waren auch keine Menschen zu sehen. Seltsam, aber nicht seltsam genug, um länger darüber nachzudenken.

Bis sie mir wieder auffielen. Die Holzskelette hatten sich zu einem ganzen Gerüstdorf vermehrt, und manche von ihnen waren inzwischen mit schwarzer Plastikplane bedeckt. Andere hatten Plastikplanen-„Wände“ bekommen, und einige waren mit Brettern und Preßspanplatten verrammelt. Langsam wurde mir klar, dass hier keine potentiellen Fruchtverkäufer am Werk waren, sondern dass dies eine sogenannte Land-Besetzung der MST werden sollte, der Bewegung der Landlosen, die hier im Nordosten besonders aktiv und aggressiv agiert. Noch sah das Ganze allerdings eher aus wie ein halbfertiges Bühnenbild für eine Freilichtaufführung im nächsten Sommer

Dabei blieb es auch.

Lange.

Erstaunlicherweise schien sich niemand an den unschönen Bauwerken am Straßenrand zu stören: Der Rand von Bundesstraßen fällt unter den Hoheitsbereich des Verkehrsamts und darf natürlich nicht bebaut werden. Vielleicht zählen planenbedeckte Holzgerüste nicht als Bauten, vor allem, wenn sie so offensichtlich unbewohnt sind

Irgendwann waren sie plötzlich nicht mehr unbewohnt. Rauchfahnen von Herdfeuern stiegen aus mehreren Hütten auf, Menschen lehnten aus Plastikplanen-Fenstern, andere standen in Grüppchen beieinander und schwätzten. Vielleicht zwei Dutzend Personen waren in das Bühnenbild eingezogen.

Wenn Vertreter des MST Land besetzen, ergeht normalerweise auf Antrag der Grundbesitzer eine einstweilige Verfügung, in der den Besetzern eine Frist gesetzt wird, binnen derer sie das fremde Land zu räumen haben. Gleichzeitig beginnt die Untersuchung, ob es sich um unproduktive Ländereien und um Landlose mit Anspruch auf eigenen Grund und Boden handelt.

Kritiker halten die Fristenlösung für falsch, weil die Landbesetzer meist gar nicht die besetzten Ländereien in Besitz nehmen wollten, sondern die Aufmerksamkeit der Medien erreichen und damit Druck auf die Regierung ausüben. Und die Frist zur Räumung lasse ihnen exakt die Zeit, diese eigentlichen Ziele zu erreichen.

Ich fand es spannend, politische Aktualität mal live aus dem Busfenster beobachten zu können. Wie würde es weiter gehen? Boden beackern wollten die Leute hier sicherlich nicht – der war ja schon beackert. Ging es also um Presse?

Als ich das nächste Mal an der Hüttensiedlung am Rande der Zuckerrohr-Pflanzungen vorbei fuhr, war keine Presse zu sehen. Auch keine Bewohner oder Rauchfahnen. Der Wind zerrte an den Planen, Regen hatte den Boden aufgeweicht, und manche Gerüste hatten sich zur Seite geneigt. Als sei die Aufführung schon vorbei und nur das Bühnenbild übrig geblieben. Ein Pressetermin war die Inszenierung wohl nicht – ich habe in den Medien jedenfalls nichts dazu gefunden.

Seitdem habe ich nie wieder Menschen dort entdeckt. War wohl nichts mit dem Live-Erlebnis. Nur eins hat sich geändert: Ich gucke jetzt jedes Mal ganz genau hin, ob sich am Rand der Zuckerrohr-Pflanzungen etwas tut.

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