Montag, 9. Juni 2008

Mit viel Volk unterwegs

Wer kein Auto hat, muss Bus fahren. Das sind hier viele Menschen, vor allem am Wochenende. Deswegen bin ich am Sonntag etwas unhöflich gleich nach dem Mittagessen bei einer Freundin aufgesprungen, habe meine Sachen gepackt und mich verabschiedet: um dem sonntagnachmittäglichen Stau der heimfahrenden Sonnenanbeter zu entgehen. Immerhin hatte ich vier Stunden und ebenso viele verschiedene Busse vor mir.

Als ich in den ersten einstieg, war der tatsächlich noch erholsam leer. Wenige Haltestellen später allerdings stiegen viel Volk zu, das wenig nach Strand aussahen. Ich erfuhr bald, warum: Meine Nachbarin erzählte mir, sie fahre ihren Mann jeden Sonntag besuchen, fünfmal müsse sie umsteigen, aber daran sei sie schon gewohnt. Schlimmer sei, dass sie diesmal noch zwei alte Damen dabei habe, die sich allein nie auf die weite Reise getraut hatten, obwohl ihre Söhne schon seit x Jahren säßen. Ich war in den Gefängnisbesucher-Stau geraten. Auf der Insel, auf der meine Freundin wohnt, befinden sich nämlich drei Gefängnisse, und deren Insassen dürfen nur sonntags Besuch bekommen. Deswegen füllte sich der Bus mit Frauen und Kindern allen Alters und unterschiedlichster Aufmachung: Von der Diva, die hinter riesigen Brillengläsern inkognito reiste bis zur ganzkörpertätowierten Klischee-Hafenbraut, deren Üppigkeit die Hot Pants zu sprengen drohte.

Am nächsten Umsteigebahnhof hatte sich schon bei unserer Ankunft eine typische Schlange an der Einsteigestelle Richtung Recife gebildet. Kuchen kauend, Cola schlürfend und schwatzend. Auf den letzten eineinhalb Metern sollten Metallgeländer die leicht chaotische Schlange zur Bustür hin kanalisieren. Nachdem der erste Bus sich bis an den Rand gefüllt hatte, gelangte ich tatsächlich bis zu dieser Zielgeraden. Leider war das ein Fehler: Als eine halbe Stunde später der nächste Bus hielt, blieb ich in genau diesem Metallkanal gefangen. Weil von der Seite allerlei ungehobelte Menschen sich gewaltig in den Bus hinein drückten und uns dabei den Weg versperrten. Ich schaffe es nur unter einem energischen Ellenbogeneinsatz, dessen Ungehobeltheit mich selbst ein bißchen erschreckte, den letzten freien Platz zu ergattern. Vor mir saß schon meine neue Bekannte, die inzwischen eine Tasche und ein Kind auf dem Schoß hatte.

Auf meinen Schoß ragte ein T-Shirt-loser Bauch, der zu einem jungen Mann gehörte, dem ich mindestens einen nervösen Tick, eher noch ein nasales Drogenproblem unterstellen würde, so pausenlos und trocken schniefend zog er unsichtbare Substanzen in seiner Nase hoch. Das ist übrigens als Folterinstrument ungefähr so wirksam wie ein unregelmäßig tropfender Wasserhahn. So richtig erleichtert war ich trotzdem nicht, als der Typ ausstieg, weil an einem anderen Umsteigebahnhof der Bus nicht mehr wollte. In der nächsten Schlange war ich schon beinahe entschlossen, selbst ungehobelt an der Seite in den Bus zu drängen. Bis ich sah, dass hier zwei freundliche Sicherheitsbeamte genau das sehr bestimmt zu verhindern wußten. Manchmal ist die Welt ungerecht.

Ich stieg als eine der Letzten ein, meine Bekannte saß schon: Sie hatte wegen des Kindes auf ihrem Schoß Vortritt gehabt, und bot sich an, meinen schweren Rucksack auch noch zu stemmen. „Ich wollte Dir ja einen Platz freihalten, hat aber nicht geklappt!“, entschuldigte sie sich. An der nächsten Umsteigehaltestelle verlor sie die alten Damen und verschwand laut rufend im Gewimmel.

Ich blieb nicht lange allein. „Wohin fährst du?“, fragte mich eine ältere Dame, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt. Ich sagte ihr den Ortsnamen. „Welche Haltestelle?“, wollte sie wissen. Bis zur Endstation, sagte ich. „Prima, dann steig mit mir ein, da kannst du sitzen!“ Wie bitte? „Ich hab ein Anrecht auf Begleitung“, sagte die freundliche Dame und hielt mir einen Ausweis unter die Nase: „Behindertenausweis“, stand da, „kostenlose Beförderung mit Anspruch auf eine Begleitperson“. Und: „Art der Behinderung: geistig“. Nicht gerade diskret. Meiner neuen Freundin schien das nichts auszumachen. Sie bugsierte mich geschickt in den vollen Bus, organisierte uns zwei Plätze und verwickelte mich in ein Gespräch über den Sinn oder Unsinn von Fußball. Dass die Fahrt wegen der Pannen eine Stunde länger gedauert hat als normal, habe ich erst zuhause gemerkt.

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