Donnerstag, 15. Februar 2007

Brasilien verliert seine Kinder

Im Norden von Rio de Janeiro wird demnächst ein baumbestandener Platz mit Kinderspielgeräten einen neuen Namen tragen. Platz Joao Hélio Fernandes soll er heißen. Joao Hélio kann nicht mehr spielen. Er ist am Mittwoch letzter Woche gestorben. Joao Hélio war sechs Jahre alt. Er starb, weil er im Sicherheitsgurt hängenblieb, als er aus dem Corsa steigen wollte, den drei Diebe seiner Mutter mit Waffengewalt abgenommen hatten. Joao Hélio wurde sieben Kilometer weit mitgeschleift, sein Körper titschte auf dem Asphalt wie ein Pingpongball, erst wurde sein Kopf abgerissen, dann allmählich sein ganzer Körper zerfetzt. Entsetzte Autofahrer machten die Diebe auf den kleinen Jungen aufmerksam, der da draußen am Auto hing. Zu einem davon sagte der Fahrer des Corsa: „Das ist nur eine Judaspuppe“. Nach zehn Minuten, vierzehn Strassen weiter war es vorbei. Die Diebe ließen das gestohlene Auto mitsamt den Fetzen von Joaos Körper stehen und flüchteten.

Seit mehr als einer Woche steht das gewaltgewohnte Brasilien unter Schock wegen des „mitgeschleiften Jungen“. Weil die Tat so unfaßbar brutal ist, daß sie nahezu unmenschlich wirkt. Und weil gerade diese Tat junge Menschen verübt haben; der jüngste von ihnen 16 Jahre alt. Die Polizei hat die Mörder von Joao Hélio und ihre Helfer in Rekordzeit gefaßt. Einen hat der eigene Vater ausgeliefert. Einer trug eine Bibel, als er festgenommen wurde - der zuständige Polizeiinspektor hält ihn für den kältesten der Fünf. Gefragt, ob er die Tat bereut, sagt einer der Täter: „Ich habe keine Kinder, ich weiß nicht, wie das ist.“ Joaos Mutter sagt: „Wenn Minderjährige Greueltaten begehen, dann müssen sie auch dementsprechend bestraft werden. Die haben kein Herz“.

Was sind das für Kinder, die Kinder umbringen? Die schon Pläne gemacht hatten, wie das gestohlene Auto auseinandergenommen und verteilt werden sollte? Die kilometerweit im Zickzack fahren, um den mitgeschleiften Joao loszuwerden, um ihr Vorhaben doch noch zu Ende zu bringen – als spielten sie ein Videogame, in dem siegt, wer am emotionslosesten handelt.

Nach geltendem brasilianischen Strafrecht können die beiden Volljährigen, die sowohl am Raub des Autos, als auch am Mord an Joao Helio beteiligt waren bis zu 23 Jahre Haft bekommen – wovon sie nach geltendem Recht mindestens ein Drittel absitzen müssen. Wiederholungstäter – und das ist mindestens einer der beiden, allerdings war er bei früheren Raubüberfällen noch minderjährig – müssen die Hälfte absitzen. Der minderjährige Bruder eines der beiden Haupttäter wird maximal drei Jahre lang an erzieherischen Maßnahmen teilnehmen müssen. Die Helfer, von denen einer die anderen im Taxi seines Vaters an den Tatort gebracht und der andere Schmiere gestanden hat, erwartet bis zu 13 Jahren Haft.

Ist das gerecht? Ist das eine Lösung? Hilft das, künftig solcher Greueltaten zu verhindern? Die schockierten Brasilianer finden: Nein. Redaktionen bekommen Mails und Briefe, in denen Leser die Einführung der Todesstrafe fordern. Die Senatoren planen, das Strafrecht zu ändern. Einige wollen die Strafmündigkeit auf sechzehn Jahre herabsetzen, wenigstens für Greueltaten. Der Bürgermeister meint, das allein helfe nichts. Der Gouverneuer hält die Massnahme für notwendig, außerdem könne man darüber nachdenken, kontrollierten Drogenkonsum freizugeben, um die Gewalt zu verringern. Ein anderer Senator fordert, Erwachsene, die Minderjährige zu Straftaten anstiften, härter zu bestrafen. Die Bischofskonferenz findet, es müsse in präventive Erziehung investiert werden. Lula mahnt, der Staat dürfe nicht emotional reagieren, er müsse juristisch reagieren. Und auch er meint, die Herabsetzung der Strafmündigkeit löse das Problem nicht. Der Anthropologe Gilberto Velho sagt: „Unsere Polizei funktioniert schlecht und ist in Teilen korrupt, die Justiz ist langsam, bürokratisch und ineffizient, unsere Strafgesetzgebung ist inadäquat und unser Strafvollzugssystem eine Monsterfabrik. Ich bin strikt gegen die Todesstrafe, aber auch gegen Straffreiheit.“

Was wird aus unvorstellbar grausamen Jugendlichen, wenn sie Jahre in einer Monsterfabrik verbringen? Was wird aus Brasilien, wenn immer jüngere Täter in diese jetzt schon hoffnungslos überfüllten Fabriken verfrachtet werden? Kopflos und zutiefst ratlos wirken die Reaktionen. Der Schock will nicht vergehen. Hinter Ereignissen wie diesem steht: Brasilien verliert seine Kinder. Als Opfer von Greueltaten und als Greueltäter. Was wird aus einem Land, das so seine Kinder verliert? Die Schulkameraden von Joao haben für ihn gebetet. Und weil sie nicht wußten, wo ihr Freund hingegangen ist, hat einer gemeint: „Joao ist jetzt ein Stern am Himmel.“

Die Menschenrechtskommission des Senats hat heute einstimmig die Gesetzesvorlage gutgeheißen, nach der Erwachsene, die Minderjährige zu Straftaten anstiften, sie dazu benutzen oder sie dabei unterstützen, künftig mit vier bis 15 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden sollen. Ebenfalls heute ist sehr früh morgens ein Zwölfjähriger im Bundesstaat Rio festgenommen worden, als er eine in ein Laken eingewickelte Leiche in einen Graben warf. Es handelte sich um die Großmutter des Jungen. Der Zwölfjährige hatte sie erstochen.

Die endgültigen Abstimmungen über die Vorschläge zu Änderungen im Strafgesetz sind auf den 28. Februar vertagt. Damit niemand im Eifer der Emotionen seine Stimme abgibt. Jetzt kommt erst mal der Karneval.

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