Sonntag, 18. Mai 2008

Eine Favela zum Anfassen

Ob es der Ruch des Gefährlichen ist? Die romantisch-verklärte Vorstellung einer Gemeinschaft der Unterdrückten? Der harte Beat, der Leben und Sterben auf den Hügeln zu untermalen scheint? Irgend etwas finden die Fremden an der Favela, dieser brasilianischen Armensiedlung. Vor allem, wenn sie so einen unvergleichlichen Blick bietet, wie auf den Hügeln von Rio de Janeiro.

Angefangen hat es mit den Favela-Touren - manche erinnert die Fahrt in offenen Jeeps an eine Safari-Tour mit Großwildbeobachtung, aber inzwischen besuchen die meisten diverse Sozialprodukte in den Siedlungen, die zumindest einen kleinen Anteil am Umsatz einstreichen. Dann kam der Film City of God über die Favela Cidade de Deus: er soll weltweit knapp eine halbe Million Menschen in die Kinos gelockt haben. Und Baile Funk, die Musik der Favela-Parties, auf denen die Bandenmitglieder gerne mit erhobenem MG tanzen, läuft erfolgreich in Clubs und London. Paris und Berlin. Neuerdings vertreten von einem Deutschen: MC Gringo, der das heimatliche Stuttgart gegen eine Armensiedlung von Rio eingetauscht hat, und jetzt die Favela-Musik in der Welt verbreiten will.

Die letzte Woche habe ich in der Favela Pereira da Silva verbracht, in der auch MC Gringo lebt, wenn er nicht gerade auf Deutschland-Tournee ist. Angeblich lebt er in einer ziemlich schicken 80-Quadratmeter-Wohnung. Deren Miete er angeblich nicht gerade pünktlich bezahlt. Damit ist einiges bereits gesagt: Erstens ist Pereira da Silva vermutlich die zahmste aller Favelas in Rio, weil hier die Elitetruppe Bope trainiert und verhindert, dass die Drogenmafia auf dem kleinen Hügelstück herrscht. Zweitens ist so eine kleine Favela von der Struktur eher mit einem Dorf als mit einem Viertel einer Millionenstadt zu vergleichen – jeder weiß alles über jeden, manchmal sogar noch ein bisschen mehr. Und drittens gibt es in der Pereira da Silva eine Pousada.

Die Pousada Favelinha ist nicht billiger als die Backpacker-Hotels im Viertel Catete. Trotzdem ist sie beliebter. Vielleicht, weil man sich bei nur fünf Zimmern und reichlich Gemeinschaftsraum mit Aussicht eher zuhause fühlt als in einem Hotel. Vielleicht, weil Andreia, die Chefin des Hauses, mit ihrer schnoddrigen Art eine ganz besondere Stimmung zu schaffen versteht. Vielleicht aber auch, weil die Fremden es ungeheuer spannend finden, in einer echten Favela zu wohnen.

Brasilianer kommen nämlich keine. "Die haben Vorurteile", vermutet Andreia. Nur ein japanischstämmiger Brasilianer war mal da, der schon seit Jahren im Ausland wohnte. Besonders gerne buchen Deutsche, Skandinavier und Holländer in der Favelinha. Wenn sie erst einmal da sind, zittern manche vor Angst, weil sie das Haus ja auch mal verlassen müssen. Hätten dann gerne einen Begleiter. Mit manchen klettert der Russo (der zwar Russe genannt wird, aber eigentlich Deutscher ist) die steilen Stufen vom größten Bau der ganzen Siedlung hinab bis zum Minibus, der sie in wenigen Minuten zum Largo do Machado fährt, in die Welt, in der auch die anderen Rucksackreisenden unterwegs sind. (Und in der die Chance, einem Taschendieb zu begegnen, deutlich höher ist.)

Die Stufen sind im Fall Pereira da Silva womöglich der größte Unterschied. Alles, alles, alles kommt und geht über die Stufen: Lebensmittel, Möbel, Kühlschränke, Zementsäcke, Müll und Menschen. So ab dem vierten Aufstieg beginnen sich die Anfänger-Muskeln zu gewöhnen - für ein echte Fitneß-Programm müßte man wohl einen Monat bleiben. Ansonsten ist Dorf: Ab dem zweiten Tag grüßt der Alte unten in der Bude am Eingang, ab dem dritten auch der Minibusfahrer. Und ein bißchen Favela: Am Wochenende wechselt auf der großen Muttertagsparty die Musik von Schmalz irgendwann bis zum harten Beat des Rio Funk, vielfach verstärkt durch das Hügel-Echo. Und an einem anderen Tag ballern irgendwo auf einem benachbarten Hügel tatsächlich Schüsse. Wie um die Fremden daran zu erinnern, dass sie sich in der Armensiedlungs-Variante für Anfänger befinden.

Für eine Recherche musste ich zwischendurch in die Cidade de Deus. Geht klar, sagte meine Kontaktperson zu mir, du kannst ruhig kommen. In der vergangenen Woche wäre das schwieriger gewesen, „da haben sie hier ein knappes Dutzend Leute umgenietet.“ Ich habe mir in der Cidade de Deus ein Fußball-Projekt angesehen. Dessen Trainer hat seinen Job bekommen, als sein Vorgänger unerwartet verstorben ist. An einer Querschläger-Kugel. Das ist weniger romantisch. Gut, dass es die Pereira da Silva gibt. Eine Favela zum Anfassen für die neugeirigen Fremden.

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