Mittwoch, 29. November 2006

Das Glück der Rush Hour

Wer in Recife abends um sechs in einen der Busse in die Vororte steigt, hat Glück. Glück, weil er es geschafft hat, sich in eine der fahrenden Sardinenbüchsen hineinzuquetschen. Glück, weil er damit zumindest schon mal auf dem Weg ist. Und Glück, weil die Rush Hour hier nicht ganz dasselbe ist wie in Deutschland.

An der Bushaltestelle an der Kaimauer des Cais Santa Rita riecht es um diese Uhrzeit nicht nur nach dem Wasser und Fisch des Capibaribe-Flusses, sondern vor allem nach akuter Smoggefahr und starken Parfums. In ordentlichen Schlangen wartet die arbeitende Bevölkerung neben dem alltäglichen Verkehrskollaps frisch gekämmt und parfümiert auf ihre Chance, nach Hause zu kommen. Um die Schlangen schwirren die Strassenhändler. Sie verkaufen Bonbons und Cola, Orangen und Kaugummis, Eis und Kekse und Bustickets für ein paar Cents weniger als beim Kontrolleur: Wer um diese Uhrzeit hier steht, muß mit jedem Cent rechnen. Die Busse fahren in mehr oder weniger weit entfernte Vorortviertel mit Namen wie: „Zwei Hammel“, oder „Halsstarriges Brasilia“. Viele davon sind nicht durch ordentliche Stadtplanung mit ebenso ordentlicher Namensgebung sondern durch illegale Besiedlung entstanden – irgendwann haben sich die Spitznamen einfach eingebürgert.

Namenlesen ist ein netter Zeitvertreib beim Warten auf den Bus. Keinesfalls darf man sich aber dadurch ablenken lassen, denn wenn in für auch nur schwach Kurzsichtige noch unlesbarer Entfernung der richtige Bus auftaucht, gerät Bewegung in die Schlangen: Manche ordnen nur brav ihre Plastiktüten, andere machen sich bereit zum Sprint. Eigentlich finde ich Vordrängen unfair. Aber ich warte hier schon 40 Minuten, bin seit drei Stunden unterwegs, habe mindestens noch zwei vor mir, und es wird langsam dunkel. Deswegen renne ich mit zwei graumelierten Herren los, auf die mehrspurige Strasse in Richtung Bus. Zum Glück hat der Fahrer Mitleid und läßt uns nicht mitten im Verkehr stehen, sondern öffnet die Tür zum Einsteigen.

Weiter als bis auf die erste Stufe komme ich nicht: Hätte ich an der Haltestelle gewartet, wäre ich stehen geblieben. Zwölf Personen zähle ich im Bereich der Fahrerkabine, wie viele danach kommen, ist nur am Stimmengewirr, der Hitze verschwitzter Körper und dem Duftgemisch der Deodorants, Haargels und Parfums zu erahnen. Die Tür schließt sich hinter mir, aber der Bus fährt nicht los - heillose Verstopfung auf der Strasse. „Heute wird die neue Beleuchtung im Abgeordetenhaus eingeweiht– da sind mehrere Strassen gesperrt“, erklärt einer. „Immer diese Politiker“, murrt ein anderer, „können die ihre Beleuchtung nicht tagsüber einweihen!“ „Ist es schon Mitternacht?“, fragt der nächste, dessen Stimme so klingt, als habe er nach Feierabend in rascher Folge ein paar Schnäpse gezwitschert. Inzwischen haben sich alle irgendwie eingerichtet, durch die Frontscheibe haben wir Kabinengäste freien Blick auf die verstopfte Strasse und den dramatischen Abendhimmel, und die meisten sehen ziemlich zufrieden aus.

„Und Lula?“, fragt die fröhliche Schnapsdrossel gerade. „Lass den Mann seinen Job machen“, antwortet sein Nachbar –der diesen Spruch aus Lulas Wahlwerbung wohl öfter gehört hat, als seinem Hirn gut tut. Da kommt eine Haltestelle in Sicht. „Nein“, brüllen wir auf, einig wie eine Horde Fußballfans, wenn das gegnerische Team ein Tor zu schießen droht: „Bitte nicht anhalten!“ Vielleicht fürchtet der Fahrer eine Meuterei, vielleicht findet er auch, daß wirklich keiner mehr reinpaßt – jedenfalls fährt er durch. Wir johlen glücklich und ich verdränge nahezu mühelos den Gedanken an die Wartenden da draussen, die jetzt womöglich noch 40 Minuten später nach Hause kommen. „Und Lula?“, fragt die Schnapsdrossel wieder. Langsam werden wir zu einer großen Familie, die auch kauzige Verwandte großzügig akzeptiert. „Lass den Mann seinen Job machen“, antworten jetzt schon mehrere im Chor. „Wie viele Touren mußt du heute noch fahren“, fragt einer mitleidig den Chauffeur, der tapfer jede Chance wahrnimmt, uns ein paar Meter voran zu kämpfen. „Noch drei“, sagt der, und das klingt, als sei er der Familienvater und nehme jede einzelne Tour als persönliche Herausforderung.

„Hey, mir hat jemand an den Hintern gegrapscht!“, quietscht eine Matrone zwischen Entzücken und Entsetzen. „Bin ich der Dame zu nahe getreten?“, fragt, na wer wohl? – genau, es ist die Schnapsdrossel. „Sagen Sie Madame, habe ich Ihnen etwas getan?“. Diskretes Kichern zieht durch die Traube der Kabinenfamilie. Madame schweigt und die Schnapsdrossel fragt triumphierend: „Und Lula?!“. Und „Ist es schon Mitternacht?“ „Mit Gottesfurcht und Vertrauen kommen wir heute noch an!“, beruhigt ihn ein anderer. Irgendwann klebt ein magerer Kerl an mir, kurz darauf steigt eine duftende Studentin mit großzügigem Dekolleté zu, und der Magere schmiegt sich in die andere Richtung. Danach folgt eine glückliche Phase, in der ein Zwei-Meter-Mann nach dem Zusteigen einfach mit dem Rücken zur Tür stehen bleibt und in der mehrere Haltestellen lang niemand unsere Fahrerkabine entern kann.

Es ist schon schwarze Nacht, als die ersten unserer Heimfahrerfamilie aussteigen. Ein frischer Luftzug weht vom offenen Fenster herüber, ein Sitzplatz wird frei und noch einer und noch einer. Ich sitze. Neben mir eine Schwangere mit einem Neun-Monats-Bauch, dahinter drängt eine mit Plastiktüten beladene Blondine. Eine nach der anderen reicht sie uns ihre Tüten. Das ist hier so üblich. Die Schwangere teilt ohne zu murren die Last gerecht auf, bis wir beide darunter fast verschwinden. Dann stapelt sie plötzlich auch ihren Tütenanteil auf mir. Hä? Was ist jetzt los? Ok, ich verstehe: Mit einem glücklichen Lächeln lädt sich die Schwangere jetzt die beiden Söhne der Blondine auf den Schoß und bettet ihre blonden Köpfe auf ihren Neun-Monats-Bauch. So ist das hier in der Rush Hour.

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