Das Schöne am Leben zwischen zwei Welten ist, dass es in beiden Welten Grund zum Feiern gibt. Vor allem nach zwei Monaten Abwesenheit. Auch wenn im Supermarkt erst mal auffällt, dass der Milchpreis in den paar Wochen um mehr als 60 Prozent gestiegen ist. Auch wenn der tropische Dauerregen sich zuhause in mehrere Wände gesogen hat und Kleidung wie Bücher schimmelig riechen. Auch wenn der Wechselkurs sich für Euro-Verdiener häßlich verschoben hat. Alles unwichtiger Kleinkram. Denn wir sind Weltwunder!
Vom Rest der Welt nicht hinreichend gewürdigt, ist der Cristo Redentor in Rio de Janeiro im Juli auf Platz Drei der neuen Weltwunder gelandet. Hier ist das wichtig, fast so wie für die Deutschen das "Wir-sind-Papst-Phänomen". Gleich am nächsten Tag wurden auf dem Corcovado sieben Tausend-Watt-Birnen ausgetauscht, die schon sieben lange Jahre ihren Dienst getan hatten. 50 Prozent heller soll der Christus jetzt in der Nacht erstrahlen. „Glückwunsch Rio!“ hat Präsident Lula ausgerufen, „Glückwunsch Brasilien!“ Jetzt sind wir wer. Präsentieren uns mit dem gigantischen Gruß-Helden stolz neben historischen Bauten wie der chinesischen Mauer und Machu Picchu und sogar vor europäischen Prachtwerken wie dem Eiffelturm und der Alhambra, die in der Wahl der neuen Wunder weit abgeschlagen wurden.
Alle freuen sich. Lula, der Liebhaber aller Rekorde, kann verzeichnen, dass das Land in seiner Regierungszeit ein neues Weltwunder erlangt hat. Bürgermeister und Gouverneur von Rio erhoffen sich einen Imagegewinn, der sich über steigende Tourismuszahlen direkt im BIP des Bundesstaates niederschlagen soll. Die Bewohner Rios durften am Sonntag nach der Wahl endlich umsonst mit der Bahn auf den Christus-Hügel fahren – viele werden ihm dabei zum ersten Mal nahe gekommen sein. Im Massenandrang entdeckte die Polizei auch ein paar illegale Sammeltaxis, selbst ernannte Parkwächter und Touristenführer: Künftig sollen Interessenten sich zu echten Führern ausbilden lassen können – so schafft das Weltwunder womöglich sogar Arbeitsplätze.
Ausserdem hat die Wahl große Hoffnungen geweckt. Zum Beispiel bei der Urenkelin des Erbauers, Bel Noronha, die schon einen Dokumentarfilm über das berühmte Lebenswerk ihres Uropas gedreht hat. „Die Wahl ist ein Zeichen, dass die Brasilianer fähige Menschen sind, dass wir auf unsere Taten stolz sein können. Brasilien macht nicht nur Fehler. Vielleicht ist das jetzt ein Anfang der Anerkennung für unser Volk. Ich war immer der Meinung, dass wir mehr Selbstbewußtsein brauchen“, sagt sie.
Was könnte besser das brasilianische Selbstbewußtsein illustrieren, als die Tatsache, dass die Brasilianer den steinernen Schutzpatron ihrer Lieblingsstadt per Mausklick und Telefonanrufen auf eine Ebene mit dem antiken Petra und dem Taj Mahal gevotet haben? Eine Skulptur mit einem „leeren Ausdruck wie ein Roboter“, wie ein Kommentator feststellt: „Eine Figur, die ganz und gar starr, eingefroren und schematisch“ wirkt. Darauf kommt es nicht an. Sondern auf den Symbolwert. Deswegen haben sich längst unzählige Bürgermeister eine Christuskopie auf ihren Dorfplatz setzen lassen und noch ungezähltere Bürger einen Mini-Christus für den Vorgarten angeschafft. Für das Selbstbewußtsein.
Vielleicht haben den Christus tatsächlich nur die Brasilianer selbst gewählt: 160 Millionen Menschen sind genug, um sich durchzusetzen, sogar bei Weltwundern. Wenn die Brasilianer jetzt noch richtig selbstbewußt werden, dann sind ihnen womöglich bald gar keine Grenzen mehr gesetzt. Gleich noch ein Grund zum Feiern.
Mittwoch, 15. August 2007
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