Donnerstag, 13. November 2008

Eine Alliierte gegen den brüllenden Pastor


Jeder dritte Brasilianer hat ein Hörproblem. Und jeder dritte dieser Fehlhörigen hat sein Problem, weil er zu viel Lärm ausgesetzt war. Wundert mich nicht. Die Mehrheit der Brasilianer kennt das Wort Lärmbelästigung nicht einmal. Oder wie lässt es sich sonst erklären, dass Werbung hier vor allem mit Sound-Systems in Volkes Ohren gedröhnt wird? So ein brasilianisches Sound-System kann ein Lkw, ein Pick-Up, ein Pkw, ein Moped oder auch nur ein Fahrrad mit aufmontierten Lautsprechern sein – manche durchaus hübsch anzusehen, aber alle durchdringend.

Angesichts dieses Brauchs scheint es nur logisch, dass auch die Pastoren sich elektronischer Verstärkung bedienen, wenn sie das Wort Gottes predigen. Und das tun sie. Alle. Aus dem nächstgelegenen Gotteshaus schallen mehrmals wöchentlich wütende Tiraden in mein ansonsten eher ruhig gelegenes Heim. Das Schimpfen scheint den Gläubigen zu gefallen, denn je weiter die Veranstaltung fort geschritten, desto mehr lassen sich zu inbrünstigem Stöhnen hinreißen, das gelegentlich nahezu orgiastisch klingt. Ein anderes Gläubigengrüppchen versammelt sich jeden Freitagabend auf dem Bürgersteig vor dem Papierwarenladen. Natürlich mit einer Art Megafon und Verstärker. Dort singen sie dann unter Nichtachtung sämtlicher musikalischer Grundregeln ihre Lieder und brüllen ihre Predigten. Hier im Dorf begrüßen sich die Leute mit „Sei im Frieden des Herrn“ und stimmen einander zu, indem sie „Amen“ sagen. Kurz: Die Sektenmitglieder sind in der Überzahl.

Das scheint ihnen nicht zu reichen. Am vergangenen Wochenende starteten sie eine Großattacke auf die letzten nicht-missionierten Schäfchen. Donnerstag kurvte ganztägig ein Sound-System durch die Handvoll Straßen und kündete von dem kommenden „Event des Glaubens“. Um 19 Uhr war es dann soweit. Für alle, die sich dafür interessierten und für alle anderen auch. Der Pastor hatte das Fußballfeld gemietet, eine Großleinwand aufgestellt und das Sound-System war auch im Einsatz. Jetzt beschallte es das gesamte Dorf in einer Lautstärke, die in jeder normalen Disco übertrieben wirken würde. Als bekehrte Mitglieder der Sekten-Gemeinde in klagendem Ton von ihrer Umkehr und der Rettung aus dem Sünderleben berichteten, drehte der Pastor den Lautstärkeregler bis zum Anschlag. Bei mir in der Küche wackelten die Teller im Regal. Zum Glück ist donnerstags Capoeira-Training, und ich konnte den Missionseifer hinter mir lassen.

Am Freitag kam ich gerade am Fußballplatz vorbei, als die Techniker und der Hirte sich mit offensiven Soundchecks offensichtlich darauf vorbereiteten, abends noch einen drauf zu legen. Vorsichtig näherte ich mich den Männern, begrüßte den Pastor und erklärte ihm meine missliche Lage: Obwohl ich gute 200 Meter Luftlinie vom Event entfernt wohne, kann ich während seiner Darbietungen nicht einmal mein eigenes Telefon läuten hören. Ob er eventuell die Güte besäße, abends ein kleines wenig leiser zu drehen? Die Antwort des Gottesmannes war klar und kategorisch: ER könne überhaupt niemanden stören, weil Gottes Wort nie störe. Und er habe extra ein besonders wattstarkes Sound System gemietet, um besonders aufdrehen zu können. Kurz: ER werde seine Arbeit machen, und wenn mir das nicht passe, könne ich ja zur Polizei gehen. Ich bedankte mich für sein Verständnis und verabschiedete mich mit einem bei Sektierern beliebten Spruch: „Que Deus lhe page em dobro“ (auf dass Gott dir doppelt zurückzahle, was du mir heute gegeben hast).

Später rief ich bei der Polizei an. „Falls ein Einsatzwagen frei ist, werden wir mal vor Ort nachsehen“, sagte die freundliche Callcenter-Mitarbeiterin Gisele zu mir. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen: Vor ein paar Wochen musste eine Freundin eine auf frischer Tat ertappte Diebin in ihrer Strandkneipe laufen lassen, weil kein Einsatzwagen frei war. Würde ich jetzt der Kriminalität Vorschub leisten wegen meiner empfindlichen Ohren? Das schlechte Gewissen hätte ich mir sparen können. Es kam kein Einsatzwagen. Auch am dritten Abend nicht, an dem ich versuchte, mit Favela-Reggae bis zum Anschlag gegen die Bekehrungsbekenntnisse anzudröhnen.

Gestern sprach mich eine Dame auf der Straße an und fragte mich schüchtern, ob ich die Gottesdienste auf offener Straße auch so lästig fände. Dabei drehte sie sich mehrmals verstohlen um, als wolle sie sich vergewissern, dass auch niemand mithörte. Kurz und erleichternd tauschten wir unsere Meinung über den brüllenden Pastor aus. Da fiel mir ein: Im letzten Sommer hatten im Nachbarviertel eine Menge Kneipenwirte empfindliche Geldstrafen zahlen müssen, weil sie die Musik zu laut gedreht hatten. Dauernd waren Leute mit Dezibel-Messgeräten unterwegs gewesen. Die wären unsere Retter!

Am selben Abend wandte ich mich vorsichtig an einen Uniformierten der örtlichen Polizei, der nicht aussah, als sei er selbst ein Sektierer, aber man weiß ja nie. Er drückte mir einen Infozettel in die Hand, auf dem stand: Poluicao sonora – Lärmbelästigung. Dort war ausführlich erklärt, welchen Schaden übertriebener Lärm anrichten könne. Und ganz unten stand: Helfen Sie uns, melden Sie Lärmbelästigung. Es folgte eine Telefonnummer. Heute werde ich meiner Alliierten diese Nummer weiter geben. Soll er nur kommen, der Herr Pastor!

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Mein Kompliment für den Blog! Sie schaffen es immer wieder die Dinge genau auf den Punkt zu bringen und sprechen mir einfach aus der Seele!

 
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