Montag, 17. November 2008

Mama, Sie können mich mal

Letztens bin ich beim Capoeira-Training richtig erschrocken. Hatte der Typ da drüben wirklich mich gemeint? „Ele chamou a senhora para a roda!“, hatte er gesagt; der Lehrer habe mich zum Spielen in die Runde gebeten. Er hatte tatsächlich zu mir gesagt: „a senhora“. Dabei denke ich immer an „die (werte) Dame“, und so alt fühle ich mich nicht mal nach dem Training. Deutscher Denkfehler: weil „a senhora“ eigentlich nur so viel heißt, wie das höflich-respektvolle deutsche „Sie“. Oder?

So richtig sicher bin ich mir über die Bedeutung dieser brasilianischen „Sie“-Formel auch nach mehr als acht Jahren nicht. In meinem ersten Lehrbuch Portugiesisch war „o senhor“ der Polizist und basta. Also habe ich diese Form zunächst aus Faulheit gar nicht gelernt – man kann ja auch andere Berufsgruppen nach dem Weg fragen. Die ersten Jahre kam ich mit meinen dem deutschen „Du“ entsprechenden Varianten „tu“ und „voce“ prima durch, selbst bei Interviews guckte niemand komisch.

Als ich schließlich zur Überzeugung gelangt war, die Brasilianer seien eben das coolere Volk, und bei gelegentlichen Deutschland-Besuchen schon mal versehentlich die Supermarkt-Kassiererin duzte, kam der hinterhältige Rückschlag: Meine beste brasilianische Freundin siezte ihre Mutter. Nicht ständig. Nicht einmal nach einem durchschaubaren Muster, etwa in ernten Situationen. Nein, sie nannte ihre Erzeugerin – im übrigen zweifellos eine Respektperson! – anscheinend nach dem Zufallsprinzip mal „tu“, mal „voce“, mal „ a senhora“. Manchmal auch alles in einem einzigen Satz.

Thomas Strobel hat 2007 über die Höflichkeitsformen im Italienischen und Portugiesischen eine Diplomarbeit geschrieben. Dort heißt es: „Voce wird unter annähernd gesellschaftlich und altersmäßig Gleichgestellten verwendet. Gegenüber höhergestellten sowie älteren Personen ist diese Anrede ausgeschlossen.“ Im bis heute durch koloniale Strukturen geprägten Brasilien bedeutet das: Die jüngere Chefin wird ihren Chauffeur/ihr Hausmädchen/andere Dienstboten immer duzen – auch wenn diese noch so alt sein mögen. „A senhora/o senhor“ wird laut Strobel verwendet, wenn „eine deutliche Distanz zwischen den Gesprächspartnern liegt und der Sprecher ein gewisses Maß an Höflichkeit bzw. Achtung ausdrücken will.“

Liegt also zwischen meiner Freundin und ihrer Mutter eine deutliche Distanz? Und warum muss ich ihrer Mutter - deutlich älter als ich – nicht die gleiche Achtung erweisen wie sie?

Längst benutze natürlich auch ich sämtliche Höflichkeitsformen - nach meiner privaten und womöglich empörend falschen Höflichkeitshierarchie: „Tu“ verwende ich äußerst selten bei guten Freunden, denn es ist hier im Nordosten eher unüblich. „Voce“ geht für fast alle. Außer Polizisten, Interviewpartner, Methusalems, Beamte der Visabehörde – und meine beste Freundin, wenn sie mich ärgert. Dann nenne ich sie „a senhora“ – um die momentane deutliche Distanz zwischen uns zu betonen.

Nachdem ich erschöpft aus der Roda komme, frage ich den Mann, der zwar jünger ist als ich, aber der eindeutig bessere Capoeirista und damit zum einen deutlich distanziert und zum anderen fast eine Respektperson, wie er das gemeint hat, mit dem „a senhora“. „Ach“, sagt er, „ich arbeite in einem Hotel. Und mein Chef dort findet, ich könne die Gäste nicht einfach alle duzen, das kommt nicht gut an. Also habe ich mir angewöhnt, grundsätzlich alle Leute zu siezen - außer meinen engen Freunden.“ Ich bin also in bester Gesellschaft - offensichtlich wissen auch die Brasilianer nicht immer so genau, was sich bei ihnen sprachlich gehört.

Sogar meinem Nachbarssohn, ständig unter der Knute seiner strengen Adoptivmutter, die ihm gerne auch mal einen mit dem Gürtel überzieht, ist letztens ein Ausrutscher passiert. „Wissen Sie was, Mama“, hat er gebrüllt, „Sie können mich mal!“.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

In Sachen Anrede geht es in Brasilien weitaus lockerer zu, als ich mir das jemals ausgemalt hätte.

Im Süden (Santa Catarina) wird ab und an das "Tu" verwendet.

Selbst Chefs größerer Firmen werden, wenn sie durch ihren Betrieb gehen, von allen Angestellten mit Vornamen angesprochen. Wenngleich ein "seu" (für senhor) vorangesetzt wird.

Anderst in Deutschland, dort setzen ungeschriebene Gesetze Grenzen. Etwa, wenn ein hoher Angestellter durch eine Firma läuft, so erwartet dieser nicht einmal, von einem in der Firmen-hierachie niedrig angesiedelten
Arbeiter angesprochen zu werden.

Und jugendliche Enkelkinder sprechen ihre Großmutter ab und an mit "a senhora" an, wenn es gilt, ihr Respekt zu erweisen. Beispielsweise, wenn andere, nicht so nahestehende Personen zugegegen sind.

Auf dem Lande werden auch Amtspersonen recht leger angesprochen. Als wir einmal nach dem Weg fragen mussten, taten dies unsere Brasilianer. Sie riefen zu einem in einem Dorf stehenden Polizisten "Oi, moço! Onde fica..."
In Deutschland vollkommen unüblich, und allenfalls passabel, wenn der Polizist auch ein persönlicher Bekannter wäre. Und selbst dann würde man sagen, das wäre unpassend gewesen.

Damit nicht genug. Einmal bei einem Bekannten zu Gast, dessen Tochter von der Schule erzählte. Auch an Schule sprechen sich Eltern, Kinder, und Lehrer gegenseitig mit Vornamen an. In Deutschland gibt es derartiges kaum, vielleicht in einigen alternativen Formen, wie Waldorfschulen?

Sogar Namenslisten sind in Brasilien oftmals anhand der Vornamen sortiert!

Sehr eindrucksvoll. Etwas, woran man sich aber schnell gewöhnen kann. Man ist persönlicher mit dem Gegenüber. Und obwohl man persönlicher ist, heißt das nicht, keinen Respekt voreinander zu haben.

Freilich bleiben trotz unkompliziertem Umgangs miteinander auch Auseinandersetzungen nicht aus. Aber es herrscht prinzipiell schon eine ganz andere, ja bessere, Atmosphäre. Und das hat was!

Wieder mit ein kleiner Pluspunkt, welcher Brasilien sympathisch macht. Die erneute Umstellung auf "deutsche Manieren" mag da beträchtlich schwerer fallen. Und wirft die Frage auf, wie sich wohl ein Brasilaner fühlen mag, wenn der dabei ist, Deutschland kennen- und verstehen zu lernen.

 
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