Mittwoch, 14. Oktober 2009

Vertreibung im Namen des Fortschritts


Hier in Pernambuco wird ja viel vom Fortschritt geschwärmt. Der Fortschritt ist vor allem der neue Industriehafen von Suape, und der soll der Wirtschaft des Bundesstaats einen ungeheuren Schub geben. Pernambuco wächst wie noch nie, heißt es. Zigtausende von Arbeitsplätzen werden entstehen, heißt es. Welchen Preis das hat, schreibt natürlich lieber keiner. Ich will auch gar nicht behaupten, ich wüsste genau, was es für Auswirkungen hat, wenn einerseits Mangrovensümpfe massenhaft trocken gelegt und andererseits neue Fahrrinnen für Cargoschiffe ausgebaggert, Flüsse umgeleitet oder versandet werden.

Natürlich sind die vielen neuen Arbeitsplätze nicht für die Einheimischen. Die haben fast alle viel zu wenig gelernt, um auch nur als Bauhelfer dabei zu sein. Die Neuen kommen aus Bahia und dem Süden, manche jetzt schon aus dem Ausland. Ein Teil der zugezogenen Arbeiter wohnt im Nachbarort Gaibu. Weil die sogenannten Peoes irgendwo essen und schlafen müssen, wird in Gaibu gebaut wie noch nie, und die Mietpreise haben sich im letzten Jahr ungefähr verdoppelt: Für die Firmen ist es immer noch billiger, vier Arbeiter in einer vollkommen überteuerten Mietwohnung unter zu bringen, als in einem Hotel. Jeder, der einen Löffel halten kann, eröffnet ein Restaurant oder bietet Mahlzeiten zum Mitnehmen an. Und morgens um sechs, wenn die großen Firmenbusse ihre Mitarbeiter abholen kommen, stehen Hunderte von Männern in knallroten Blaumännern überall an den Straßen. Manche Leute finden das einen schönen Anblick, weil Ausdruck des Fortschritts. Eine Bekannte findet es toll, dass es jetzt so viel Männerauswahl gibt. Ich fahre noch seltener nach Gaibu als vorher.

Am Wochenende haben mich Freunde zu einem Ausflug eingeladen. Mit einem kleinen wendigen Segler sind wir über den Fluss übergesetzt auf die Insel Tatuoca. Dort wohnen ein paar Dutzend Familien, darunter Dona Dete, die Tante der Bekannten. Tatuoca ist flach und sandig, mit Salinen, Mangroven und Waldstücken. Dona Dete wohnt in einem kleinen Haus aus Holz. Direkt am Wasser. Im Garten wachsen Papayas, Cashews, Kokospalmen. Ein paar Hühner streifen durch die Gegend. Auf der hinteren Terrasse im Lehmofen brennt den ganzenn Tag ein kleines Feuer, auf dem sich jederzeit ein Tässchen Kaffee brühen lässt oder ein Essen bereiten. Normalerweise ist Dona Dete hier allein mit ihrem Neffen. An Wochenenden kommt manchmal Besuch.


Außer uns war eine andere Nichte von Dona Dete da. Die hatte den größten Teil ihres Lebens auf Tatuoca und der benachbarten Insel Cocaia verbracht. In einem kleinen Häuschen direkt am Wasser. „Man musste keine zehn Schritte tun, um Muscheln zu suchen“, erinnert sie sich. „Bei Flut schwammen die Fische um unsere Terrasse herum.“ Als die Industrie sich nach Cocaia ausdehnte, ist sie vertrieben worden. Bekam eine gesetzlich festgelegte Entschädigung in die Hand gedrückt und eine Räumungsfrist von 15 Tagen. „Ich habe damals mehr geweint, als am Tag, an dem mein Vater gestorben ist“, erinnert sich die Nichte. Inzwischen wohnt sie seit mehr als zehn Jahren viele Kilometer entfernt im Landesinneren.

Dona Dete ist über siebzig, aber sie fegt ihren Garten jeden Tag selbst mit dem Reisigbesen. Nur das Trinkwasser kann sie sich nicht mehr selbst holen, denn dafür müsste sie über den Fluss rudern. „Sie wollen uns ja jetzt hier auch weg haben“, sagt sie, „ich weiß gar nicht, was ich machen soll, ich kann halt nicht mehr wie früher“. Und guckt auf ihren Garten und die Hibiskusbüsche. Es gibt Pläne, dass eine Siedlung für alle Bewohner von Tatuoca gebaut werden soll, auf dem Festland. Dort soll jeder Vertriebene ein Häuschen bekommen. „Aber wie werden sich denn die Leute gewöhnen?“, fragt sich Dona Dete. „Wer hier in dieser Freiheit gelebt hat, soll auf einmal in einer Siedlung wohnen, mit dem Nachbarn gleich nebendran?“ Ihr Holzhäuschen hat kein Schloss. Braucht es auch nicht. Manchmal übernachten Besucher im Garten in der Hängematte. Wenn frisch der Wind weht, stören dabei nicht mal Moskitos.

Die Kinder der Bekannten sammeln ein paar Kakteen und Orchideen zum Mitnehmen für ihren Garten. Sie paddeln im Ruderboot zur Insel Cocaia, deren langer weißer Sandstrand noch nicht für Tagesbesucher gesperrt ist. Bemalen sich mit Lehm und sammeln Muscheln, die sie gleich roh verputzen.



„Andere gehen mit ihren Kindern ins Shopping-Zentrum“, sagt mein Bekannter. Das ist vermutlich auch eine Art Fortschritt.


Fotos: Wollowski

1 Kommentar:

Norbert Utz hat gesagt…

Suape war einmal ein Paradies! Kokospalmenwälder, das Riff, die Lagune. Warum inzwischen der Grossraum Recife 100 km Strand von Itamaracá bis Suape fressen musste, wer kann das erklären. Zuletzt vermutlich die Technokraten der unbegrenzt wachsenden Wirtschaft.

 
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