Donnerstag, 17. Mai 2007

Bühne frei für den Notfall

Der Durchschnittspromillesatz der Wartenden im Eingangsbereich liegt vermutlich höher als der mancher Party. Und es ist auch sicher mehr los, trotz der Neonröhren, in deren Schein alle irgendwie ungesund aussehen. Sie sehen nicht nur ungesund aus, sie sind es auch. Sonst wären sie wohl am Samstagabend nicht hier auf der Krankenstation in der Warteschlange gelandet.

In Brasilien gibt es ein kostenloses Gesundheitssystem für alle. Ohne Vorbedingungen wird jeder behandelt, der das nötig hat – und nötig haben heißt in diesem Fall: verletzt oder krank sein. Einkommensnachweise werden ebenso wenig verlangt wie Wohnsitzbescheinigungen oder sonstige Dokumente, nicht mal von Ausländern. An der Rezeption der Gesundheitsstation nennt jeder seinen Namen und Wohnort und schon darf er sich unter die Wartenden einreihen.*

Vor mir in der Schlange hier im kaltweißen Gang: eine rundliche rotblonde Mittvierzigerin, die ziemlich sympathisch und ebenso putzmunter aussieht – mit Apfelbäckchen trotz Neonbleichmachers. Ein besenstildürrer junger Mann mit durchscheinenden Segelohren, der wirkt, als bekäme er vor Angst gleich einen Herzinfarkt. Eine junge Mutter, die ein vermutlich erst Monate altes Baby an die Brust drückt und ständig auf und abläuft. Ein Gruppe still dasitzender Menschen mit gesenktem Blick, als seien sie direkt aus der Kirche hergekommen, die dabei riechen, als habe auf dem Weg mehr als eine Kneipe gelegen. Und ein paar kräftige Jungs, die nach diversen Schnäpsen kein T-Shirt mehr zum Wärmen brauchen. Alles in allem sieht das nach ordentlich Wartezeit aus. Aber dafür wird auch was geboten.

Die Dame, die hier in der Krankenstation den Sisyphos macht, also ständig mit dem Feudel gegen hereinwehenden Staub und Viren und Bazillen anwischt, läuft mit einem Gesicht rum, als trage sie allein mindestens das komplette Leiden Christi. Schuld an ihrem Unglück sind offensichtlich wir: bei jeder Drehung in der Ecke an der Tür streift Sisyphone die Wartenden mit einem Hass, der beinahe weh tut. Doch sogar der verliert für einen Moment seine Intensität, als eine lautstark heulende Frau im Rollstuhl hereingeschoben wird. Es ist nicht erkennbar, ob sie verletzt ist, eine Art Anfall hat oder was sonst ihr Problem ist, allein der Lärmpegel legt nahe: es ist ernst. Das erkennt auch die Oberschwester – obwohl ein echter Klischee-Feldwebel in Weiß mit Brille am Goldkettchen und ständig gezücktem Notizblock. Diskret nimmt sie die putzmuntere Rotblonde (die erste in der Schlange) zur Seite und fragt: „Meine liebe Dame, es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich diese Patientin vorziehe?“ Die Rotblonde nickt gnädig. „Ich verlange nur ein: nenne Sie mich nicht Dame, sondern Fräulein“, sagt sie dann streng.

Der brüllende Rollstuhl verschwindet im Behandlungszimmer. Drinnen ebbt das Heulen abrupt ab, aber das bemerkt kaum jemand, weil soeben ein kräftiger Mann in Badehose den Gang betreten hat, der seinen Zeigefinger seltsam unnatürlich hochhält. Er lächelt verlegen und sagt: „Ich wollte nur sicher gehen, ob er nicht gebrochen ist.“ Nur allmählich und mit vereinten Kräften entlocken wir dem Neuling seine Geschichte. Er war im Dunkeln auf den Felsklippen angeln, ist dabei ausgerutscht und mit seinem ganzen Gewicht auf den Finger gefallen. Danach stand der in die falsche Richtung ab. „Ich habe den gepackt und einfach wieder gerade gebogen“, erzählt der Fischer, als sei ihm das peinlich, „ging eigentlich prima, aber ich bin eben nicht sicher, ob er nicht doch gebrochen ist.“ Keine Diskussionen. Die Feldwebelin nimmt den Mann an der heilen Hand und zieht ihn in die hinteren Räume der Krankenstation zur sofortigen Kontrolle.

Derweil betritt die Szene eine schwer atmende junge Frau in bauchfreiem Top und Jeans. „Wo ist die Oberschwester?“, ächzt sie. Und erklärt der Herbeieilenden hechelnd: „Ich bekommen keine Luft mehr, ich habe so entsetzliche Atemnot“. Mit einem Seitenblick auf die Rotblonde fragt Frau Feldwebel: „Sie haben doch nichts dagegen?“ „Frollein“, beendet, die Rotblonde den Satz militärisch – und nickt gnädig. Da rollt die eben noch brüllende Notfallpatientin glücklich strahlend an uns vorbei und erklärt ihre Wunderheilung wie folgt: „Ich war eben nur so furchtbar wütend, weil ich doch mittags schon mal hier war und blöderweise das Rezept verloren hatte.“ Irgendwie schaffen es die Brasilianer, sogar eine Krankenstation in eine Bühne zu verwandeln.

„Alles Simulanten“, kommentiert das Frollein, und lächelt dabei. „Ich habe übrigens auch Atemnot wie die Göre, die sich eben vorgedrängelt hat, aber das muß ich ja nicht jedem auf die Nase binden. Wenn Gott will, komme ich auch so als nächste dran.“ Tatsächlich kommt ein winziges Baby mit fast 40 Fieber, gemessen hier vor unser aller Augen, und natürlich sind wir alle einverstanden, daß das Baby zuerst dran kommt. Sogar Sisyphone läßt kurz den Feudel ruhen und legt ihren bösen Blick ab. Allmählich wird es richtig gemütlich hier. Besser als auf mancher Party.

* So ist das bei akuten Fällen – Prophylaxe und längerfristige Behandlungen verdienen gelegentlich einen eigenen Post

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