Dienstag, 22. Mai 2007

Bigode der Buchhändler

Normalerweise freut sich ja keiner, wenn er hört, dass ein erwachsener Mensch Analphabet ist. Letztens ging mir das anders, wofür ich mich schäme, denn die leise Freude war von Profitgier bestimmt. Die Reportage über „Bigode“ lief beim Sender Bandeirantes, der gerne mal Randthemen aufgreift. Es ging um Verkäufer von gebrauchten Büchern im Allgemeinen und über besagten Bigode im Besonderen.

In Recife gibt es eine Menge Gebrauchtbuchhändler. Manche breiten ihre Ware auf dem Gehsteig aus, andere haben schmucke kleine Stände mit maßgefertigten Regalen. Manche verkaufen und tauschen nur Liebes- und Heftchenromane, andere sind auf Schulbücher spezialisiert, wieder andere führen nur religiösen Lesestoff. Bigode ist anders als alle von ihnen. Bigode verkauft Romane und Schulbücher und wissenschaftliche Werke und alles, was zwischen zwei Buchdeckeln Platz hat.

Er kann sich nicht spezialisieren wie seine Kollegen weil Bigode weder lesen noch schreiben kann. Er sortiert die Bände nach Farben, Formen, Dicke und Umschlagsgestaltung. Nach seinen ganz privaten optischen Kriterien bestimmt er auch die Preise. Das ist doch fantastisch. Wenn da etwa ein Original Jorge Amado aus den 1930er Jahren liegt, womöglich noch vom Autor signiert, der aber wegen seines Alters schäbig aussieht, ist der bei Bigode vermutlich total billig. Ich gestehe, dies waren meine ersten Gedanken.

Direkt danach war mir dieser Materialismus etwas peinlich. Noch peinlicher wurde er, als ich etwa eine Woche später – wieder bei Bandeirantes – eine weitere Reportage sah. Wieder kam Bigode vor. Nur war er jetzt nicht mehr allein: Eine blinde Lehrerin hatte die erste Reportage über den leseunkundigen Buchhändler verfolgt und beschlossen, dessen Leben zu ändern. Sie hatte seit ihrer Erblindung ein spezielles Alfabetisierungsverfahren für Erwachsene entwickelt. Dabei lernen die Lesewilligen, Buchstaben mittels Formen zu begreifen – praktisch, weil auch die blinde Lehrerin erfühlen kann, was gerade dran ist. Außerdem funktioniert ihre Methode besonders gut, weil sich vor einer blinden Lehrerin auch erwachsene Analfabeten nicht schämen, wenn sie lange suchen müssen, bevor sie ein Wort zusammen gesetzt haben.

Jetzt unterrichtet also die Blinde den Buchhändler. Kostenlos. Er macht gute Fortschritte, scheint es. Das ist doch toll, dass nicht jeder nur an Profit denkt. Und dass endlich mal was Positives in den Nachrichten kommt. Die Chancen auf spezielle Schnäppchen müssen deswegen nicht mal rapide sinken. Denn auch wer lesen kann, weiß ja noch nicht zwangsläufig, wer mehr wert ist: Sydney Sheldon oder José Saramago. Das war mein zweiter Gedanke. Ich schwöre. Zuerst habe ich mich für Bigode gefreut, ganz ehrlich.

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