Dienstag, 9. Dezember 2008
Mogelpackung Mindestlohn
Mit der Zeit entpuppt sich mancherlei als Mogelpackung in diesem Land. Zum Beispiel das Gerücht, dass am Strand von Ipanema nur die gleichnamigen Girls mit den perfekt modellierten Körpern flanieren. Klar gibt es dort sensationelle Strandschönheiten - meist umringt von mindestens Hobbyfotografen. Manchmal handelt es sich auch um professionelle Models, die von Profifotografen in den Sand bestellt wurden, weil sie mal wieder das Klischee illustrieren sollen. Dazu brauchen sie Models, weil die normale Carioca durchaus einen Bauchansatz oder gar Hüftgold dabei hat, wenn sie sich in die Wellen stürzt. Echt wahr. Sagt nur keiner, und zeigt erst recht keiner auf Fotos. Damit nicht genug der Demontage: Es ist nicht nur manche Carioca nicht perfekt, es kann nicht einmal jeder Brasilianer Samba tanzen. Wen wundert es angesichts solcher Fakten, wenn reichlich Brasilianer weniger als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn pro Monat verdienen?
Das statistische Bundesamt verzeichnet, dass „nur noch“ etwa jeder fünfte Brasilianer mit maximal einem halben Mindestlohn im Monat auskommen muss – im Nordosten sogar jeder dritte. Die Hälfte der Bevölkerung des Landes kann immerhin über zwischen einem halben und zwei Mindestlöhnen verfügen. Dieser salário mínimo liegt momentan bei 415 Reais, umgerechnet knapp 140 Euro. Wenn man bedenkt, dass eine Gasflasche zum Kochen zurzeit 35 Reais und ein Kilo Brot 6 Reais kostet, dann ist es erstaunlich, wie solche Geringverdiener überhaupt überleben. Aber das interessiert manch anderen wenig.
Zum Beispiel Nelsinho. Den Besitzer einer Zuckerrohrplantage hier im Nordosten habe ich über gemeinsame Bekannte vor einigen Jahren kennengelernt – damals mein erster Kontakt mit einem „Coronel“; wie die einfachen Leute bis heute die besser Gestellten nennen. Der Coronel trug einen imposanten Bierbauch zur Halbglatze und jovialem Lächeln und erzählte mir gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft sichtlich stolz, dass er seine neue Köchin für deutlich weniger als den Mindestlohn eingestellt habe: schließlich äße sie mittags meistens Reste und müsse also kaum Lebensmittel einkaufen. Ich war damals zu geschockt, um gleich geistesgegenwärtig zu fragen, ob sie mit den Resten auch ihre Kinder zu Hause ernähren sollte.
Später lernte ich Seu Antonio kennen, stolzer Empfänger eines kompletten Mindestlohns, der nur gelegentlich ein paar Wochen verspätet ausgezahlt wurde. Seu Antonio arbeitete auf einem ländlichen Anwesen von vielleicht zwei Dutzend Hektar Größe. Dort versorgte er 20 Milchkühe, ein Dutzend Rinder, sechs Pferde und diverses Geflügel. Molk morgens und abends mit der Hand, schnitt karrenweise Futtergras, da die Weiden mager waren, verabreichte Medikamente und raspelte Hufe, flickte Zäune und baute materialkostenfrei Unterstände aus selbst geschnittenen Pfosten und Kokospalmwedeln. Weil das reichlich Arbeit für einen einzigen Mann ist, half ihm sein zwölfjähriger Sohn in jeder Minute, die der Knirps nicht in der Schule verbrachte. Seu Antonios Frau sammelte die Früchte der Obstbäume, röstete Cashewkerne, fegte das Areal rund um die Gebäude und putzte das Herrenhaus, wenn die Familie des Besitzers sich angekündigt hatte. Manchmal kündigte sie sich nur an und kam dann doch nicht. Dann hatte Seu Antonios Frau umsonst geputzt. Streng genommen tat sie das ohnehin immer, denn Lohn bekam nur Seu Antonio. Gekündigt hat der alte Viehzüchter erst, als sein knausriger Chef ihm vorschreiben wollte, wie er die Rinder zu behandeln hätte.
Meine Freundin Patrícia arbeitet seit einem Jahr als Kassiererin in einem Supermarkt für einen Mindestlohn im Monat – obwohl sie wegen der größeren Verantwortung an der Kasse 759 Reais verdienen müsste – 80 Prozent mehr. Sie steht von morgens um halb acht bis abends um zehn im Laden, kassiert, putzt, füllt Regale auf. Eine Stunde Mittagspause, sechseinhalb Tage die Woche, ein Monat Ferien im Jahr. Leider hat sie mich dieses Jahr in den Ferien wieder nicht besucht, weil die Chefin ihr das Urlaubsgeld erst am Ende des Monats ausgezahlt hat und Patrícia deswegen ihre ganzen Ferien pleite zuhause verbracht hat. Kündigen? Denkt sie oft drüber nach. Aber dann sagt sie: „Wer weiß, ob ich danach etwas anderes finde“. Vorsichtshalber bewerben? Geht nicht, denn die potentiellen neuen Arbeitgeber rufen gerne beim Noch-Chef an, um sich dessen Urteil anzuhören. Und wer schon auf dem Absprung ist, hat dann manchmal schnell keinen Noch-Chef mehr.
