Montag, 25. Dezember 2006

Chaos am Fest der Liebe

Irgendwann tat die Sekretärin Miriam, was in diesem Moment vermutlich viele gern getan hätten: Sie nahm den Computer der Fluggesellschaft TAM und warf ihn auf den Boden. Miriam wollte eigentlich keine Computer werfen, sie wollte nach Hause und Weihnachten feiern. Auch in Brasilien ist Weihnachten ein Fest, das traditionell in der Familie gefeiert wird. Deswegen sind Flüge und Überlandbusse im ganzen Land oft schon Wochen im voraus ausgebucht. Das kennt man, darauf stellt man sich ein, und die Brasilianer sind normalerweise fröhliche und gelassene Schlangesteher. Aber in diesem Jahr war alles ein bißchen anders.

Am 23. Dezember starteten mehr als die Hälfte aller Flüge mit mehr als einer Stunde Verspätung, manche wurden ganz gestrichen, manche um halbe Tage verschoben. Am internationalen Flughafen von Sao Paulo reichte die Kilometerlange Schlange der Wartenden bis auf die Strasse vor dem Flughafengebäude. Als in Rio de Janeiro den ersten die Nerven durchgingen, kam die Polizei, um gröbere Raufereien zu verhindern. Auch Miriam, die Computerwerferin, wurde vorübergehend festgenommen. Dabei hatte sie zwölf Stunden gewartet, ohne zu klagen: Ihr Flug in den Nordosten hätte schon am Vorabend um 23 Uhr starten sollen. Er wurde erst auf 3 Uhr morgens und dann auf 7 Uhr verschoben. Miriam wartete mit Hunderten anderer Passagiere, die die Nacht auf dem Fußboden der Abfertigungshalle verbrachten. Miriam war lange gefaßt. Erst als sie nach all den Stunden feststellen musste, daß ihr Flug soeben ohne sie gestartet war – da flog der Computer. Die Konsequenz: Miriam stellt „eine Gefahr für die anderen Passagiere dar“, und die TAM muß sie nun gar nicht mehr transportieren.

Angefangen hat das ganze Flugchaos mit dem Unfall der GOL-Maschine im September. In der Folge durften die hoffnungslos überlasteten Fluglotsen nur noch die gesetzlich zugelassene Menge Maschinen überwachen – und es gab die ersten Engpässe und Verspätungen. Flutartige Regengüsse in Sao Paulo, Wartungsarbeiten an mehreren Maschinen und reichlich Überbuchung bei der größten brasilianischen Fluggesellschaft TAM reichten im Vorweihnachtsrummel aus, um das Land vollends ins Chaos zu führen. Der TAM wurde zwischenzeitlich weiterer Ticketverkauf untersagt. Und Präsident Lula stellte acht Maschinen der Luftwaffe zur Aushilfe im Personenverkehr bereit, um zu retten, was noch zu retten war.

Die Rettung kam für viele spät: Sie verbrachten den Heiligabend im Flughafengebäude. Für Streits hatten die meisten keine Kraft mehr. Wer heute morgen gegen drei Uhr immer noch in den langsam kürzer werdenden Schlangen stand, wirkte nur noch apathisch, heißt es in den Meldungen der Medien. Um fünf Uhr morgens war es endlich geschafft: Der Flughafen von Sao Paulo war leer, und auch aus den anderen Grosstädten wurden keine Schlangen mehr gemeldet. Inzwischen sind vielleicht endlich alle irgendwo angekommen. Ob auch Miriam, die Computerwerferin nach Hause gekommen ist, hat leider niemand berichtet. Dabei heißt die Heimatstadt der verzweifelten Sekretärin ausgerechnet „Natal“ – zu Deutsch: „Weihnachten“.

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