
Mit der Zeit entpuppt sich mancherlei als Mogelpackung in diesem Land. Zum Beispiel das Gerücht, dass am Strand von Ipanema nur die gleichnamigen Girls mit den perfekt modellierten Körpern flanieren. Klar gibt es dort sensationelle Strandschönheiten - meist umringt von mindestens Hobbyfotografen. Manchmal handelt es sich auch um professionelle Models, die von Profifotografen in den Sand bestellt wurden, weil sie mal wieder das Klischee illustrieren sollen. Dazu brauchen sie Models, weil die normale Carioca durchaus einen Bauchansatz oder gar Hüftgold dabei hat, wenn sie sich in die Wellen stürzt. Echt wahr. Sagt nur keiner, und zeigt erst recht keiner auf Fotos. Damit nicht genug der Demontage: Es ist nicht nur manche Carioca nicht perfekt, es kann nicht einmal jeder Brasilianer Samba tanzen. Wen wundert es angesichts solcher Fakten, wenn reichlich Brasilianer weniger als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn pro Monat verdienen?
Das statistische Bundesamt verzeichnet, dass „nur noch“ etwa jeder fünfte Brasilianer mit maximal einem halben Mindestlohn im Monat auskommen muss – im Nordosten sogar jeder dritte. Die Hälfte der Bevölkerung des Landes kann immerhin über zwischen einem halben und zwei Mindestlöhnen verfügen. Dieser salário mínimo liegt momentan bei 415 Reais, umgerechnet knapp 140 Euro. Wenn man bedenkt, dass eine Gasflasche zum Kochen zurzeit 35 Reais und ein Kilo Brot 6 Reais kostet, dann ist es erstaunlich, wie solche Geringverdiener überhaupt überleben. Aber das interessiert manch anderen wenig.
Zum Beispiel Nelsinho. Den Besitzer einer Zuckerrohrplantage hier im Nordosten habe ich über gemeinsame Bekannte vor einigen Jahren kennengelernt – damals mein erster Kontakt mit einem „Coronel“; wie die einfachen Leute bis heute die besser Gestellten nennen. Der Coronel trug einen imposanten Bierbauch zur Halbglatze und jovialem Lächeln und erzählte mir gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft sichtlich stolz, dass er seine neue Köchin für deutlich weniger als den Mindestlohn eingestellt habe: schließlich äße sie mittags meistens Reste und müsse also kaum Lebensmittel einkaufen. Ich war damals zu geschockt, um gleich geistesgegenwärtig zu fragen, ob sie mit den Resten auch ihre Kinder zu Hause ernähren sollte.
Später lernte ich Seu Antonio kennen, stolzer Empfänger eines kompletten Mindestlohns, der nur gelegentlich ein paar Wochen verspätet ausgezahlt wurde. Seu Antonio arbeitete auf einem ländlichen Anwesen von vielleicht zwei Dutzend Hektar Größe. Dort versorgte er 20 Milchkühe, ein Dutzend Rinder, sechs Pferde und diverses Geflügel. Molk morgens und abends mit der Hand, schnitt karrenweise Futtergras, da die Weiden mager waren, verabreichte Medikamente und raspelte Hufe, flickte Zäune und baute materialkostenfrei Unterstände aus selbst geschnittenen Pfosten und Kokospalmwedeln. Weil das reichlich Arbeit für einen einzigen Mann ist, half ihm sein zwölfjähriger Sohn in jeder Minute, die der Knirps nicht in der Schule verbrachte. Seu Antonios Frau sammelte die Früchte der Obstbäume, röstete Cashewkerne, fegte das Areal rund um die Gebäude und putzte das Herrenhaus, wenn die Familie des Besitzers sich angekündigt hatte. Manchmal kündigte sie sich nur an und kam dann doch nicht. Dann hatte Seu Antonios Frau umsonst geputzt. Streng genommen tat sie das ohnehin immer, denn Lohn bekam nur Seu Antonio. Gekündigt hat der alte Viehzüchter erst, als sein knausriger Chef ihm vorschreiben wollte, wie er die Rinder zu behandeln hätte.
Meine Freundin Patrícia arbeitet seit einem Jahr als Kassiererin in einem Supermarkt für einen Mindestlohn im Monat – obwohl sie wegen der größeren Verantwortung an der Kasse 759 Reais verdienen müsste – 80 Prozent mehr. Sie steht von morgens um halb acht bis abends um zehn im Laden, kassiert, putzt, füllt Regale auf. Eine Stunde Mittagspause, sechseinhalb Tage die Woche, ein Monat Ferien im Jahr. Leider hat sie mich dieses Jahr in den Ferien wieder nicht besucht, weil die Chefin ihr das Urlaubsgeld erst am Ende des Monats ausgezahlt hat und Patrícia deswegen ihre ganzen Ferien pleite zuhause verbracht hat. Kündigen? Denkt sie oft drüber nach. Aber dann sagt sie: „Wer weiß, ob ich danach etwas anderes finde“. Vorsichtshalber bewerben? Geht nicht, denn die potentiellen neuen Arbeitgeber rufen gerne beim Noch-Chef an, um sich dessen Urteil anzuhören. Und wer schon auf dem Absprung ist, hat dann manchmal schnell keinen Noch-Chef mehr.
Meine Erfahrungen ohne statistischen Wert: Die Leute können noch so schlecht behandelt werden, sie kündigen nicht. Nicht hier im Nordosten auf dem Land. Dabei sind die hier zitierten Fälle unendlich steigerbar, immerhin ist auch in Brasilien Krise. Kürzlich etwa erzählte mir ein Angestellter der Großgrundbesitzerfamilie hier im Dorf, dass er neuerdings nicht mehr angestellt sei, weil die Erbengemeinschaft, die den Besitz jetzt verwaltet, sparen wolle. Seitdem kommt er immer noch sieben Tage die Woche von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends zur Arbeit. Nur verdient er jetzt nicht mehr einen Mindestlohn inklusive Sozialabgaben, sondern nur noch 80 Reais pro Woche. Um auszurechnen, wie viel das im Monat macht, fehlt ihm die Schulbildung. Es sind beschämende 320 Reais, kaum mehr als 100 Euro. Was nutzt es ihm da, wenn der gesetzliche Satz demnächst wieder angehoben wird? Für ihn ist der salário mínimo nur eine Mindestlohn-Mogelpackung.