Dienstag, 8. Mai 2007

Ein ganz normaler Sonntag

Patrícia ist arbeitslos. Seit einer Woche. Eigentlich ist sie sogar irgendwie froh darüber, weil die kleinen Dauer-Sticheleien der Chefin ihren ohnehin hohen Blutdruck so gnadenlos weiter in die Höhe getrieben haben, daß sie mehr als einmal direkt von der Arbeit zur Notaufnahme ins Krankenhaus musste, weil ihr schwarz vor Augen wurde. „Bevor ich einen Herzanfall bekomme, ist es immer noch besser, arbeitslos zu sein“, sagt Patrícia.

Und weil heute außerdem der erste Sonntag seit zwei Jahren ist, an dem sie nicht hinter der Supermarktkasse steht (elf Stunden täglich an fünf Tagen pro Woche; am sechsten, dem Sonntag nur sieben Stunden, ohne Überstunden oder Feiertagszuschlag und das für einen Mindestlohn = umgerechnet 125 Euro), hat sie ein paar Freunde eingeladen: Eriane, ihre Supermarktskollegin, Beto ihren Cousin und neuerdings Ficante (vielleicht übersetzbar als Affäre) von Eriane, ihr drei Monate altes Patenkind Silene, deren Eltern Tito und Alcione und mich.

Patrícia hat es in zwei Jahren in einem mir unbegreiflichen Jonglierspiel mit allerlei Ratenzahlungen geschafft, sich im Garten ihrer Mutter ein eigenes Haus zu bauen. Das mag zwar außen nicht verputzt sein, innen ist es sogar gekachelt. Es hat ein Schlaf- und ein Wohnzimmer, Küche und Bad und all die Accessoires, die es hier so braucht, vom Salzkistchen, das überm Herd an der Wand hängt, bis zu den Plastikblumen auf dem obligaten TV-Regal.

Wir sitzen im Hof zwischen dem Safran- und dem Graviolabaum vor der unverputzten Mauer im Schatten, alle reden und trinken und hören dazu Forró und Brega und Samba, wild durcheinander. Es gibt reichlich Bier, keinen Cachaca und unendliche Appetithäppchen: gegrillte Hühnerflügel und gegrillte Würste und Wachteleier und selbstgeschnitzte Pommes.

Beto und Eriane sind weitgehend miteinander beschäftigt, wie das bei frisch Verbandelten so üblich ist. Und weil Beto achtzehn ist und damit kaum älter als Erianes zwölfjähriger Sohn, witzeln alle anderen ein bißchen mehr als sonst über das Geturtel der beiden. „Wer über mich lästern will, soll ruhig lästern, ist mir ganz egal – ich nehme jedenfalls niemandem den Ehemann weg“, sagt Eriane dazu und versinkt im nächsten Kuß.

Vielleicht davon inspiriert erzählt mir Alcione in einer Babyfütterpause in der Küche von der Gebliebten ihres Kindsvaters, die sie dauernd auf dem Handy anruft und sagt: „Ich werde auf Tito niemals verzichten!“ Ob es stimmt, daß er seit sechs Monaten auch mit dieser Frau zusammen ist? Oder lügt die andere, weil sie ihn gerne erobern würde? Soll Alcione Tito verlassen? Ein Ultimatum stellen? Einfach schweigen? „Was würdest du tun“, fragt Alcione, „würdest du bei ihm bleiben?“.

Schwere Frage. Derweil erzählt Tito im Garten von Descartes und Seneca und seinem beinahe abgeschlossenen Philosophiestudium und seinem beinahe abgeschlossenen Jurastudium und versucht recht eindeutig, damit die soeben eingetroffene ziemlich hübsche Psychologiestudentin Fabrícia zu beeindrucken.

„Du mußt da kein Mitleid haben“, sagt Patrícia später zu mir, „Alcione kann gar keine Ansprüche stellen: als sie Tito kennengelernt hat, war der noch verheiratet...“
Irgendwann liegen Beto und Eriane im Wohnzimmer auf dem Sofa, die kleine Patentochter im Schlafzimmer im Bett, von irgendwoher sind noch ein halbes Dutzend uneingeladene und sehr willkommene Gäste eingetroffen, und Patrícias Mutter erklärt Tito, Männer könnten ohne Frauen nicht überleben, Frauen ohne Männer aber sehr wohl. Tito nennt sie daraufhin nur noch „Bleichgesicht“, weil er nämlich Indio sei, jawoll, mit echter Geburtsurkunde von der Indianerbehörde Funai. Was das mit der Frauenfrage zu tun hat, erklärt er nicht.

Alcione würde eigentlich ganz gerne nach Hause gehen mit der Mini-Tochter, aber das geht nicht. Tito muß ja noch Patrícia erklären, wie ihre arbeitsrechtliche Situation aussieht. Und mir, daß es einen irre schönen Sitio zu verkaufen gibt, ganz bei mir in der Nähe. Und Patrícias Mutter, daß er unbedingt noch ein Bier braucht. An diesem Punkt stimmen dann alle anderen zu, und Alcione kann immer noch nicht gehen
Irgendwann ist es dunkel, alle sind ein bißchen betrunken, aber nicht sehr, Alcione schafft es tatsächlich, ihren Mann einzupacken und ist sich nicht mehr sicher, ob sie weiterhin am Wochenende mit ihrer Mutter zur freikirchlichen Sekte gehen will oder doch lieber mit Tito tanzen. Ich weiss die Wegbeschreibung zu dem tollen Sitio, Beto und Eriane haben sich für heute sattgeknutscht, und Patrícias Mutter hat sogar ein bißchen Geld verdient, weil wir das Bier von ihr gekauft haben.

Und Patrícia hat ganz nebenbei so viele Tipps bekommen, wo neue Supermärkte aufmachen, welche großen Firmen gerade Leute einstellen und wie sie sich am besten bewerben muß, daß sie womöglich nicht mehr lange arbeitslos ist.

Ein ganz normaler Sonntag eben.

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