Meine Erfahrungen ohne statistischen Wert: Die Leute können noch so schlecht behandelt werden, sie kündigen nicht. Nicht hier im Nordosten auf dem Land. Dabei sind die hier zitierten Fälle unendlich steigerbar, immerhin ist auch in Brasilien Krise. Kürzlich etwa erzählte mir ein Angestellter der Großgrundbesitzerfamilie hier im Dorf, dass er neuerdings nicht mehr angestellt sei, weil die Erbengemeinschaft, die den Besitz jetzt verwaltet, sparen wolle. Seitdem kommt er immer noch sieben Tage die Woche von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends zur Arbeit. Nur verdient er jetzt nicht mehr einen Mindestlohn inklusive Sozialabgaben, sondern nur noch 80 Reais pro Woche. Um auszurechnen, wie viel das im Monat macht, fehlt ihm die Schulbildung. Es sind beschämende 320 Reais, kaum mehr als 100 Euro. Was nutzt es ihm da, wenn der gesetzliche Satz demnächst wieder angehoben wird? Für ihn ist der salário mínimo nur eine Mindestlohn-Mogelpackung.
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1 Kommentar:
Salário mínimo und die vielen Geschichten darum herum: So ähnlich erlebt.
Während es sich aus meiner Warte heraus feststellen lässt, daß Löhne als auch die Stabilität von Beschäftigungs-Verhältnissen insgesamt zunehmen, je mehr man sich in den brasilianischen Süden begibt.
Was mich überrascht hat, die aus dem kleinen Gehalt heraus restultieriende Perspektivlosigkeit und wie verstanden wird, damit umzugehen.
Auch hätte ich nicht erwartet, das eine so große Zahl von Leuten in unterschiedlichsten Tätigkeiten zu der Art von Geringverdienern zählen.
(Klar, "wir Deutschen" wissen wohl, daß es uns trotz Jammerns im Grunde genommen nicht schlecht geht. Und wir haben auch eine vage Vermutung, daß etwa in Brasilien vieles anderst sein mag als bei uns daheim. Wie das aber im Konkreten aussieht, davon haben wir trotz kleiner werdender Welt und mulitmedialer Errungenschaften kaum eine Ahnung.)
Träume, wie "Flugbegleiterin", "Ingenieurs", "Mode-Studium" oder "Karriere beim Militär" sind da für junge Leute mitunter ein Weg, der Realität einwenig zu entfliehen.
Ehe sich besagte jungen Leute schließlich als nicht mehr so jung wiedererkennen, und dabei feststellen, das etwaige Chancen verstrichen sind. Und sie stattdessen die Realität eingeholt hat, indem es vielleicht eine kleine Familie zu versorgen gilt oder die Raten für Wohnungseinrichtung oder Auto "abzustottern" sind.
Wenn man sich dann mit den Fakten auseinandersetzt, was die Leute verdienen, kommt man eben oftmals auf einen Betrag um den salário mínimo "herum". Da sind geleistete, aber nicht abgegolten Überstunden. Oder es wird weniger ausgezahlt, mit irgendwelchen Argumenten wie schlechter Geschäftlage, etc.
Zu dem Wissen um den salário mínimo gesellt sich dann noch, aus dem Gespräch mit anderen Leute, die Kenntniss darum, das Bildung in Brasilien durchaus eine Art Luxus ist. Mit Zahlen, die ganz klar eine schwer zu überwindende Grenze ziehen. Zwischen denen, die lernen/studieren dürfen, und denen, die es wohl kaum dazu kommen werden.
So kostet beispielsweise eine akzeptable Universität um die 900 Reais pro Monat, für einen Studenten. Nicht mitinbegriffen sind weitere Kosten für Verpflegung, Kleidung, Bücher, Kosten für öffentliche Verkehrsmittel, Gesundheit.
Theoretische Annahme: Selbst wenn nun beide Elternteile eines einzelnen Studenten ihr jeweils durch Mindestlohn verdientes Geld in die Ausbildung eines einzelnen Kindes stecken würde, reichte dies nicht aus, um lediglich die Studiengebühren zu decken.
Nun, und faktisch sieht es ohnehin so aus, das viele Kinder oft Geschwister haben, die auch Fürsorge beanspruchen. Und oft sieht man auch alleinstehende oder zumindest alleinerziehende Frauen, die sich um mehrere Kinder kümmern.
Nicht genug damit; Um an einer guten Universität studieren zu können, bedingt oft den vorherigen Besuch von privaten Schulen.
Auch wenn vieles in Brasilien, wie etwa die argen gesellschaftlichen Unterschiede und der Verteilung von Land und Geld durch die Kolonialzeit historisch bedingt sein mögen; Eine wahre Chancengleichheit für alle ist nicht gegeben.
Das ganze nicht als Kritik, diese verbietet sich mir ohnehin.
Brasilien ist ein großartiges Land. Mit vielen Dingen und Eigenschaften, die wir z.B. in Deutschland, nie haben werden.
Wenn wir aber mal einen Blick über den Tellerrand wagen, ohne rosarote Brille, erkennen wir erst die Errungenschaften, welche wir hier, etwa in Deutschland besitzen:
Z.B, daß bei uns der Übertritt aufs Gymnasium mehr vom Leistungsstand des Kindes als vom Geldbeutel dessen Eltern abhängt.
Oder, die Genialität der Möglichkeiten des zweiten Bildungsweges, gepaart mit staatlicher Unterstützung in Form von Bafög.
Auch wenn das Internet mit seinen Blogs mittlerweile einem Meer gleicht mit einer Unzahl von Fischen; So ist dieses Online-Tagebuch für Brasilienbegeisterte und -interssierte sehr lesenwert, interessant und sehr gut geschrieben
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