Samstag, 25. November 2006

Privatsphäre, was ist das?

Hier hat jeder Anteil am Leben der Anderen. Das fängt damit an, daß ich morgens um fünf Uhr wach werde, wenn die ersten Vögel anfangen zu singen. Nicht die Vögel wecken mich, sondern meine Vermieterin, die um diese Uhrzeit gerne ihr Geschirr wäscht. Da ihr Waschbecken nur durch eine magere Mauer von meinem Schlafzimmer getrennt ist, wäscht sie ihr Geschirr sozusagen neben meinem Bett. Wenig später hat der neue Hund meines Nachbarn seinen Einsatz: Der Nachbar arbeitet den ganzen Tag in seiner Bar, und der Hund bleibt derweil angebunden in seinem Hinterhof. So viel Privatsphäre findet der Hund gar nicht gut, also weint er. Oft stundenlang. Das scheint niemanden zu stören, ich bin durchaus nicht die einzige, die in Hörweite wohnt. Also versuche ich, das Leben in dieser Reihenhaussiedlung am Meer als meditative Übung ansehen und die Geräusche einfach nur wahrzunehmen, ohne zu werten. Am besten gelingt mir das mit den Schiffssirenen, die gelegentlich übers Meer herüber tröten. Die Samstagsnächte, wenn der Wind den Gesang der völlig verstimmten Pagode-Band vom Dorfplatz an mein Bett weht, überlebe ich nur mir Ohrstöpseln.



Auch die Pagode-Band scheint außer mir niemanden zu stören. „Was?“, fragen die Leute hingegen, und dabei klingt ein entsetzter Unterton mit: „du wohnst allein? Ist das nicht schrecklich einsam?“ Allein ist relativ. Die Nachbarn leben maximal zehn Meter entfernt. Ich höre ihre Hunde, ihr Geschirr, das Klackern der Dominosteine auf ihren Tischen und ihren Ehekrach. Sie hören jede Musik die ich höre, jedes Telefonat, das ich führe, jedes Fernsehprogramm, das ich einschalte, kurz: jedes Lebensgeräusch von mir. Und weil das noch nicht reicht, rief es vor ein paar Tagen plötzlich „Cristina!“ von der Strasse. Meine Nachbarin beugte sich so weit über mein Gartentor, daß es fast aus den Angeln brach, und reichte mir eine Schüssel mit Reis: „Magst du mal probieren?“, fragte sie freundlich. Bis dahin hatte sich unser Verhältnis auf verhalten neugierige Blicke ihrerseits und freundliches aber einsilbiges Grüßen meinerseits beschränkt. Doch an diesem Tag gab es auf meiner Terrasse einen Mann zu sehen. Womöglich hielt der gerade Einzug in mein armes einsames Leben. Vermutlich war die Nachbarin besorgt, ob ich die richtige Wahl getroffen hatte.



Besorgt sind die Leute häufig. Als ich letztens ein paar neue Pflanzen setzte, hielt gleich der erste Passant an und beäugte mißtrauisch meine Tätigkeit. „Die pflanzt du besser da drüben hin“, erklärte er mir schließlich, „Rosen lieben Halbschatten.“ Derweil hatte sich ein zweiter Passant dazugesellt, der dem ersten Recht gab. Die dritte Passantin fragte, ob ich vielleicht Ableger von ihrem Hibiskus haben wolle. Und die vierte bot Orchideen an. Kaum ein paar Wochen später hatte sich die Pflanzenvielfalt in meinem Garten verdoppelt – alles Spenden freundlicher Passanten. Ein anderes Mal brüllte es draußen solange: „Cristina!“, bis ich mich trotz fieser Grippe ans Gartentor schleppte. Der Brüller war der kleine Nachbarssohn, der sich sorgte, weil er mich an dem Tag noch gar nicht gesehen hatte. Er brachte vorsichtshalber einen Teller Suppe mit und fragte, ob er für mich einkaufen solle. Seitdem versorgt er mich, wenn ich krank bin und meine Hunde, wenn ich verreise. Als Gegenleistung habe ich versucht, ihm zu erklären, warum die Menschen in meinem Land so gerne allein leben.



Wir Deutschen lieben unsere Privatsphäre. Wir reisen in der Bahn am liebsten auf einem Fensterplatz im Großraumabteil, würden uns im Restaurant nicht zu Fremden an den Tisch setzen, kennen im Mietshaus selten unsere Nachbarn und halten am Bankschalter ordentlich Abstand – aus Diskretion. Vornehm zurückhaltend kann man das finden. Oder ziemlich verschroben. Alles Ansichtssache.



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